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Das Knochengedächtnis
Professor Doldenholm berührte Mari am Arm und dachte daran, wie die Zeit vor dem Knochenschwund gewesen war. Ihr Bett stand leicht zum Fenster hin angewinkelt, und täglich wusch er sie, diese Arbeit war er ihr schuldig. Er achtete darauf, dass das Zimmermädchen die Vorhänge nicht schloss, weil Mari im Sonnenlicht lebendiger wirkte und bei Dunkelheit gerne den Mond betrachtete. Ihre Augen leuchteten dann, ein untrügliches Zeichen, dass ihr Geist noch nicht eingeschlafen war, und der Pleuel von Dampfstadt schlug zur Mitternacht.
„Weißt du noch, als wir gesungen haben?“, fragte sie, ihre Stimme dünn und zerbrechlich. Er lehnte sich mit dem Oberkörper über die Bettkante, strich mit einer Hand übers feste Laken, das nach Flieder duftete, so wie sie es mochte. „Ja. Ja, ich erinnere mich“, sagte Doldenholm und zitterte. Mari konnte viel besser singen als er, aber die volle Schönheit ihres Soprans erkannte er erst, als der Knochenschwund in der Stadt so richtig wütete, und der Chor der alten Zisterne seine Proben und Auftritte wöchentlich intensivierte.
Das Motto des Chores lautete Wasser ist Leben, aber Doldenholm wusste früh, dies war nur das Naheliegendste und die Knochen ebenso wichtig. Zu jener Zeit hatte eine verheerende Dürre das Land befallen und die leere Zisterne wurde zum Treffpunkt für den Chor umfunktioniert, indem die Arbeiter eine mechanische Hebebühne in ihrem Gewölbe installierten. Die Akustik befand man als ganz erstaunlich, obwohl es wie immer ein paar Kritiker gab. So kam es, dass Doldenholm seine Mari in jenem Chor kennenlernte.
Neben der Zeit mit seiner Frau verbrachte Professor Doldenholm Stunden und Wochen in seiner Kammer, mit dem Studium der Knochen beschäftigt. Keine Erklärung gab es dafür, wieso sie einfach verschwinden konnten. Vor Jahrzehnten hatte er an einer renommierten Universität auf dem Feld der Bioarchäologie gelernt, und obwohl er kein Mediziner war, ging es rasch, so hielt man ihn während der Plage des Knochenschwunds für einen. Aber all das angehäufte Wissen verglaste und versteinerte im Angesicht des Rätsels. Gerade so wie das Skelett von Mari, bis es eines Tages brüchig wurde und in seine Einzelteile zerfiel.
Der Druck der Öffentlichkeit, endlich ein Heilmittel gegen den Knochenschwund zu erfinden, drängte Doldenholm zunehmend in eine einsame Lage. Satt hatte er es, am Bett der Sterbenden zu sitzen, grübelnd darüber, welch chemischen Prozesse für den Schwund verantwortlich waren, die Stimmen seiner Patienten im Ohr, die um Erlösung flehten. Ihr trockener Husten, wenn die Knochen als Staub ihre Körper verließen. Bald hing man ölgetränkte Tücher auf, um die Partikel einzufangen, und er konnte nur noch mit Respirationsmaske nach den Kranken sehen. Die Vorwürfe der Angehörigen waren irgendwann kaum mehr zu ertragen. Das seine Mari ebenfalls unter dem Knochenschwund litt, behielt er nur deshalb für sich, weil die Menschen ihn an seine eigene Hilflosigkeit erinnerten.
Oft und lange saß er neben Mari, den Blick aus dem Fenster auf den Berggipfel vor der Dampfstadt gerichtet, darauf wartend, dass sie ihm ein Zeichen gab, einen Beweis dafür, dass der Verfall über den endlosen Tag noch nicht obsiegte. Wären die Tage früher so lang gewesen, alles hätte er dafür gegeben. Aber Un- und Endlichkeit hatten beide ihren Preis. Niemand wusste das besser als Doldenholm, dessen Vergangenheit duftend wie Parfüm den Raum verhängte, geradezu strömend aus dem zerfallenden Körper seiner Mari, was dem Schmerz eine endgültige atemraubende Wucht verlieh. Aufgeregt riss ihn das Zimmermädchen aus seinen Träumereien.
„Herr Doldenholm, Herr Doldenholm, ein Telegramm für Sie!“
Stumm nahm er es entgegen und nickte leicht zum Dank.
„Wie geht es ihr heute?“, fragte das Zimmermädchen mit gesenktem Kopf.
„Gleich. Jeden Tag gleich“, sagte er und las das Telegramm.
Fund außergewöhnlich STOPP
Unbekannte Knochen STOPP
Von weit unten STOPP
Erwarte Sie unverzüglich auf dem Ölberg STOPP
Am nächsten Morgen früh machte sich Doldenholm auf den beschwerlichen und weiten Weg zur Fundstätte. Wobei er sich ständig fragte, ob die Knochen von den Pumpen ans Tageslicht gefördert oder ob sie per Zufall in einer Gesteinsschicht gefunden worden waren. Die Nacht hatte er an Maris Bett verbracht, halb wach und am Dösen, den Kopf neben ihrem auf dem Kissen, tastete im Schlaf nach dem Haar, das ihr jedoch seit Krankheitsbeginn längst ausgefallen war.
„Ich komme zurück“, flüsterte er später, Handschuhe und Rock bereits angezogen. „Bleib wach, ich bin bald wieder da.“ Schon in der Tür, drehte er sich noch einmal um, sicher, dass Mari ihn sah, und fügte leise an: „Vergib mir. Ich muss das tun.“
„Blau. Ich sehe das Blau der Hyazinthfelder“, flüsterte Mari und schlief wieder ein.
Zu Pferd ritt er aus der Stadt und die Schläge der Hufe auf dem Kopfsteinpflaster begleiteten seinen einstweiligen Abschied. Das Stoßen des Dampfs aus den metallenen Nüstern erfolgte exakt bei jedem vierten, was die Kinder der Passanten mit Begeisterung quittierten, und manches riss sich los von der elterlichen Hand, um ein Stück weit hinter ihm herzurennen. Am Stadtrand machte er Pause, kaufte sich für zehn Groschen genug Wasservorräte bei einem Händler und Treibstoff für das Pferd. Kaum kam er ins wüste Land zwischen Zivilisation und Berg, plagten ihn Insekten, und die Sonne versengte seinen Hut, sodass er die Krempe fortlaufend mit dem kostbaren Nass benetzen musste. Auf halbem Weg in einer Senke spielte der Wind mit dem Sand, wirbelte ihn auf und wehte ihn wie tanzende Skelette über die Prärie. Doldenholm stoppte das Pferd und lauschte der sanften Melodie, dem Raunen und Flüstern der Erosion, und verlor sich beinahe, im salzverkrusteten Labyrinth auswegloser Melancholie.
Am Fuß des Berges angekommen, stieg er aus dem Sattel. Der Chauffeur der Zahnradbahn erwartete ihn bereits, ein untersetzter Mann mit rundem Bauch aber kräftigen Armen. „Schnell, schnell. Die ganze Mannschaft ist völlig aus dem Häuschen!“, sagte er. „Den pneumatischen Gaul stellen Sie bitte da in den Bretterverhau.“ Der Chauffeur stieg in den offenen Bahnwagen und begann das Öl in den Motor zu pumpen. Pffffff-tschschsch, pffffff-tschsch-chh. Es schlug, brummte und röhrte, weißer Rauch wehte Doldenholm ins Gesicht.
Auf der Fahrt zogen die Telegrafenmasten an ihm vorbei. Das große Steuerungszahnrad am Bug des Wagens klackerte und der Motor schob kräftig an. Der Chauffeur lenkte durch die ausgeschlagene Rinne. „Was können Sie mir über den Fund erzählen?“, fragte Doldenholm.
Der Chauffeur kniff die Augen zusammen, als wäre ihm Sand in sie geraten. „Keine Ahnung“, murmelte er. „Ich habe mich nicht getraut, die Knochen zu berühren.“ Doldenholm hakte nach, aber mehr war während der gesamten Fahrt nicht aus ihm herauszubekommen.
Bei der Bergstation stieg er aus. Die Ölpumpen waren abgestellt worden und die Gasmaschinen schwiegen, eine Stille lag über den abgestuften Terrassen, auf denen ihre Pferdeköpfe und Trägerhälse erstarrt in den blauen Himmel ragten. Aus den durch Druck aufgeblasenen Zelten entwich Luft mit einem langen pssssss, um für Kühlung zu sorgen, weil es innerhalb der Grube heiß und stickig wurde. Im Trichter im Berg blubberte das Öl. Es war voller Knochen. Arbeiter sassen auf den Kanten der Terrassen, ließen die Beine baumeln und rauchten, unterhielten sich kurz angebunden. Doldenholm wurde vom Vorarbeiter begrüßt.
„Ah, Professor Doldenholm!“, rief dieser aus. „Sind Sie doch gekommen! Ich war mir nicht sicher, ob mein Telegramm Sie erreicht hat.“
„Natürlich, so schnell ich konnte. Wie ist die momentane Situation?“
„Seit die Knochen ans Licht gekommen sind, hab ich kaum geschlafen.“ Doldenholm fielen sein gerötetes Gesicht und die ungesunde Haut auf. „Mein Problem jedoch wiegt weitaus schwerer: Wie Sie sehen, wird die Mannschaft im Moment nur fürs Rauchen bezahlt“, fuhr er fort und zeigte durch den Trichter.
„Aus wissenschaftlicher Sicht bin ich geneigt, den Arbeitern zuzustimmen.“
Der Vorarbeiter hustete. „Ich kann Ihnen versichern, wenn ich weniger als die festgelegte Fördermenge schaffe, hat Dampfstadt ein Problem.“
„Dann lassen Sie die Mannschaft instruieren, sie sollen keine Zeit verlieren und die Knochen bergen. Ich will sie baldmöglichst untersuchen.“
„Das werden Sie schon selbst erledigen müssen“, brummte der Vorarbeiter und zuckte mit seinen türbreiten Schultern. Er rieb sich über das ölverschmierte Hemd. „Auf mich hört hier keiner mehr.“
Doldenholm fasste einen der Arbeiter am Arm. Der Mann torkelte stark, als hätte er getrunken, aber seine Worte verrieten ihm, dass die Ursache für seinen Zustand im wahrsten Sinn des Wortes tiefer liegen musste. „Was soll das? Ich will hier weg!“, schnauzte er. „Erkennen Sie es nicht? Die Knochen ...“
„Was ist damit?“, fragte Doldenholm und ließ ihn los.
„Sie lassen mich Dinge sehen.“
„Wie meinen Sie das?“
Der Mann antwortete nicht, sondern stolperte benommen in Richtung der Bergstation. Der Vorarbeiter lächelte schief und streckte die Hände aus, groß wie Bratpfannen. „Sie sollten sich selbst ein Bild verschaffen. Mit Hilfe einer Seilwinde können Sie absteigen.“
Der Vorarbeiter führte ihn zur Plattform mit der Seilwinde. Der Käfig wirkte wie ein eiserner Sarg, rostig und länglich in der Bauform. Zwei Männer mit ölgeschwärzten Gesichtern halfen ihm hinein, entfernten sich dann hastig, als wollten sie nicht Zeuge sein, wie Doldenholm unter dem ruckenden Ächzen der Winde in seinem Käfig sank. Die Luft roch nach Öl, Metall und altem Stein und je tiefer man ihn in den Trichter hinabließ, desto heißer wurde es. Über ihm schrumpften die Terrassen zu Ringen und bald gab es nur noch das Knarren des Seils, das langsame Schleifen der Zahnräder und das entfernte Hissen der Belüftungszelte. An den schmierigen Wänden klebten Vogelfedern und weiter unten glänzten die Knochen im Öl, als erwarteten sie seine Ankunft.
Als er den ersten Knochen zur Hand nahm, war es um ihn geschehen. Ein Duft nach Honig und Balsam erfüllte die Luft, den er sofort als den ihrer Lieblingsblumen erkannte, und das Blau der Hyazinthen ihn verschluckte, er fiel tief hinab in den ölbefreiten Trichter, vorbei an ihrer Hochzeit auf dem Pleuelplatz, wo das Fest rauschte und die Girlandenträger tanzten, Mari in ihrem strahlendweißen Kleid, er ohne seine Nickelbrille, die kinderlosen Jahre ihnen Glück versprachen, als gäbe es keinen Faktor Zeit, keine Walze, die alles unter sich zermalmte, und die Bürger Dampfstadts weder Dürre noch Knochenschwund zu fürchten hatten. Er erinnerte sich an die Berührung ihrer Hand, an die kleinen Grübchen auf den Wangen, und dem Sonnenlicht in ihren Augen, wenn der Wind sie tränen ließ, auf dem Turm der Dampfzentrale, und ihre Lebendigkeit ihn zusammen mit den Wassertröpfchen fliegen machen konnte. An ihre unterstützende Art, wenn er bei der Arbeit zweifelte und die tröstenden Worte, als der schwerste Tag in seinem Leben kam, an dem ihm seine Kollegen aus der Professur die schlimmste aller Nachrichten mitteilten: dass die Aussichten auf ein Heilmittel als sehr gering eingeschätzt werden mussten. Und er erinnerte sich an seinen Eifer, daran, trotzdem niemals aufzugeben, obwohl alle andern längst das Handtuch geworfen hatten. Der Geruch ihres Haars betörte ihn, ihm wurde schwindlig, je schneller die Knochen in seinem Herzen lasen und die Abfolge der Erinnerungen intensivierten. Und den ganzen Abend verbrachte er tief im Trichter, weil er nur dort die Knochen singen hören konnte.
Als er wieder zu Sinnen kam, herrschte Aufruhr im Trichter. Mit Netzen hatte man die Knochen aufgefangen und das Öl restlos abgepumpt. Doldenholm lag auf einer der Terrassen, eines der Fragmente noch in seiner Hand. Neben ihm der eiserne Sarg im Staub. „Sie zwingen uns das zu sehen, was besser vergessen bliebe“, schrie der Vorarbeiter laut. „Wir müssen die Knochen vernichten, noch bevor der Morgen graut!“
„Die Dürre ist zurück!“, brüllte ein anderer und: „Der Knochenschwund ist an allem schuld!“
„So halten Sie doch inne“, verlangte Doldenholm und stolperte auf die Füße. „Ich vermute die Knochen speichern das, was man allgemein als Seele kennt.“
„Was wollen Sie damit sagen?“, blaffte der Vorarbeiter ihn an. Männer rannten im Kreis, fielen über die Kanten der Terrassen, schlugen sich am Fels Arme und Beine auf. Wer besonderes Pech hatte, fiel lautlos in den Schlund. Frisches Öl blubberte am Grund des Trichters, weitere Knochenstücke sammelten sich darin, fahl und bleich, im letzten Licht des Sonnenstands.
„Die Erinnerung an unsere Liebsten, sie sind konserviert“, versuchte es Doldenholm erneut. „Sehen Sie nur hier, in dieser Struktur verbirgt sich ein ganzes Leben!“
„Ich sehe nur schwarz verbranntes Land“, keuchte der Vorarbeiter, wandte sich ab und gab Befehl, die Zerstörung einzuleiten.
Und so wurden die Pumpen in ungeahnter Geschäftigkeit umfunktioniert, an die Pleuel dicke Stahlplatten montiert, damit das herunterschlagende Gewicht die Knochen zu Staub zermalmte. Hilflos versuchte Doldenholm zu protestieren, schwenkte die Hand mit seinem Knochen, rief, man solle sofort aufhören, er hätte es jetzt erkannt: Die Wahrheit über den Schwund, sie liege tief vergraben, noch tiefer als das Öl in diesem Grund. All die verschwundenen Knochen, man hätte sie hier hochgepumpt. Doch niemand hörte ihn, es war bereits zu spät.
Die Zerstörungswut entfesselt, stampfte, malmte und krachte es durch die ganze Nacht. Erschöpft schlief Doldenholm an Ort und Stelle. Am nächsten Morgen sah er es nicht sofort. Dicker Staub hing noch im Trichter und die Arbeiter waren allesamt fort, die Maschinen stumm zurückgelassen. Aber das Fragment in seiner Hand, es hatte sich verändert. War zu seiner Verwunderung wieder zu einem vollständig gesunden Knochen ausgewachsen. Und Doldenholm pustete sich den Staub von der Lippe, steckte den Knochen in seine Rocktasche, flüsterte in der Stille des Trichters, dieselben Worte, immer wieder: „Mari, geh nicht in die Hyazinthfelder. Bitte geh noch nicht.“