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Das letzte Abendmahl
Daniel Jeschke
Das letzte Abendmahl
Frederik saß in der voll besetzten Straßenbahn und las die Bibel. Die nächste Haltestelle wurde angesagt, kratzte aus Lautsprechern an der Decke. Er blickte von seinem Buch auf und sah um sich herum Menschen, die sich an Haltegriffen festhielten, während Sie lasen oder sich unterhielten. Mit seinen kalten blauen Augen wich er den Blicken aus, die er durch das dicke Buch, mit den goldenen Seiten, auf seinen Knien, auf sich zog. Er schlug es zu, stand auf und ging zur Tür, die Bahn hielt an und die Türen gingen auf. Er stieg aus, dabei blieb er mit seinem Mantel an einer Stange im Ausstieg hängen, konnte sich aber schnell wieder befreien. Neben dem Eingang zum Supermarkt saß ein Mann im Schneidersitz an die Wand gelehnt. Er trug eine verschmierte Jacke, sein Gesicht war dreckig und unrasiert. Der Mann kratze sich zwischen seinen wirr abstehenden Haaren. „Haste vielleicht n´ bisschen Kleingeld?“, fragte er und schüttelte mit einer Blechdose, darin klimperten ein paar Münzen. Frederik blickte auf die Dose in den Hände des Bettlers und sah dicke schwarze Ränder unter den Fingernägeln, die Hose war verdreckt und voller Löcher. „Wenn Gott will, wird Dir geholfen“, sagte Frederik. Der Mann senkte den Kopf, stellte die Dose wieder ab und verdrängte seine Enttäuschung mit einem Schluck aus einer Flasche mit brauner Flüssigkeit. Frederik drehte sich weg, ging in den Supermarkt, dort nahm er sich einen Einkaufskorb vom Stapel. Durch die Scheibe sah er den Bettler auf der Straße sitzen. Sein Herzschlag beschleunigte sich, bei dem Gedanken, dass er seine Buße gefunden hatte. Frederik steuerte die Regale an und legte die Einkäufe in den Korb, ging zur Kasse, zahlte und verstaute sie in einer Tüte. Er fragte die Kassieren noch nach einem Stift und schrieb etwas auf einen Zettel, dann ging er grußlos aus dem Geschäft.
Der Bettler vor der Tür saß gerade zusammengesunken und mit geschlossenen Augen an seinem Platz, als ihm Frederik ein paar Münzen und den zusammengeknüllten Zettel in die Dose warf. Der Bettler sah auf und zeigte ein schmales Lächeln, Frederik erwiderte das Lächeln, nickt ihm zu und wünschte ihm einen gesegneten Abend.
Die Passanten wurden immer weniger und in der Ecke wurde es Dunkel, der Obdachlose kratzte sich eine schorfige Stelle am Arm, ein später Kunde warf flüchtig ein paar Cent in die Dose, dann wurden die Türen geschlossen und er saß im Schatten in seiner Ecke, nur der Schein einer Straßenlaterne spendete etwas Licht und ein paar Tauben pickten neben ihm nach Brotkrümeln. Er schaute in die Dose und zählte das Geld, dabei fiel sein Blick auf das geknüllte Stück Papier, das im ersten Moment so aussah, als hätte ihm Jemand ein Kaugummi in die Dose gespuckt. Er drehte die Dose und der Zettel fiel in seine Hand, er entfaltete ihn und las -.
Er überlegte, was er von der Nachricht halten sollte. Seine Gedanken kreisten um einen warmen Platz, wo er die Nacht verbringen konnte, aber noch mehr um seinen hohlen Magen. Er würde diese Nacht wieder auf einer Bank schlafen, seinen Geist mit dem Inhalt aus der Flasche betäuben, um wenigstens den Hunger für eine Weile zu vergessen. Oder er würde seine Vorsicht vergessen, dem Lichtpunkt in der Dunkelheit seiner Existenz folgen, für eine Weile sein derzeitiges Leben vergessen und ein Stück von der Normalität zurückbekommen, die er vor Jahren hinter sich lassen musste.
Die Räume waren niedrig, ein erwachsener Mann konnte gerade aufrecht stehen, ohne sich den Kopf zu stoßen. Es roch nach moderigem Schimmel und an einigen Stellen bröckelte Putz von der Wand. Schwere Kirchenmusik quoll aus Lautsprechern und belegte die Räume mit einer Schicht aus Mönchsgesängen und Glockenläuten. Kerzen brannten in Ständern und beleuchteten ein Bild mit Jesus und seinen Jüngern beim letzten Abendmahl an der Wand. Frederik stand mit nacktem Oberkörper vor dem Bild, sein Kopf war weit in den Nacken gelegt und die Arme streckte er zu beiden Seiten ab. So hat sich Jesus gefühlt als er für mich gestorben ist, dachte er und zog seine Arme noch weiter auseinander und genoss den Schmerz. Er stellte sich vor wie er an einem großen Kreuz hing, das auf einem Berg stand, von dort aus konnte er den Horizont über dem staubigen Land sehen. Seine Haut und seine Gelenke, schmerzten in den Armen, in der Brust und im Bauch, aber er war ruhig, mit einem wissenden Lächeln auf den Lippen, das die Erlösung nah war.
Er öffnete die Augen und sah Jesus, wie er, die Jünger um sich geschart, in der Mitte der Tafel stand und mit einer Geste der Nächstenliebe, mit weit geöffneten Armen, Speisen und Getränke mit den Jüngern teilte, die ihn als Heiland sahen, und ihn über alles liebten. Er würde wie Jesus sein, mit den Armen teilen und eine Offenbarung wiederfahren, die ihn zu einem Heiligen und Geliebten macht und ewig leben lässt.
Die Straßen waren menschenleer, die Häuser standen dicht an dicht und ragten baumhoch in den Himmel, schwankend und durch einen nebligen Schleier vor den Augen suchte er nach einer Hausnummer. Autos parkten zwischen Bäumen am Straßenrand, Mülltonnen waren auf dem Gehweg abgestellt und Fahrräder standen angeschlossen an den Zäunen. Der Bettler kniff die Augen zusammen und stütze sich an der Wand ab. Um die Schulter hing ein alter Rucksack, daran baumelte eine zusammengerollte Decke. Er verharrte kurz, dann ging er zum nächsten Hauseingang und schaute auf das Zeichen mit der Hausnummer. Endlich angekommen, ging er in die dunkle Hofeinfahrt.
Er hatte alles bereit gestellt, Teller und Besteck lagen auf einer Decke in der Nische eines Fensterbretts. Daneben stand ein Kelch, mit Wein gefüllt, um eine brennende Kerze hatte er einen Rosenkranz mit einem kleinen Holzkreuz gelegt. Die wenigen Bewohner des Hauses schliefen, der Hinterhof war nur durch ein paar Fenster einsehbar und wurde durch Blätter einer großen Eiche verdeckt. Er versteckte sich in einer dunklen Ecke hinter einem Baum, von dort aus konnte er den Hinterhof überblicken. Lang genug hatte er gewartet, in der Hofeinfahrt bewegte sich etwas, er spürte das Adrenalin in seinen Körper steigen, sein Herz schlug schneller, seine Muskeln spannten sich und seine Finger schlossen sich fest um den Ledergürtel in seinen Händen. Er begann zu beten.
Mit den Armen voran, tastete er sich durch den dunklen Gang und konnte bald den Schein einer Kerze erkennen. Seine Schritte hallten von den Wänden zurück und sein nebliger Blick lies die Kerze zu einem hellen Punkt verschwimmen. Vorsichtig sah er auf den Teller herab und berührte die Holzkette mit seinen Fingern. Er nahm einen Schluck aus dem Kelch. Er merkte nicht, wie sich hinter ihm ein Schatten aus der Ecke löste.
Unser tägliches Brot gib uns heute – er sah die schmale Gestalt mit dem Rücken zu sich stehen, den Kopf geneigt, wie zum Bußgebet – Dein Wille geschehe - nur noch wenige Schritte trennten ihn von der Ewigkeit- wie im Himmel, also auch auf Erden – er hörte ihn schmatzen und roch seinen verströmenden Gestank, eine Mischung aus Schweiß und Urin, der ganze Dreck der Menschheit kroch aus jeder einzelnen Faser seines Körpers – und vergib uns unsre Schuld – die Schlinge riss an seinem Hals, der Kehlkopf wurde zusammengequetscht - und führe uns nicht in Versuchung - er schlug um sich, der Mund war weit aufgerissen, die Lunge pumpte, das Gesicht lief violett an und die Augen traten aus den Höhlen - sondern erlöse uns von dem Übel.- die verkrampften Finger entspannten sich, das Herz schlug ein letztes Mal und die Arme vielen kraftlos herunter. – Amen.
Er löste den Griff um den Gürtel und der leblose Körper fiel zu Boden. Schweiß stand auf seiner Stirn, sein Herz raste und er hörte es in den Ohren pulsieren. Er streckte seine Arme weit auseinander, legte den Kopf in den Nacken, spürte das Ziehen in Armen und Bauch und füllte seine Lungen mit der kühlen Nachtluft. Er hat einen Hilfsbedürftigen von seinen Qualen erlöst, er ist jetzt bei Gott, seinem Herrn, aber seine Aufgabe war noch nicht erfüllt.
In einer Ecke des Hinterhofs parkte sein Wagen, ein alter Kombi, unauffällig, mit großzügigem Kofferraum. Er öffnete die Heckklappe, zog den leblosen Körper an den Beinen durch den Hof und wuchtete die Leiche in den Kofferraum, die Stoßdämpfer quietschten unter dem zusätzlichen Gewicht. Er ging zum Fensterbrett, nahm den Rosenkranz in die Hand, sah auf das kleine Holzkreuz, das an der Kette baumelte, und steckte es in die Manteltasche. Die restlichen Sachen raffte er zusammen und schmiss sie achtlos auf die Leiche. Er setzte sich auf den Fahrersitz, drehte den Rückspiegel und sah seine Augen darin gespiegelt. Gottes Sohn, der Erlöser, dachte er und startete den Motor.
Die Scheinwerfer warfen Lichtkegel auf die Bäume am Straßenrand, der Wagen schlich durch die Schlaglöcher auf dem sandigen Weg. Das Auto schwankte, es quietschte und im Kofferraum schlugen Teller, Kelch und Besteck aneinander. Frederik hielt das Lenkrad fest umklammert und fixierte seinen Blick auf das Ende des Lichtkegels. Aus dem Dunkeln kam ein Tor zum Vorschein, das über die Straße ging. Frederik hielt an, stieg aus, öffnete das Kettenschloss und schob das Tor zur Seite, dann setzte er die Fahrt fort. Er hielt vor einem Holzhaus an und stieg aus dem Auto. Die Fenster waren mit Brettern vernagelt, über ein paar Stufen ging es auf die Veranda, darauf stand ein knorriger Schaukelstuhl, ein Windspiel hing von der Decke und in Tontöpfen steckten die kümmerlichen Überreste von vertrockneten Pflanzen. Vor dem Haus stand eine Wanne, mit Wasser gefüllt, daneben eine Pumpe. Rings um die Lichtung waren Nadelbäume, aus dem Wald hörte er eine Eule rufen und Wildschweine suchten den Boden nach Futter ab, sie grunzten und er hörte das Laub rascheln.
Das Zuschlagen der Autotür durchschnitt die Nacht. Frederik ging zum Kofferraum und zog den Toten heraus. Er packte ihn unter den Armen und schliff ihn die Stufen zur Haustür hoch, die Tür sprang auf, als er ihr einen kräftigen Tritt gab. Durch die offene Tür strömte ein bestialischer Gestank nach Draußen, der Gestank mischte sich aus Fäkalien, verwesenden Leichen und Erbrochenem, das wie es schien, seit Wochen in einem großen Bottich angerührt wurde und nun mit einem mal nach Draußen kippte. Frederik hielt sich die Armbeuge vor die Nase und zog nur noch mit einem Arm an dem Toten. Langsam mischte sich der Raum mit frischer Luft und er konnte den Gestank aushalten. Er zündete eine Öllampe an, die an einem Holzpfeiler in der Mitte des Raumes hing. Der Lichtschein fiel auf einen langen Tisch an der Wand des Raumes, an dem zusammengesackte Körper auf Stühlen saßen. Die Körper waren mit Seilen an den Hände, Brust und Beinen an die Stühle gefesselt. Aus aufgeplatzten Wunden an den Köpfen fielen weiße Maden, überall krabbelten Käfer und Würmer drehten sich aus Augen, Mund und Ohren, fielen auf die Körper, dann zu Boden, wo sie sich weiter zusammenkrümmten. An den Wänden waren Spinnenweben und eine fingerdicke Staubschicht lag auf dem Boden und den Regalen an der Wand.
Frederik wuchtete die Leiche auf den letzten freien Stuhl und band sie fest, dann rückte er den Stuhl in Position, ging ein paar Schritte zurück und begutachtete sein Werk. Es ist genauso wie auf dem Bild, dacht er und drehte behutsam einen Kopf, Maden fielen zu Boden, als er zur Seite kippte. Er zog seinen Mantel aus und lies ihn hinter sich zu Boden fallen, streckte die Arme weit auseinander, legte den Kopf in den Nacken und atmete tief ein. Gleich kommt die Erlösung. Er ging zu dem Regal an der Wand und nahm eine Pistole. Die Waffe glänzte in seiner Hand, er spürte das Gewicht und das kalte Metall auf seiner Haut. Er ging hinter den Tisch und stellte sich in die Mitte, der Reihe seiner Jünger, rechts und links neben ihm saßen die Toten auf den Stühlen. Dann hob er die Waffe zum Kopf, blickte noch ein letzes mal in die Runde, breitete den Arm aus, wie Jesus, bei seinem Zeichen der Nächstenliebe und schloss die Augen. Ich bin gleich da Vater. Er spannte den Hahn und drückte ab.
Ende