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Das letzte Tabu
Es gibt sie noch, die Augenblicke, in denen Du alles um dich herum vergisst. Momente endloser Freude, tiefen Begehrens, wohliger Lust. Einzigartige Behaglichkeit und ein Gefühl tiefen Friedens durchströmt deinen Körper. Und da ist sie wieder, die alte Stärke, die dich denken lässt: Ja ich kann dieses Leben leben! Ich schaffe es nicht nur irgendwie, nein ich will es, denn es ist wirklich schön. Wäre das Leben voller solcher Momente, es könnte ewig dauern, es wäre das beste Leben auf der Welt.
Und dann kommt es, das unweigerliche Aus, der jähe Absturz in die Tiefen der grauen Wirklichkeit. "Was denkst Du gerade?" Die Frau an deiner Seite schaut Dich an, lächelt, will teilhaben - fragt. Deinen Körper hat sie schon gehabt, hat sich an ihm erhitzt, seine Kraft und die anschließende Erschöpfung gespürt. Doch das ist ihr nicht genug. Sie will auch deine Gedankenwelt, deine Gefühle, dein Wesen entdecken. Will wissen ob sie darin eine Rolle spielt und wenn ja, welche. Dass sie das wissen will, ist ihr nicht bewusst. Es war eigentlich nur gedankenlos dahingefragt, ohne ein akutes Informationsbedürfnis. Vielleicht wollte sie auch nur die plötzliche Stille durchbrechen. Die Nähe wieder herstellen, die nachdem sich ihre Körper getrennt haben, jetzt schon wieder ein Stück Vergangenheit ist.
Die Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: "Nichts!" Dies kann sie nicht befriedigen, soll es auch nicht und wird es niemals tun - denn es ist aus. Keiner von beiden weiss es jetzt schon. Noch spüren sie die Wärme, die Behaglichkeit, riechen die Lust und lassen die Bilder des gerade Erlebten vor dem inneren Auge noch einmal ablaufen. Doch es wird schon kälter, der Schweiss trocknet, die Bilder verlassen das Kurzzeitgedächtnis.
Sie geht ins Bad und wird sich fragen, warum er ihr nicht ehrlich geantwortet hat. Sie hat doch gesehen, dass er an etwas gedacht hat. Hat er Geheimnisse vor ihr? Hat es ihm nicht gefallen? Hat er vielleicht sogar an eine andere gedacht? Und jetzt erinnert sie sich auch noch an andere Dinge, die sie zuerst nicht einordnen konnte, die aber jetzt einen Sinn ergeben, den roten Faden seines Falschspiels aufzeigen. Warum hat er ihr vorhin beim Liebesakt nicht in die Augen geschaut? Sie hat seinen Kopf in beide Hände genommen, um sein Gesicht zu sehen, seine Augen. Er blickte sie nur kurz an und beugte den Kopf wieder nach unten, um sie zu küssen. Sie aber hob ihn wieder an und sagte voller Leidenschaft. "Schau mich an." Das tat er, wenn auch wieder nur kurz, aber er tat es. Trotzdem hatte sie das Gefühl, er blicke durch sie durch. Zu starr, zu abwesend der Blick. Oder war es nur seine Lust? Nein, da war etwas anderes, da muss etwas anderes gewesen sein.
Er schaut ihr nach. Sieht, wie sie sich vom Bett erhebt und ins Bad geht. Sie hat einen schönen Arsch. Das liebt er an Frauen. Ein richtig schöner, runder, voller Arsch. Nicht breit, nicht lang - gerade richtig. So wie er ihn mag. Er mag eine ganze Menge an ihr. Die Blässe ihrer Haut, ihre kleinen Brüste - gerade eine Hand voll - diese einzigartigen Nippel, ihre Haare, ihr Lächeln, ihre Zähne. Sie ist für ihn die perfekte Frau. Und - er kann sie gut riechen. Ihr Atem, ihr Hals, ihre Möse. Alles allerfeinster Riechstoff. Das alles hätte er ihr sagen können, als sie ihn fragte, was er gerade denkt. Das und noch viel mehr. Wie glücklich er in ihrer Nähe ist, wie sehr er diese Momente der Wärme, Geborgenheit und Leidenschaft geniesst. Wie lange er sich schon nicht mehr so vollkommen gefühlt hat. Doch das tat er nicht.
Er hat nicht einen Moment gezögert mit der Antwort. Es war die Antwort, die er schon seiner Mutter gegeben hat, wenn sie ihn beim Tagträumen erwischt hat. Es war die Antwort, die Millionen von Männern irgendwo auf der Welt Millionen von Frauen geben. Es ist die einzige Antwort auf diese Frage. Denn egal, wie eng, wie schön, wie liebevoll eine Beziehung zu einer Frau auch sein mag, der Blick ins Innerste ist tabu. Wir Männer haben viel gegeben, viel aufgegeben. Wir leben das Leben, das die Frauen von uns erwarten. Wir sind offiziell monogam und treu, wir sind liebevolle Väter, wir sind erfolgreich im Beruf, wir fahren einen Kombi. Der domestizierte Mann. Doch neben aller Anpassung und Kompromissbereitschaft, die wir noch nicht einmal als solche empfinden, gibt es noch das letzte große "Gentlemen Agreement". Die unausgesprochene Übereinkunft einer Gattung, die stille Revolte gegen ein Leben, das wir uns nicht ausgesucht haben. Und es lautet: "Sag was Du willst, aber sag niemals einer Frau, was Du wirklich denkst." Sie wird es nicht verstehen, sie kann es nicht verstehen. Denn sie ist anders. Komplett anders als ein Mann. Sie denkt anders, sie fühlt anders - sie bekommt Kinder.
Sie kommt zurück aus dem Bad, zieht sich an. Er lächelt sie an und fragt: "Was ist los?" Sie setzt ihr süßestes Lächeln auf bevor sie antwortet: "Nichts!"