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Das letzte Versprechen
Damals, in der ersten Klasse, war ich der einzige, der am ersten Tag schon lesen konnte. Meine Mutter hatte es mir beigebracht und gesagt: Sei gut, dann bist du erfolgreich - und wer erfolgreich ist, der wird gemocht. Bei den Worten drückte sie mich an ihre weiche Brust und küsste meinen Kopf.
In der Schule wurde ich dagegen oft als Angeber hingestellt. Als Besserwisser. Man streckte mir die Zunge raus und niemand wollte mit mir befreundet sein. Die Folge davon war, dass ich mich schämte für das, was ich konnte, und unglücklich war. Es blieb mir nur, mich dumm zu stellen, um dazuzugehören. Später änderte ich meine Strategie und bot meinen Mitschülern Hilfe an. Ich hatte es satt, mich geringer zu machen, als ich war - also musste ich die anderen schlauer machen.
Wie bei allem, so war ich auch damit erfolgreich. Viele kamen und wollten Nachhilfestunden. Ich hatte Freunde und Spaß, und endlich schien mein Leben im Gleichgewicht zu sein. Aber dann verliebte ich mich.
Sie hieß Jasmin, hatte die blonden Locken eines Engels, ein dazu passendes Gesicht mit einer kleinen, süßen Stupsnase, und als sie einmal im Schulbus neben mir saß, berührten sich unsere Hände ganz kurz.
Wochenlang überlegte ich, wie ihr ihr am besten meine Liebe gestehen konnte - denn ich war überzeugt davon, dass es Liebe war, die einzig echte, wahre Liebe, die alles überdauerte und niemals endete.
Ein Gedicht sollte es sein! Worte mochten alles ausdrückten, was ich für dieses Mädchen empfand. Also schlüpfte ich Abends aus dem Bett, nachdem meine Eltern schlafen gegangen waren, und setzte mich mit klopfendem Herzen an meinen Schreibtisch. Aber nichts fiel mir ein. Sätze zwar, aber ohne Melodie, ohne Tiefsinn. Mir wurde klar, dass ich Lesen konnte und Schreiben, dass ich aber keine Ahnung davon hatte, wie man ein Gedicht verfasste. Also ging ich in die Bibliothek unserer Schule und lieh mir alles aus, was mir zum Gedichteverfassen passend erschien: Goethe, E. T. A. Hoffmann und Heine. Abend um Abend grübelte ich über den Zeilen der Meister, bis ich die Struktur dahinter erkannte. Ich verschlang noch weitere Werke, eignete mir alles an, was ich in meinen Kopf stopfen konnte.
Nach einem Monat war ich soweit. Ich verfasste nur fünf Strophen. Aber in diese fünf Strophen packte ich mein Innerstes.
Sie kamen an. Sie trafen ins Schwarze. Ich eroberte den Preis! Ich gewann Jasmin. Und nach ein paar Wochen feierten wir Partys, gingen gemeinsam schwimmen und küssten uns im Regen. Und sie sagte mir, sie wäre so glücklich über uns. So glücklich mit mir. So wie dieses eine Mal, wir saßen auf der Bank unter der Linde gleich hinter dem Haus ihrer Eltern und sahen der Sonne zu, wie sie langsam hinter dem Horizont verschwand. Jasmin blickte mich an, mit ihren klaren Augen, und ich wusste, dass sie etwas auf dem Herzen hatte. “Was ist los?”, fragte ich. Und sie antwortete, dass wohl all unser Glück nur durch meine Gedichte möglich wäre. Und dass sie Angst hatte. Angst, dass ich Gedichte für ein anderes Mädchen schreiben könnte.
Ich nahm ihre Hand und drückte sie ganz fest. Mir war klar, dass ich ihr die Angst nehmen musste. Also gab ich ihr das Versprechen, dass ich niemals für ein anderes Mädchen Gedichte schreiben würde, nur für sie.
Sie lächelte und lehnte ihr weiches Gesicht an meine Wange. Auch ich war glücklich. Zusammen sahen wir dabei zu, wie die Sonne unterging und der erste Stern am Himmel erschien.
Zwei Jahre später verliebte ich mich in Sonja. So anders als die langweilige, junge Jasmin! Wo Jasmin ein unschuldiges Mädchen war, war Sonja ein Raubtier - bereit, jederzeit ihre Krallen einzusetzen. Sie versprach mir das Abenteuer, das ich mit Jasmin nicht haben konnte. Ich musste sie erobern! Aber wie?
Ich war gut darin, Gedichte zu schreiben. Aber Jasmin und ich hatten uns als Freunde getrennt, und ich wollte das Versprechen nicht brechen, das ich ihr gegeben hatte. Sonja würde kein Gedicht von mir bekommen.
Als ich sie in einem Club tanzen sah, und sie ihren geschmeidigen, starken Körper an mich drückte, kam mir die Idee: Ich würde ihr einen Song schreiben. Einen Song, in den ich alle meine Gefühle legen, in dem ich ihr mein Innerstes mitteilen konnte. Aber er musste perfekt sein! Ich nahm Klavierstunden, besorgte mir selbst eines und kündigte die Stunden wieder, weil ich im Selbststudium schneller war. Zwei Monate später bekam sie den Song. Und er überzeugte sie! Danach waren wir ein Paar und ich genoss Sonja, die Wildkatze. Wir zogen durch die Bars und Clubs der ganzen Stadt. Und eines Tages, wir saßen benebelt vom Alkohol am Rand der Tanzfläche, da richtete sie ihren Katzenblick auf mich und ich wusste, dass sie etwas auf dem Herzen hatte. Sie sagte, meine Songs wären großartig. Aber ich dürfte nur für sie schreiben, für sonst niemanden. Als Zeichen meiner Liebe für sie.
Am Rand der Tanzfläche lächelte ich und sagte ja.
Nach der Schule reiste ich um die Welt. Welche Vielfalt sich mir da bot! Überall lernte ich Menschen kennen, fand Freunde, lebte eine Weile in London auf der Straße und erkundete die Wildnis der amerikanischen Everglades. Und ich verliebte mich - nicht nur einmal. Und jedes Mal wendete ich meine bewährte Strategie an: Ich eroberte die Mädchen, indem ich ihnen zeigte, dass ich in einer bestimmten Sache perfekt war. Und ich gab das Versprechen, diese eine Sache für niemand sonst zu tun.
Mit den Jahren wurde es schwieriger. Mehr und mehr Abende verbrachte ich alleine am Tresen verschiedener Bars. Ich wurde ängstlich, wenn ich eine Frau sah, die mir gefiel, wegen dem Zwang, sie zu überzeugen, dass ich der Passende für sie war. Ich war mittlerweile ein Meister darin geworden, mir in Windeseile Fähigkeiten anzueignen. Aber alles, was ich tat, reichte nicht aus. All die Versprechen waren nicht genug, die Frauen lange an mich zu binden. Ich bewies meine Liebe jedes Mal aufs Neue in dem Glauben, endlich am Ziel angekommen zu sein. Aber die Liebe erwies sich nie als beständig. Und in dem Maß, in dem meine Fertigkeiten wuchsen, wurde ich verzweifelter. Oft dachte ich an die Frauen, die ich in meinem Leben geliebt hatte, und noch immer empfand ich viel dabei. Auch wenn die Versuchung groß war, ich konnte die Versprechen nicht brechen, die ich gegeben hatte. Denn ein Versprechen zu brechen war unehrlich. Unehrlichkeit bedeutete, nicht perfekt zu sein, sondern einen Makel überschminken zu müssen. Und ein Mensch wie ich machte keine Fehler. Ein Mensch wie ich war perfekt.
Die Schmerzen in der Seite ordnete ich zuerst meiner düsteren Stimmung zu. Dem Stress. Als ich schließlich zum Arzt ging, war der Leberkrebs schon viel zu weit fortgeschritten.
Schließlich, vor zwei Wochen, stand meine Mutter am Krankenbett und sagte mir, sie liebe mich. Und ich sagte ihr, ich liebe sie. Und sie bat mich leise um ein Versprechen.
Und ich lächelte und sagte: “Solange ich lebe, werde ich nur für dich atmen.”