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Das Lied der gefrorenen Tränen (Blue Tattoo)
(Blue Tattoo)
Igea saß auf der Klippe und blickte über das Meer. Tief unter ihr brachen sich die Wellen und am Horizont zogen dunkle Wolken über das bewegte Wasser. Etwas war seltsam an diesem Tag. Der Wind war kälter, schneidender als sonst. Und den ganzen Vormittag über hatten sich kaum Tiere blicken lassen, was daran gipfelte, dass keine einzige Möwe über der Klippe ihre Kreise zog. Es war als hätten die Tiere sich bereits in ihre Winterquartiere verkrochen. Dabei war es kaum richtig Herbst.
Sie war hierher gekommen, weil sie immer hierher kam, wenn sie Antworten suchte. Hier, in der friedvollen Einsamkeit, fand sie fast immer die Antworten, die sie brauchte. Nur diesmal sah es nicht danach aus. Da war nichts. Kein entscheidender Gedanke, kein Zeichen.
Obwohl… Es wurde ihr erst jetzt bewusst wie seltsam das Meer aussah. Stellenweise wirkte das Wasser wie gefroren, bis es sich mit einer Welle erhob und dieser seltsame Anschein ein Ende hatte – nur um an anderer Stelle von neuem aufzutauchen.
Unwillkürlich musste Igea an die Worte Vaqas denken. Die alte Frau war die Dorfälteste, Igeas Lehrmeisterin in allen Künsten und Wissenschaften und die Verkörperung der Weisheit. „Vieles“, so hatte sie ihre junge Schülerin einst gelehrt, „ist sichtbar, bevor es wirklich ist. Länger und dunkler als die Schatten der Vergangenheit sind die Schatten der Zukunft, und doch schwerer zu erkennen, da wir mitten in ihnen stehen.“
Ein kalter Schauer überkam Igea und diesmal war es weniger die äußerliche Kälte, die sie erzittern ließ. Ihre Meisterin hatte sie gelehrt auch diese Schatten zu sehen und wenn es noch so unwahrscheinlich war, dass sie einen echten entdeckt hatte, so musste sie doch jedem Hinweis nachgehen. Seit Generationen ging es den Stämmen der Unabhängigen gut, weil sie sich auf ihre Eingebung verließen. Manche nannten es visionäre Wahrnehmung, doch Vaqa war sich sicher, dass es nichts als die Aufmerksamkeit war, die sie ihrer Umwelt widmeten.
Igea stand auf und stieg über den Klippenpfad hinab zum Ufer. Wenn sie wirkliche Antworten finden konnte, dann wohl nur dort, wo das Meer greifbar war.
Der Abstieg dauerte lange. Sie vermied es für gewöhnlich bewusst diese Zeit aufzubringen. Diesmal aber trieb sie die Ungewissheit an und für keinen Moment dachte sie daran umzukehren.
Das Meer war unruhig. Diesen Eindruck hatte sie am Ufer noch stärker als oben auf den Klippen. Der eisige Schimmer, der über dem Wasser lag, hatte sich nicht verändert. Es gab Momente, in denen sie wahrhaftig das Gefühl hatte über eine Fläche aus Eis zu blicken. Ihr war nicht wohl dabei, als sie die letzten Schritte zum Wasser hin tat und mit der Hand seine Kälte erfühlen wollte. Bevor sie dazu kam, warf sich eine Welle weit ans Ufer und umspülte sie mit einer Eiseskälte, die sie bis ins Mark erzittern ließ. Von tiefer Furcht ergriffen drehte sie sich um und stürmte den Klippenpfad hinauf. Sie hatte Angst. Sie wusste kaum wovor, aber gerade das machte die Angst so groß und unerträglich.
An der Klippe wehten zu jeder Zeit frische Winde, aber die Winde, welche nun eisig bis ins Dorf hinter ihr her fegten, waren unnatürlich.
Sie hielt direkt auf das Haus der Dorfältesten zu. Zum einen stand es näher als das Haus ihrer Familie, zum anderen würde Vaqa eher Rat wissen als irgendjemand anders.
Ohne zu klopfen riss sie die Tür auf, die augenblicklich vom Sturm gegen die Mauer und wieder ins Schloss geworfen wurde, kaum dass Igea über die Schwelle trat.
Vaqa war nicht zu sehen, aber im Kamin brannte ein kleines Feuer und der große Ohrensessel war zum Feuer hin ausgerichtet. Igea hielt auf das Möbelstück zu. Schon konnte sie Vaqas Hand auf der Lehne sehen. Mit zwei weiteren großen Schritten stand sie neben dem Sessel und öffnete den Mund, um der Meisterin vorzutragen, was sie erlebt hatte.
Aber Meisterin Vaqa würde keines ihrer Worte hören. Starr saß sie in ihrem Sessel und sah aus leeren Augen stur geradeaus. Ihr Gesicht war leichenblass. Auf jeder freien Stelle Haut zeichnete sich feiner Frost ab.
Einmal mehr überlief Igea ein eisiger Schauer. Ihre weise Meisterin, die klügste Frau, die sie kannte, war – eingefroren.
Schockiert trat Igea einige Schritte zurück. Mit einem Mal hörte sie den Sturm an den Steinwänden reißen und zerren, als wolle er alle Kraft aufbringen sie einzureißen. Es war plötzlich dunkler geworden. Dunkler – kälter – grauenhafter.
Sie drehte sich nach dem Feuer um. Es war erloschen.
Sie zitterte am ganzen Körper und fürchtete sich vor die Tür zu treten. Aber noch mehr fürchtete sie sich hier zu bleiben – mit einer erkalteten Toten und kaum durchbrochener Dunkelheit.
Die Tür wurde vom Sturm zugedrückt als sie sie öffnen wollte. Erst mit zusätzlicher Kraft gelang es ihr sich nach draußen zu quetschen und dort fiel der Sturm mit erstarkter Eiseskälte über sie her.
Mit Tränen in den Augen kämpfte sie sich zum Haus ihrer Eltern durch. Es war geräumiger als das der Ältesten und – wie Igea feststellte, als sie erleichtert die Tür hinter sich zuschlagen hörte – auch lebendiger. Ihre drei Schwestern waren ihm Wohnraum und schienen ihrerseits mehr als erleichtert, dass sie zu ihnen stieß.
„Was hast du so lange da draußen gemacht?“ fragte ihre jüngere Schwester Karanu vorwurfsvoll. „Der Sturm hätte dich umbringen können.“
Zia, die älteste der vier, nahm Karanu beruhigend in den Arm. „Sie ist ja da.“
Rebe, die letzte der Schwestern, trat mit besorgtem Gesicht auf Igea zu. „Hast du Mama gesehen?“
Was sollte die Frage? Sie hätte hier sein sollen! „Nein, wieso…“
Rebe warf Karanu einen sorgenvollen Blick zu, dann erklärte sie leise: Papa ist noch nicht von den Weiden zurück und wo Mama ist, wissen wir nicht. Tante Olia ist da, aber…“
Sie brauchte nicht zuende zu sprechen. Ihr Blick sagte alles. „Erfroren…“, sagte Igea leise.
„J… ja. Woher…“
Aber Igea bedeutete ihr zu schweigen. „Nicht wichtig.“ Natürlich war es wichtig, aber sie wollte die ohnehin schon grenzenlose Verzweiflung nicht noch steigern, indem sie erklärte, dass auch mit der größten Hoffnungsträgerin nicht mehr zu rechnen war.
Karanu gab ein ersticktes Geräusch von sich. Erschrocken wandten sich alle Mädchen ihr zu. Sie war blass geworden und Schweißperlen standen ihr auf der Stirn. Nein, nicht Schweißperlen. Eiskristalle!
„Nein!“, entfuhr es Igea und Rebe gleichzeitig, während Zia die kleine Schwester zitternd losließ. „Sie… sie ist eiskalt.“
Igea wandte den Blick ab. Sie hatte die Tränen notdürftig weggewischt, die Wind und Angst ihr in die Augen getrieben hatten, aber ihre Augen waren schon wieder voll davon. Verzweifelt sah sie durchs Fenster in die verschwommene Welt hinaus. Der Himmel hatte sich verfinstert, es war nach wie vor kein Mensch draußen zu sehen. Plötzlich bemerkte sie, dass Schnee fiel und jede Flocke blieb liegen, wo der Wind sie niederließ.
„Ich habe die Zeichen gesehen“, klagte sie. „Ich habe sie gesehen, aber mich nicht getraut sie zu deuten.“
Sie erhielt keine Antwort. Voll böser Ahnungen drehte sie sich um und fand Rebe und Zia zu Eis erstarrt.
Ein erschütternder Schrei verließ ihre Kehle. Hysterisch sog sie Atemluft ein – gefrorene Luft in eine gefrorene Lunge.
Malanon hatte die Zeichen gesehen. Gestern schon. Und doch wusste er nichts zu tun. Es lag nicht daran, dass er sie nicht deuten konnte. Es lag daran, dass er keine Macht hatte. Er war ein Hüter des Schicksals. Einer, der – wenn man den Legenden, Prophezeiungen und Mythen Glauben schenken durfte – fähig war, den Mächten der Finsternis die Stirn zu bieten. Aber er wusste nichts über sie. Nur, dass sie nicht aus dieser Welt stammten und eines Tages wiederkehren würden, um die Welt zu vernichten, aus deren Leid sie einst entstanden waren.
Genau hier lag das unüberwindliche Problem: er konnte nichts besiegen, was er nicht kannte. Niemand konnte das. Es war nicht das erste Mal, dass ihn dieser erschütternde Gedanke beschäftigte, aber diesmal kam ihm plötzlich noch ein anderer Gedanke. Vielleicht war genau das der Ansatz, den Kampf gegen die Dämonen aufnehmen zu können. Es war eine mickrige Hoffnung, an die er sich klammerte, aber es war die erste, die er hatte, seit ihm der Schatten des Schicksals aufgefallen war.
Er stand auf aus der einsamen Höhle, nahm seinen Stab zur Hand, hüllte sich in das Gewand seines Ordens und brach auf, jene zu suchen, die seit ihren Vorvätern der Schwur band, den Wesen dieser Welt beizustehen, wenn fremde Mächte sie bedrohen sollten. Die Mönche der Gnade würden sich erheben. Vielleicht zum letzten Mal, aber was zählte: zum ersten Mal!
Der Schnee hörte nicht auf zu fallen und das Land wurde mit Eis überzogen. Einzig die Gewässer, in denen die Zeichen zuerst zu erkennen gewesen waren, blieben frei von Eis und waren zugleich doch tot. Kein Fisch und kein Wasservogel ließ sich in ihnen entdecken. Die Tage vergingen und die Wochen und Monate und längst war niemand mehr freien Geistes oder Körpers, mit Ausnahme derer, die gegen die Schatten von außen immun waren.
Erst als fast ein Drittel von einem Jahr vergangen war, da endlich trafen sich die Mönche im letzten eisfreien Land, den von Sumpf durchzogenen Nebelhügeln. Malanon hatte sie alle gerufen. Und alle waren sie bereitwillig gekommen, wenngleich sich diese Bereitwilligkeit nicht mit der zu helfen, gleichsetzen ließ.
„Wir können nichts tun als beten“, erklärte einer der Ordensbrüder. Mit Unbehagen stellte Malanon fest, dass viele ihm mit stummem Nicken Recht gaben. „Wenn unsere Gebete nicht gehört werden, so sind die Seelen verloren. Es ist unsere Kraft, eine andere haben wir nicht. Und wenn doch, so ist es keine wirksamere.“
„Wir müssen uns verbergen“, bekräftigte ein anderer. Tun wir es nicht, wird uns all der Segen der uns zueigen ist, nichts nutzen, die Mächte der Finsternis abzuwehren. Wir können ihnen widerstehen, aber wir sind nicht immun!“
Doch es gab Widerspruch. Ohne, dass Malanon ein Wort gesagt hätte, erhob sich ein anderer Mönch und forderte: „Wie müssen kämpfen. Das gebietet uns der alte Schwur. Sicher, wir helfen niemandem, wenn wir scheitern, aber unsere Gebete haben über all die Zeit keine Wende gebracht. Sie mögen gut gewesen sein, aber ihre Wirksamkeit hat Grenzen.“
An dieser Stelle stand Malanon auf und sah in die Runde. „Ich sage wir müssen nicht beten oder uns verbergen oder kämpfen.“ Er registrierte die erstaunten Blicke ohne Genugtuung. „Ich sage wir müssen beten und uns verbergen – und kämpfen!“
Doch man wollte nicht auf ihn hören und er musste ertragen, wie andere wieder das Wort an sich nahmen und allerlei wenig sinniges und unsinniges Zeug sagten.
Bis er schließlich erneut die Initiative ergriff, denn er glaubte zu wissen, was seinen Ordensbrüdern fehlte, um sich überzeugen zu lassen. „Einer der Kristalle des Schicksals leuchtet wieder“, bemerkte er wie beiläufig. Augenblicklich herrschte Stille.
„Wo?“ fragte irgendjemand. „Und welcher?“
„Der blaue Kristall“, erklärte Malanon. „Der Kristall der Trauer und der Hoffnung. Sein Licht strahlt nach Westen, von wo die Kälte kam. Er ist bereit für den Kampf gegen die Dämonen. Doch er braucht uns, um diesen Kampf zu führen.“
Abermals war es still. Lange sprach niemand ein Wort.
Schließlich erhob sich einer der ältesten Mönche, einer, dessen Wort viel zählte. Und er trat in die Mitte des Kreises, den sie gebildet hatten.
„Wenn der Kristall der Hoffnung uns den Weg weist“, sagte er bedeutungsvoll, „dann wären wir Narren, würden wir seinem Licht nicht folgen.“
Hätte der Hinweis auf den Kristall nicht den Erfolg gebracht, wäre Malanon endgültig am Ende seiner Möglichkeiten gewesen. Er hatte jedoch auch die größten Zweifler überzeugt und so zogen sie nun nicht gerade hastig, aber doch entschlossen durch das Hügelland nach Westen, zum alten Kloster, in dem der Kristall ruhte.
Während sie diese geradezu pilgerartige Reise vollzogen, wurde der Himmel über ihnen beständig dunkler. Malanon hätte zur Eile treiben wollen, aber er wusste, wenn seine Ordensbrüder nicht von selbst schneller gingen, würde auch seine Warnung nichts nutzen. Sie waren zu starrköpfig. Viele hatten einen nicht unbedeutenden Teil ihrer Weisheit gegen Arroganz eingetauscht. Selbst wenn ihre Herzen noch rein waren, fürchtete Malanon doch, dass ihre Trägheit sie ins Verderben reißen könnte.
Donner erklang in der Ferne und wurde rasch lauter. Blitze zuckten über den schwarzen Himmel. Es bestand kein Zweifel daran, dass die dunklen Mächte auf sie aufmerksam geworden waren und sich ihnen entgegenstellten. Malanon spürte wie die Kälte ihm erstmals nennenswert zusetzte. Kein geheiligtes Gewand, kein Kreuz und kein Beten konnte ihn vor diesen finsteren Mächten bewahren. Doch solange die Manifestation des Bösen nicht vollkommen war, würde es nicht über sie erhaben sein – nicht solange sie zusammen standen und sich dem Kampf stellten.
Das Kloster war nah, aber mit jedem Schritt, den sie auf die Pforte zutaten, wurde der Himmel grausamer erleuchtet und brach der Donner gewaltiger durch die Stille.
Doch die Mönche, ein Zug vermummter Fackelträger in der Dunkelheit, behielten ihren Weg bei. Schließlich gelangten sie an die Pforte. Sie glitt auf als wäre sie nie versperrt worden und die Mönche traten in die seit langem verlassenen Hallen des Klosters.
Wie Malanon gesagt hatte, lag der blaue Kristall auf dem Herzstein der Haupthalle und sein leuchtendes Licht fiel durch die nebligen Scherben in die gefrorene Welt.
Der höchste unter den Mönchen trat vor den Stein und ließ Weihrauch schwenken, während er die Macht des Kristalls anrief. Mit einer Stimme, die seit Jahrhunderten nicht mehr in diesem Land gehört worden war, beschwor er die Kraft Gottes selbst, der Macht der Dämonen entgegenzustehen. Doch die Stimme des Donners war lauter, als er im selben Moment über dem Kloster die Himmel erbeben ließ. Das Licht gleißender Blitze hüllte das alte Gemäuer ein und Malanon spürte die Dämonen, wie er sie nie zuvor gespürt hatte. Sie waren hier – und zwangen ihn in die Knie.
Igeas Geist schwebte rastlos über der Klippe. Ihr Körper war ein Gefangener ewigen Eises aus einer fremden Welt, ihr Geist war gefangen, indem er nicht in ihren Körper zurückkehren konnte. Leer und sinnlos konnte sie die Welt wahrnehmen und doch nichts in ihr tun. Und mochten auch alle Geister ihrer Familie und Freunde um sie sein, vermochte sie doch nicht auch nur einen einzigen von ihnen wahrzunehmen.
An diesem Tag aber spürte sie, dass ein Wandel vorging. Die Schatten der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft trafen aufeinander und mitten in ihnen wurde ein letzter Kampf gefochten, der das Schicksal ihrer Welt – und ihr eigenes – für alle Zeiten bestimmen würde.
In der Ferne erkannte sie einen blauen Lichtblitz zum Himmel steigen, den dämonischen Blitzen entgegen. In dem blauen Licht war Hoffnung und Igea war es, als würde tief in ihr eine vergessene Wärme wiedererweckt.
Als Malanon zu sich kam, fühlte er eine warme Brise an seinem Gesicht. Er sah sich um und fand das Kloster in sich zusammengefallen. Inmitten der Trümmer aber kamen die Mönche der Gnade wieder zu sich. Jenseits der zerfallenen Mauern aber brannte die Sonne warm auf den Schnee und die Kälte war nicht mehr so eisig wie zuvor. Der Sturm hatte sich gänzlich gelegt.
„Wie ist das möglich?“, flüsterte er für sich. Der Meister, der die Zeremonie des Kampfes geleitet hatte, hörte ihn und schleppte sich zu ihm herüber. Auf seinen Lippen lag ein Lächeln. „Ihr kennt die Antworten.“
Igea konnte kaum glauben, dass der Schrecken überwunden sein sollte, dass die Mächte der Finsternis aus der Welt vertrieben sein sollten.
Glücklich fiel sie ihren Schwestern in die Arme und Freudentränen vermischten sich mit den schmelzenden Tränen aus Eis, die ihre Seelen aus den gefrorenen Körpern geweint hatten.
Bald traten sie vor die Tür und stellten voller Freude fest, dass das ganze Dorf wieder lebte. Mehr noch: zwischen den Menschen waren Männer in dunklen Kutten, die Igea nie zuvor gesehen hatte. Sie lief auf einen von ihnen zu, in dem sicheren Wissen, dass sie ihm die Rückkehr ins Leben zu verdanken hatte.
Mit einem Lächeln begrüßte er sie und auf all ihre Fragen hatte er eine Antwort, auch wenn nicht alle verständlich waren.
„Aber wie?“ fragte sie zuletzt. „Welche Stärke habt ihr aufbringen können, die solche Mächte besiegen kann? Welche Macht ruht in diesem Kristall?“
„Nicht unsere Stärke war es, die Euch befreite“, erklärte der Mönch mysteriös. „ Und ich möchte mir nicht anmaßen, die Kräfte des Kristalls zu kennen oder zu verstehen. Soviel aber weiß ich, dass das Licht des Kristalls zunächst einmal nicht mehr ist als ein Zeichen. Die Hoffnung kommt nicht von ihm, sondern er weiß lediglich daran zu erinnern. Ihr werdet feststellen, dass vieles im Leben eine Frage von Glauben und Vertrauen ist. Die wahren Kräfte, die das Schicksal der Welt entscheiden, sind oft solche, die gering scheinen. Aus Euch selbst kam letztlich die Kraft, weil ihr tief in Eurem Innern nicht aufgegeben habt. Der Feind – so mächtig er schien – konnte Euch nicht bezwingen, weil Ihr Wesen der Wärme seid. Damit seid Ihr anders als sie und niemand kann etwas bezwingen, das ihm fremd ist.“
Igea sah ihn skeptisch an. „Die Menschen haben immer Angst vor dem, was fremd ist. Und Ihr behauptet grundlos?“
Malanon wiegte den Kopf. „In gewisser Weise. Aber Angst zu haben, ist niemals falsch. Nur wegen ihr aufzugeben, das ist ein wahrer Fehler.“
„Aber ist Angst nicht oft ein berechtigter Grund sich geschlagen zu geben?“
„Angst sollte niemals ein Grund sein. Vielleicht hat die Angst Gründe, die gleichfalls Gründe zur Aufgabe sind, aber das ist etwas anderes.“
„Ich verstehe noch immer nicht ganz.“
Einmal mehr lächelte Malanon gutmütig. „Ich auch nicht.“
Lange saß Igea da und blickte in die Ferne, wo sich im Meer das Licht spiegelte und einen goldenen Schimmer schuf. Hier war es als sei die Wärme sichtbar, welche die Dämonen vertrieben hatte. Malanon blieb neben ihr stehen. Sein Blick folgte dem ihren. Noch war ihr Atem in der kalten Luft sichtbar, aber er wirkte immer milder – lebendiger.
„Werdet Ihr uns nun wieder verlassen?“ fragte Igea schließlich.
Malanon dachte eine Weile über diese Frage nach. Was mochte ihr Anlass sein – Angst?
„Wir werden fortgehen, sobald Schnee und Eis soweit verschwunden sind, dass wieder Blumen wachsen“, antwortete er schließlich. „Aber ob wir euch verlassen – das liegt an euch.“
Er beobachtete die Mimik des Mädchens und war sich sicher, dass sie verstanden hatte. Er schenkte ihr ein letztes Lächeln, dann wandte er sich ab und stapfte durch den schmelzenden Schnee davon.
Von irgendwo in weiter Ferne fiel ein blauer Schimmer über das Land.