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Das Lied des Ghouls
Nach dem Tod meines Vaters Jakob im Jahre 2001 fand ich diese Aufzeichnungen unter seinen Papieren und möchte sie nun der breiten Öffentlichkeit zugänglich machen, denn ihr Inhalt hat mich unangenehm berührt und eine Seite in mir zum klingen gebracht, die ich bis dahin noch nicht an mir kannte.
Eventuell mag der Inhalt dieser Papiere dazu beitragen, das seltsame Verschwinden meines Großvaters im Jahre 1965, aus einem oberbayrischen Seniorenheim, in einem anderen Licht erscheinen zulassen.
Tagebucheintrag vom 19.01.1965
Bin in der Nacht zweimal wach geworden und die Erinnerungen an die Alpträume haben es mir wie immer schwer gemacht, wieder Schlaf zu finden. Es sind immer dieselben Bilder, die mich verfolgen, dunkle, endlose Gänge und dann plötzlich eine Höhle, in der nackte Männer und Frauen sich mit unbeschreiblich widerlichen Wesen paaren. Dazu die ohrenbetäubenden Gesänge einer abartigen Religion.
An diesem Morgen stand ich schon in aller Frühe auf. Seltsamerweise befanden sich aber schon eine Anzahl von „Mitbewohnern“ auf den Gängen oder saßen in kleinen Clubs an den unzähligen Tischen. Jedem, der mir entgegen kam, warf ich ein freundliches Wort zu oder winkte aufmunternd, musste jedoch schnell feststellen, das solcherlei Gebaren hier anscheinend nicht gerne gesehen wird, denn ich erntete nur brummende Antworten oder scheele Blicke. Das Verhalten meiner Mitbewohner hat mir dann auch schnell die gute Laune verdorben und ich zog mich auf mein Zimmer zurück. Ich habe das ungute Gefühl, dass an diesem Ort etwas Seltsames vor sich geht…
Tagebucheintrag vom 20.01.1965
„Haus Sonnenschein der gemütliche Ruhesitz für unsere Lieben.“ So hat es damals in dem Hochglanzprospekt gestanden. In Wahrheit wird man hier zu Tode gepflegt und die gesamte Belegschaft scheint nur darauf zu warten, dass die lästigen Alten endlich den Arsch zukneifen, um Platz für den Nächsten zu machen, den man dann auch wieder bis zu seinem unrühmlichen Ende pflegen kann.
Tagebucheintrag vom 21.01.1965
Wurde letzte Nacht von dem Pfleger geweckt, weil ich im Schlaf gestöhnt und geschrieen habe.
Wieder dieser Traum, wieder enge Tunnel und wieder nackte Körper, die sich eng umschlungen mit schleimigen, blasgrauen Monstrositäten in abstoßenden, schwarzen Blutlachen suhlen.
Über dem Bild dieser blasphemischen Orgie thront, mit blutigen Fleischfetzen behängt, das abstoßend grinsende Götzenbild einer verbotenen Gottheit.
Jetzt bin ich schon fast eine Woche hier und habe immer noch keine Menschenseele kennen gelernt. Dabei wohnen mit Sicherheit siebzig bis einhundert Personen in diesem und den angrenzenden Gebäuden, aber ich bekomme einfach keinen Kontakt, seltsam...
Tagebucheintrag vom 23.01.1965
An diesem von Eintönigkeit gezeichneten Ort scheinen meine Träume an Intensivität zu gewinnen. Diesmal schien das Götzenbild zu leben und mit erigierten, deformierten Geschlechtsteil von seinem Thron zu steigen.
Benedikt, der dicke Pfleger, musste mich wieder wecken. Ohne dass er auch nur eine Ahnung hatte, wovon er redete, schlug er vor, ich sollte meine Träume einmal aufschreiben und mit dem Psychiater besprechen. Er muss dann mein Einverständnis vorweg genommen haben, denn am nächsten Morgen bekam ich Besuch vom hauseigenen Seelenklempner. Ich erklärte ihm, dass diese Schlafstörungen auf die noch neue Umgebung und den Verlust meiner Familie zurückzuführen seien.
Nach knapp 60 Minuten musste der arme Doktor enttäuscht wieder gehen.
Tagebucheintragung vom 24.01 1965
Ich hatte Recht. Die Träume werden immer realer. Die abscheuliche Gottheit ist tatsächlich von ihrem Thron gestiegen und begann mit dem Leichnam einer alten Frau zu kopulieren. Männer, Frauen und unzählige dieser grauen Schleimwesen taten es ihm gleich und schleppten zu diesem Zweck zahllose Kadaver herbei.
Eventuell hat Benedikt Recht und es hilft tatsächlich, wenn ich meine Erinnerungen zu Papier bringe. Es wird natürlich nicht soweit kommen, dass ich diese Aufzeichnungen jemandem zeige, aber das Aufarbeiten meiner Kindheitserinnerungen, könnte helfen in der Gegenwart wieder Fuß zu fassen. Aber Gott, es ist so schwer.
Tagebucheintragung vom 25.01.1965
Ich bin um fünf Uhr dreißig aus dem Bett gefallen. Hatte wieder einen Alptraum und muss mich wohl im Schlaf so wild herum gewälzt haben, dass ich aus dem Bett fiel. Es dauerte fast eine ganze Stunde, bis ich wieder richtig klar im Kopf war- diese Träume scheinen mich auch im Wachzustand nicht loslassen zu wollen.
An Schlaf war nicht mehr zu denken und deshalb trat ich an das schmale Fenster und blickte in die Nacht hinaus. Ich löschte das Licht in meinem Zimmer, um besser nach draußen sehen zu können, und entdeckte fast sofort bleiche Gestalten, die in kleinen Gruppen auf dem Boden kauerten und im Dreck wühlten. Es dauerte einen Augenblick bis mir klar wurde, dass diese Nachtschwärmer gänzlich nackt waren. Mit dem Gefühl etwas Unanständiges beobachtet zu haben wollte ich mich gerade zurückziehen, als eine der Gestalten den Kopf hob und mich direkt anstarrte. Fluchend zuckte ich zurück, doch ich bin mir sicher, dass ich die hockende, nackte Erscheinung erkannte, die da so unverhohlen zu mir hinaufblickte. Die auf dem Boden hockende, mit unbeschreiblichen Dingen beschäftigte Person war eindeutig eine der Pflegerinnen.
Tagebucheintragung vom 27.01.1965
Der gestrige Tag war ein einziger Schrecken. Nachdem ich morgens wie ein Irrsinniger tobte und auf die Pfleger und die herbeigeeilten Schwestern einschlug, verabreichte man mir eine gewaltige Spritze in den A... und von da an versank ich in eine rosarote, nach Nelken duftende Traumwelt. Erst gegen Abend hob sich langsam der Schleier vor meinem geschundenen Verstand, doch meine Erinnerungen an den Tag sind nur bruchstückhaft und durchzogen von alptraumhaften Sequenzen.
Tagebucheintragung vom 29.01.1965
Man hat mir eine Unmenge an Medikamenten verordnet. Ich weiß nicht, um was es sich bei diesen Pillen handelt, doch der gesamte gestrige Tag ist aus meinem Kopf verschwunden.
Ich habe mich noch nie so ausgeliefert gefühlt und darum beschlossen meine Ärzte auszutricksen. Ich werde die Medikamente sammeln und nur abends die Hälfte der mir verschriebenen Dosis zu mir nehmen. Ich muss befürchten, dass sonst meine Reaktionen auf die Träume wieder einsetzen und die Herren Doktoren misstrauisch werden.
Außerdem könnten mir die gehorteten Drogen helfen für immer mit diesen Träumen Schluss zu machen…
Tagebucheintragung vom 30.01.1965
Ich habe mich dazu durchgerungen, die Erlebnisse meiner Jugend aufzuschreiben. Der Morgen verlief glimpflich, immer noch betäubt von den Tabletten hat es lange gedauert, bis ich richtig wach wurde, so dass mein Geist Zeit hatte in das Hier und heute zurückzufinden. Ich muss die Phasen der Ruhe nutzen um diesen Alpträumen ein Ende zu setzen.
Sollte dieses schriftliche Heraufbeschwören alter Schrecken keine Verbesserungen bringen, dann bleibt mir immer noch mein Vorrat an „Traumtötern“ - als allerletzter Ausweg.
Tagebucheintragung vom 01.02.1965
Von nun an werde ich alles niederschreiben, was sich im Jahre 1895 zugetragen hat.
Aufzeichnung:
Vor meinen Augen entsteht die kleinen bayrischen Gemeinde, wie sie vor so vielen Jahren ausgesehen hat.
Die Felder, braun und vertrocknet, schienen das kleine Dorf zu umkreisen wie die Fliegen das Rübenkraut.
Dorf ist eigentlich zuviel gesagt, im Grunde handelte es sich um ein paar ärmliche Gebäude, die sich ängstlich um eine Kirche scharrt, sowie eine Anzahl von Höfen, die verstreut darum herum liegen. Hier wuchs ich wohlbehütet, als einziges Kind von Katarina und Ludwig Dröger, auf. Wie glücklich hätte mein Leben verlaufen können, wenn nicht einige unvorhersehbare Ereignisse mein Weltbild erschüttert hätten?
Der Sommer 1895 war der heißeste, an den ich mich erinnern kann, und er schien niemals enden zu wollen. Ab August hatte die Hitze etwas Bedrohliches angenommen. Die Bauern bangten um ihre Ernte und viele sahen ihre Existenz bedroht. Obwohl wir Kinder weniger zu Leiden hatten als manch ein anderer, waren auch wir von einer unterschwelligen Angst befallen, die sich nicht rational erklären ließ, aber deswegen nicht weniger vorhanden war. In dieser Zeit waren eindeutig weniger Alte auf der Straße als zu irgendeiner anderen Zeit, an die ich mich entsinne. Aber ich erinnere mich auch an das ständige Geläute der Kirchturmglocken und die schwarz gekleideten Prozessionen schienen kein Ende nehmen zu wollen. Es hatte den Anschein, eine seltsame Krankheit raffe alle Alten und Schwachen hin.
Zum Schluss einer dieser Beerdigungen stand mein Vater mit Johan Stöger, Alois Felgenbauer, Rolf Strohmaier und Adolf Oettel zusammen vor der großen Birke, die den Eingang zum Friedhof markierte. Eigentlich wollte ich meinen Vater in Mutters Auftrag abholen, damit wir gemeinsam nach Hause gehen konnten, doch ich stoppte ab, als ich Herrn Strohmaier sagen hörte: „ Noch letzte Woche ist sie herumgesprungen wie ein junges Kitz und kaum fünf Tage später das, ich sage euch, das geht nicht mit rechten Dingen zu.“ Einige der Männer murmelten beifällige Worte, die ich nicht verstehen konnte, aber Adolf Oettel stellte die entscheidende Frage: „Hör mal Rolf, wie meinst du denn das? Ich verstehe ja deine Trauer, aber du musst zugeben, dass deine Mutter schon ziemlich alt war und ich kann ehrlich nichts Unnatürliches an der ganzen Geschichte sehen, also wenn du irgendwelche Bedenken hast, dann solltest du uns davon erzählen.“ Der Strohmaier sah ein wenig betreten in die Runde, denn Reden war mit Sicherheit nicht seine starke Seite. Es dauerte eine ganze Weile, bis er die richtigen Worte gefunden hatte. „Ach Mensch Adolf, ich weiß es doch auch nicht so genau, aber erst diese verfluchte Höllenhitze und dann sterben uns die ganzen Alten weg; die Ernte ist ruiniert, niemand kann uns sagen, wie es weiter gehen soll. Das sind geradezu Biblische Plagen, sage ich dir, für irgendein Vergehen will uns Gott strafen.“ „Genauso denke ich auch, “ unterbrach ihn der Felgenhauer, “ und ich weiß, dass ich damit nicht alleine bin.“ Einige der Väter gaben ihm Recht, indem sie mit den Köpfen nickten und bestärkt in seiner Meinung fuhr er fort, „Jawohl, denkt nur an unsere Tiere. Nicht nur, dass in diesem Jahr weniger Kälber als sonst geboren wurden, seit Wochen werden immer wieder Tiere von irgendeinem Vieh abgeschlachtet. In den verfluchten Wäldern hinter dem Eiblinger Hof wurden nachts Lichter gesehen und der alte Bernhard schwört, er habe gottlose Gesänge tief aus der Erde gehört. Ich sage, hier ist irgendeine Teufelei im Gange.“ Mein Vater fuhr sich unbehaglich mit der Hand durch das Gesicht und brummte, „Also, ich bin mit Sicherheit nicht gottesfürchtiger als irgendein anderer von uns, aber ich glaube nicht, dass dies der Gesprächsstoff ist, den man auf einem Gottesacker bereden sollte.“ Damals, im Schatten der alten Birke, schloss mein Vater mit den Worten:“ Ich weiß auf jeden Fall nichts von irgendeiner Hexerei oder einer Teufelei oder einem Fluch und ihr wisst auch nichts darüber.“ Das Wort meines Vaters hatte damals in unserer Gemeinde einiges an Gewicht und so trennten sich die Männer ohne, dass noch ein einziges Wort gefallen wäre.
Tagebucheintragung vom 02.02.1965
Die Nacht ist ruhig verlaufen, ohne die Erinnerung an quälende Träume zu hinterlassen. Mein Plan scheint aufzugehen.
Aufzeichnung:
Am nächsten Tag traf ich meine Freunde in Strohmaiers Scheune. Als ich eintraf, schmiedeten sie gerade Pläne für unsere nächsten Aktivitäten und waren so in eine Diskussion vertieft, dass sie mein Kommen zuerst gar nicht bemerkten. Gerade brummte Harald Stöger: „Baden gehen lohnt sich auch nicht, der Weiher führt kaum noch Wasser, und das bisschen, was da noch drin steht, ist voller ekliger Algen. Ganz grün und schleimig, bäh!“ Er schüttelte sich angewidert. “Ich war gestern dort, “ meldete sich Sepp Felgenhauer, „ Es war richtig unheimlich, der ganze See ist voller toter Fische und überall sind riesige Schwärme von Fliegen und Stechmücken. Ich bin noch einmal mit knapper Not entkommen. Die hätten mich sonst bei lebendigem Leib gefressen.“ Um seine Worte zu bekräftigen, zeigte er allen seine zerstochenen Arme. Und tatsächlich, beide Unterarme waren übersäht mit kleinen, roten Pusteln. „Aber noch viel schlimmer war der Gestank,“ fuhr er sichtlich entsetzt fort, „ da oben kann man es nur ein paar Minuten aushalten, so schrecklich riecht es.“ Ich ließ mich so wuchtig in das weiche Stroh fallen, dass eine Staubwolke aufstieg. Ich wurde mit lautem „ Hallo“ und „ Servus, Hubert!“ begrüßt. Während ich beobachtete, wie das Licht die feinen Staubkörner in funkelnde Kristalle verwandelte, sagte ich: „Es ist schon recht unheimlich, was in der letzten Zeit passiert ist.“ Ihre Augen richteten sich auf mich und ich wiederholte, was ich auf dem Friedhof belauscht hatte. Einen Moment lang sagte niemand einen Ton und dann flüsterte Harald: „Es stimmt. Abends kann ich Vater und Mutter darüber reden hören und ich glaube, sie warten extra solange bis ich im Bett bin, weil sie nicht wollen, dass ich es höre. Sie wissen auch nichts genaues, aber das letzte Mal hat Vater gesagt, dass er sich fürchtet und ich habe noch nie gehört, dass mein Vater vor irgendetwas Angst hat. Sie sind beide ganz aufgeregt gewesen und haben durcheinander geredet, so dass ich kein Wort mehr verstehen konnte und dann hat Mutter angefangen zu weinen.“
Tagebucheintragung vom 03.02.1965
Die Nacht verlief anscheinend ruhig. Trotzdem fühle ich mich heute schon den ganzen Tag wie gerädert. Ein seltsames rhythmisches Dröhnen oder Brummen, anscheinend nur für meine Ohren bestimmt, versetzt mich schon den ganzen Tag in Nervosität. Hinzu kommen merkwürdige fremdartige Gedanken, die wie Lichtblitze durch mein Hirn jagen. Eine Nachwirkung der Drogen?
Aufzeichnung:
Eines Tages trafen wir uns wieder einmal in Strohmaiers Scheune. Es wurden phantastische Vermutungen geäußert, mit denen man dem Geheimnis, wovor unsere Eltern solche Angst hatten, auf die Spur kommen wollte und genauso schnell wurden sie wieder verworfen. „Der Eiblinger Anton, der wird es uns bestimmt erzählen“, Sepp Felgenhauer schrie fast und schlug sich mit der rechten Faust in die linke Handfläche. Wir sprangen alle von unseren Plätzen auf und waren begeistert. Der Eiblinger war bei uns allen beliebt. Doch die meisten Eltern sahen es gar nicht gerne, wenn wir uns mit Anton Eiblinger herumtrieben. Er war als Säufer, Herumtreiber und Nichtstuer verschrien. Von meinem Vater weiß ich, dass der Anton sich weigert die Felder seines Hofes zu bestellen und das, obwohl mein Vater sagt der Eiblingerhof besäße die besten Felder in der Gemeinde. Genauso beharrlich wie er sich weigert die Arbeit auf seinem Land in Angriff zu nehmen, sträubte er sich dagegen seine Felder zu verkaufen oder zu verpachten. Einmal sagte er zu mir, er könne den Gedanken nicht ertragen Fremde auf seinem Land zu sehen. Als ich darauf meinte es wären ja schließlich keine Fremden, sondern alles Leute aus der Gemeinde, die er schon von klein auf kenne, sah er mich nur lange an und sagte dann: „ Anders, sie sind alle anders, Fremde alles Fremde. Gehören nicht zur Familie. Außerdem will ich nicht, dass andere in meinem Boden graben“. Darauf habe ich dann lieber geschwiegen, denn ich habe nicht verstanden, was er damit meinte und es lag etwas in seinem Blick, das jede weitere Frage verhinderte.
Doch an jenem Tag sollten wir kein Glück haben, denn der Anton war nicht zu Hause.
Anton Eiblinger war für einige Wochen wie vom Erdboden verschwunden. Einige Tage lang zerriss man sich die Mäuler und ließ nicht ein gutes Haar an ihm. Doch dann wurde das Dorf durch schrecklichere Ereignisse aufgeschreckt und man vergaß den Anton Eiblinger einfach.
Tagebucheintragung vom 04.02.1965
Den ganzen Tag schleppte ich mich in einer derart extremen Abwesenheit dahin, dass ich langsam Zweifel an meinem Vorgehen bekomme. Gleichzeitig fühle ich mich sonderbar sexuell erregt, ohne den Grund dafür zu kennen. Eine Nebenwirkung der Tabletten- oder verändert sich an diesem verfluchten Ort mein Geist?
Aufzeichnung:
Die brütende Hitze legte sich wie ein Schleier über das Dorf und erstickte sämtliche Aktivitäten. Die kleine Gemeinde wirkte wie ausgestorben. Zu dieser Zeit half mein Vater gerade in der Pfarrei aus. Man hatte ihn beauftragt neben der Kirche einen kleinen Schuppen zu errichten. Ich war unterwegs, um ihm seine Brotzeit zu bringen. Doch er war seltsamerweise nicht an der Baustelle.
Während ich so da stand, viel mir die Stille auf, die mich umgab. Kein Laut war zu hören, nicht einmal die Stimme eines Vogels erklang aus den alten Friedhofsbäumen. Selten habe ich mich so einsam gefühlt, wie in diesem Moment der Stille.
Ein wenig verängstigt suchte ich nach meinem Vater, er hätte eigentlich bei der Arbeit auf mich warten sollen. Langsam schritt ich auf den verwunschenen Friedhof, den wir in der letzten Zeit so häufig besucht hatten, zu. Hier war die Stille fast greifbar. Durch den schweren Duft der Friedhofsblumen, und einen anderen, schwer zu beschreibenden Geruch, wurde mir ganz seltsam zumute und ich hatte das Gefühl durch tiefes Wasser zu waten und mich in einer fremden, feindseligen Welt zu befinden. Ein seltsam berauschendes Gefühl überkam mich. Langsam ging ich weiter, bis sich die Hecke rechts und links vor mir teilte wie das Dornengestrüpp in der Sage. Zu meiner Rechten erhoben sich jetzt die Erdhügel der frischen Gräber. Bei den meisten Beerdigungen war ich dabei, und so kannte ich sämtliche Namen ohne auch nur einen Blick auf die Kreuze werfen zu müssen. Wie in Trance schritt ich die Reihen der Gräber ab. Unzählige Bildnisse von Engeln und Heiligen, angebracht um den Verstorbenen den Weg ins Jenseits zu erleichtern, schienen mich mit argwöhnischen Blicken zu beobachten. In den Augen der Jungfrau Maria lag eindeutig ein verschlagener, ja hämischer Glanz, als ich mit zitternden Knien an ihr vorbei ging. In meinen Kopf tanzten die Verstorbenen einen seltsamen, alptraumhaften Reigen, und ich kann nicht genau sagen, ob ich nicht sogar leise ihre Namen mitgesungen habe, wie einen schrecklichen, gottlosen Kinderreim, oder ob das nur in meiner Phantasie stattgefunden hat. Die Reihe der Gräber kam mir endlos vor, doch irgendwann drang ein Geräusch bis zu meinem vernebelten Verstand durch und brachte mich zurück in die Realität. Immer noch benommen drehte ich mich um und blickte auf die lange Reihe der frischen Gräber zurück. Wieder erklang ein gedämpftes Scharren und eine Art dumpfes, animalisches Grunzen. Ein Knoten bildete sich in meinem Magen, aber dennoch bewegte ich mich, angestrengt lauschend, auf das Geräusch zu. Nur wenige Meter später blickte ich auf das Grab des Bernhard Laichstaetter, um im nächsten Augenblick zurückzuzucken. Ein gurgelndes Stöhnen entwich meiner Kehle, in meinem Darm löste sich ein gewaltiger Knoten und gab seinen Inhalt in meine Hose frei. Ich stürzte rücklings zu Boden, meine zitternden Hände suchten krampfhaft nach Halt. Auf allen Vieren bewegte ich mich rückwärts, wie einem Irrsinnigen lief mir der Speichel über das Kinn und dabei brabbelte ich unverständliches Zeug.
In meinem verwirrten Schädel sangen fremde Stimmen ein gottloses, abscheuliches Lied: „Tote Augen,... tote Augen, schwarzer Rachen, lass dich sehen,... dich betasten... Bei weichem, weißem Fleisch kommt mir das Lachen... tote Augen,... tote Augen, schwarzer Rachen... lass dich fühlen... lass dich fühlen, wenn wir in der Erde wühlen...“
Tagebucheintragung vom 05.02.1965
Seltsames geht mit mir vor. Ich wurde mitten in der Nacht wach und saß bei vollem Licht an meinem Schreibtisch. In meinem Tagebuch waren mehrere Seiten neu geschrieben, allerdings in einer schrecklich archaischen Art, voller versteckter Bosheit. Der Text handelte von einer Pseudo- Religion, die irrsinnigen, gotteslästerlichen Dogmen folgt. Sie bringen dem Dämon Faresh schreckliche Opfer dar und huldigen ihrem König Rash al Ghoul. Das Ziel ihrer Anhänger ist es, noch auf Erden eine körperliche Metamorphose zu vollziehen, um eine uralte, abscheuliche Lebensform wieder zu erwecken und um Unsterblichkeit zu erlangen. Dazu paaren sie sich mit den abscheulichsten Wesen und treiben Unzucht mit den zerfleischten Körpern Verstorbener und verzehren das Fleisch verwesender Opfer. Erschüttert über diese gottlose Niederschrift, habe ich die Seiten aus meinem Tagebuch gerissen. Ich zitterte am ganzen Leib, als ich mich zurück ins Bett schleppte. Unruhig wälzte ich mich von einer Seite auf die andere und versuchte vergeblich herauszufinden, ob dieser Irrsinn meinem eigenen erschöpften Geist zuzuschreiben sei – oder ob die Gedanken eines Wahnsinnigen Zugang zu meinem geplagten Hirn gefunden haben? Wie auch immer die Antwort heißen mag - sie ist abscheulich und schrecklich.
Tagebucheintragung vom 06.02.1965
Nach den Geschehnissen der letzten Nacht habe ich kaum geschlafen, sondern grübelnd wach gelegen. Mir ist allerdings kein anderer Weg eingefallen als der geplante. Auch wenn ich nur noch wenig Hoffnung habe unversehrt an Körper und Geist hier heraus zu kommen, mögen meine Aufzeichnungen vielleicht andern helfen. Also, genug geschwafelt und an die Arbeit. Je eher ich mir alles von der Seele geschrieben habe, um so eher kann ich davon ausgehen, dass alles vielleicht doch noch ein glückliches Ende nimmt….
Aufzeichnungen:
Zwei Wochen vergingen, bevor ich soweit genas, dass ich nicht bei jedem Schatten und jedem Geräusch im Dunkeln anfing zu schreien wie ein Geisteskranker. Unser Dorfarzt stand vor einem Rätsel. Seine Diagnosen schwankten zwischen Sonnenstich am ersten Tag, und Nerven- oder Hirnfieber an den Tagen danach.
Jedoch nach knapp vierzehn Tagen verbesserte sich mein Zustand zusehends. Ich war noch sehr schwach, doch schon wieder in der Lage vernünftig auf Fragen zu antworten und Auskunft über mein Befinden zu geben. Zum Leidwesen meiner Eltern und des Arztes konnte ich aber keine Angaben machen, was mich denn so aus der Fassung gebracht hat - zu diesem Zeitpunkt waren sämtliche Erinnerungen an die Ereignisse auf dem Friedhof aus meinem Gedächtnis gestrichen. Wahrscheinlich eine Reaktion meines Gehirns um die Heilung zu beschleunigen.
Dann kam endlich der Zeitpunkt an dem man mich kaum noch im Bett halten konnte und ich aus lauter Langeweile schier vergehen wollte. Man versprach mir, ich könne das Haus in den nächsten Tagen wieder verlassen.
Das war der Abend an dem mein Vater mit mir sprechen wollte. Er kam sehr spät abends in mein Zimmer und setzte sich zu mir ans Bett. Ich konnte sehen, dass er sehr nervös war, denn dann massierte er immer unbewusst seine Handballen, gerade so, als würde er sich die Hände waschen. Er starrte auf seine Füße hinab und fragte, wie ich mich fühle und ob ich wirklich stark genug sei um schon wieder aufzustehen. Dann blickte er mir ernst ins Gesicht und sagte: „Weißt du, Hubert, in den letzten Tagen hat sich die Welt da draußen verändert.“, und er machte eine ausholende Geste um mir zu zeigen, dass er damit das Dorf meinte. Welche andere Welt kannte ich auch schon? Er stöhnte leise als er nach Worten suchte: „Wie du weißt ist die Ernte in diesem Jahr ganz besonders schlecht ausgefallen.“ Erstaunt sah ich ihn an, doch bevor ich fragen konnte, was er damit meinte fuhr er fort. „ Nun also, die schlechte Ernte hat einige Familien dazu getrieben unsere Gemeinde zu verlassen.“ Mir stockte der Atem, mussten wir etwa auch fortziehen?
„Also, uns betrifft dieses Unglück nicht. Zumindest noch nicht. Ich hoffe als Zimmermann auch weiterhin genug Arbeit zu bekommen, aber für einige Familien, die du kennst, sieht es nicht so gut aus und die Männer müssen in die Stadt ziehen um dort nach Arbeit zu suchen.“ Er fuhr sich mit der Hand durch das Haar und sah plötzlich erschöpft und furchtbar alt aus. Er sah mich lange und nachdenklich an und mit einem leisen Seufzer fuhr er dann fort: „ Nach dem die Sache mit Harald passiert ist ziehen jetzt auch die Stögers weg und die Felgenhauers wollen auch nicht länger hier bleiben.“ Das bleiche Gesicht und die Nervosität meines Vaters schienen all meine schlimmsten Befürchtungen zu bestätigen. Ein schmerzhafter Kloß saß in meinem Hals und unwillkürlich schossen mir die Tränen in die Augen.“ W- was i- ist denn mit dem Harald?“, fragte ich zitternd, während ich meinen Vater anstarrte und betete, dass nichts wirklich schlimmes passiert war. Mit beiden Händen bedeckte Vater sein Gesicht und so verharrte er einige Minuten. Minuten die mir wie eine Ewigkeit vorkamen. Dann richtete er sich gerade in seinem Stuhl auf und sah mir fest in die Augen „Früher oder später wirst du es ja doch erfahren- wahrscheinlich früher, so wie ich unsere Gemeinde kenne. Dann ist es wohl besser, wenn du es jetzt von mir erfährst, als dass es dir irgendeiner in den nächsten Tagen auf der Strasse erzählt.“ Er holte tief Luft und seine Hände umklammerten die Stuhllehnen so fest, dass seine Knöchel weiß hervor traten. „ An jenem Tag, als du mich auf dem Friedhof gesucht hast, bin ich vom Johan gebeten worden ihm bei der Suche nach seinem Sohn zu helfen. Harald war am Abend vorher in den Stall gegangen um nach den Kühen zu sehen, die sich schon den ganzen Tag merkwürdig unruhig benommen hatten, und ist nicht wieder zurückgekommen.“ Ich spürte, dass er erst noch mehr sagen wollte, es sich dann aber anders überlegte- später sollte ich dann die ganze schrecklich Geschichte erfahren. Aber an diesem Abend wollte mein Vater mich schonen, als er mit diesen Worten fort fuhr: „ Wir suchten den ganzen Tag und bis zum Abend hatten sich uns noch einige andere Männer angeschlossen, doch von Harald fanden wir keine Spur. Erst am nächsten Morgen entdeckten wir seine Kleidung am Rand des verruchten Waldes. Du weißt schon, - der Wald hinter dem Eiblinger Hof.“ „ Seine Kleidung? A- Aber was macht den Harald ohne seine Kleidung im Wald?“ Mir war ganz seltsam zumute und in meinem Kopf drehte sich alles. Ich spürte wie mir die Tränen über die Wangen liefen. Vater saß noch den ganzen Abend an meinem Bett und wiegte mich in seinen Armen, wenn ich wieder von einem Weinkrampf geschüttelt wurde oder wenn ich nach kurzem Schlummer wieder von einem Alptraum geweckt wurde.
An diesem Abend hat mein Vater mir sehr viel verschwiegen, doch es sollte nicht lange dauern, bis ich die ganze, unglaubliche Geschichte erfahren sollte. Am nächsten Tag bekamen wir unerwartet Besuch, den Pfarrer Mörich, die Witwe Eleonore Wolfinger, Max Dillmann und den Rolf Strohmaier. Es wurde eine Art Krisensitzung abgehalten und über die Ereignisse in diesem „ unseligen Sommer“ gesprochen. Als meine Eltern der Meinung waren ihr Sohn würde schlafen, wurde sich ausführlich über das seltsame verschwinden des Harald Stöger unterhalten. Aus dem, was ich in meiner Kammer hören konnte, reimte ich mir die tatsächlichen Ereignisse dann zusammen, und erfuhr so die ganze furchterregende Wahrheit.
Die Kühe der Stögers benamen sich schon den zweiten Tag überaus merkwürdig. Sie weigerten sich den Stall zu verlassen, waren aufgeregt und fast irrsinnig vor Angst. Johan Stöger wurde bei dem Versuch, eine der Milchkühe zu melken, so hart gegen den Oberschenkel getreten, dass er das Bett hüten musste. Wir alle konnten uns vorstellen, was in den Stögers vorgegangen sein muss, sie müssen mit Schrecken an irgendeine Krankheit gedacht haben, die ihre gesamte Herde befallen hat. Noch merkwürdiger war es aber, dass die Kühe sich am dritten Tag wieder vollkommen normal benahmen und es keine Anzeichen von einer Krankheit oder von Irrsinn gab. An jenem verhängnisvollen Abend jedoch benahm sich die ganze Herde wie toll und ihre seltsamen Schreie wollten die Stögers schier in den Wahnsinn treiben. Als dann, gegen zweiundzwanzig Uhr, auch noch die Hunde anfingen wie toll zu bellen und an ihren Ketten zu zerren und zu reißen, beschloss Harald, noch einmal in den Stall zu gehen, um nach den Tieren zu schauen. Aus irgendwelchen Gründen muss er dann einen der Hunde, einen großen Rotweilermischling, von der Kette gelassen haben. Urplötzlich brach das Geschrei ab, um dann nach wenigen Minuten mit einer Gewalt wieder loszubrechen, die alles Vorherige in den Schatten stellte. Diese Kakophonie des Grauens war so schrecklich, dass sie noch auf den Nachbarhöfen zu hören war und dort die Männer in Aufregung versetzte. Adolf Oehl, Max Dillmann und Rolf Strohmaier, alarmiert durch das Kreischen, machten sich, aus verschiedenen Richtungen auf den Weg zum Stögerhof, als um zweiundzwanzig Uhr fünfunddreißig der entsetzliche Lärm abbrach und nicht wieder anhob. Die darauf folgende Stille hatte etwas furchtbar Endgültiges an sich und den Männern war sie noch unheimlicher als das Geschrei und wäre nicht der Hof schon in Sichtweite gewesen, der eine oder der andere wäre mit Sicherheit wieder umgekehrt. Als die Männer, wenige Minuten später, ihr Ziel erreichten trafen sie auf den völlig verstörten Johan Stöger. Mit Hilfe seiner Frau hatte er sich aus dem Bett erhoben, und beide waren auf der verzweifelten Suche nach ihrem Sohn. Es dauerte eine Weile, bis die herbei geeilten Männer den Bericht der aufgelösten Eheleute verstanden, doch dann beteiligten sie sich eilig an der Suche nach dem Vermissten. Unter zu Hilfenahme von einigen, eilends herbei geholten, Fackeln und Laternen wurde das Gelände Rund um den Hof abgesucht. Es war nur noch eine halbe Stunde bis Mitternacht, als Max Dillmann eine grausige Entdeckung machte, unweit der Scheune fand er eine Stelle, an der Boden, Gras und Sträucher zertrampelt waren und das Erdreich gerade zu aufgewühlt war. Im Schein der Lampen konnten sie eindeutig die Spuren des Hundes ausmachen, der sich hier rasend auf sein Opfer gestürzt haben musste. Die Bestürzung wurde größer, als man auch Blutspuren an den Gräsern und Sträuchern fand. Der Kampf schien sich, den Spuren zufolge, immer weiter vom Hof entfernt zu haben und immer wieder stieß der Suchtrupp auf merkwürdige Abdrücke im Gras und einen seltsamen grau, braunen Schleim, der ekelig nach unreinem Fleisch und verdorbener Nahrung roch. Zu diesem Zeitpunkt war man der Meinung, dass sich der Hund rasend vor Zorn oder Angst gegen seinen Herrn gewendet hat und den jungen Stöger Angriff, und dann, sein Opfer hinter sich herschleifend, das Weite gesucht hatte. Aus Achtung vor den Eltern des Opfers sagte keiner der Retter ein Wort, doch ihre Meinung schien sich zu bestätigen, als die Blutspuren immer häufiger wurden, und anhand der Menge Blut, die das Opfer verloren hatte, klar war, das niemand diesen Verlust überleben konnte.
Einige Atemzüge später machte wieder Max Dillmann, nur wenige Schritte entfernt, einen dunklen Schatten im Gras aus. Der Gestank nach frischem Blut, Fäkalien und einem anderen, fauligem Geruch lag schwer in der Luft und keiner der Retter gab jetzt noch einen Pfifferling auf das Leben des Harald Stöger.
Angela Stöger war einem Nervenzusammenbruch nah und rief immer wieder, weinend, den Namen ihres Sohnes. Rolf Strohmaier nahm sich ihrer an und brachte sie mit sanfter Gewalt zurück zum Hof, um dort die Rückkehr des Hilfstrupps zu erwarten. Den Männern selber stand das Entsetzen ins Gesicht geschrieben, und Johan Stöger betete leise vor sich hin. Die Drei standen eng bei einander und sprachen flüsternd über ihr weiteres vorgehen, um den Augenblick der Wahrheit hinaus zu zögern und sich selber Mut zu machen, denn das Ziel lag direkt vor ihnen. Es wurde dann vierundzwanzig Uhr zehn, als die kleine Gruppe den Ort des Grauens erreichte. Ihnen bot sich ein Bild des Schreckens, auf zwei Meter war der Boden förmlich aufgerissen, übersäht mit dickflüssigem, schweren Blut und Fleischfetzen. Hier hatte kein Kampf mehr stattgefunden, hier hatte eine wahnsinnige, niederträchtige Kreatur ihren Hass auf alles Lebende nachgegeben und einem abscheulichem Dämon ein heidnisches Opfer dargebracht.
Vor Entsetzen und Angst brach Johan Stöger in sich zusammen und weinte hemmungslos, er war nicht in der Lage weite zugehen und blieb, auf der Erde kauernd, hinter den anderen zurück.
Der beißende Gestank nach Blut, Urin und Schweiß wurde unerträglich und die beiden Männer hielten sich Taschentücher vor die Gesichter. Übelster Schleim war auf dem gesamten Kampfplatz verteilt, er verströmte einen eigenartigen, würzigen, aber höchst unangenehmen Geruch, der entfernt an Verwesung und Weihrauch erinnerte. Vorsichtig näherten sich die Beiden dem dunklen Etwas, das nur wenige Schritte entfernt, fast verdeckt durch Erde und Gestrüpp, am Boden lag. Max Dillmann hob zögernd seine Fackel in die Höhe und der Bauer Oehl richtete seine Laterne auf den düsteren Schatten, um im nächsten Augenblick keuchend zurückzufahren. Max Dillmann wand sich entsetzt ab und erbrach sich schluchzend in das niedergetrampelte Gras.
Später, an jenem Abend bei uns zu Hause, schwor er, dass sich der aufgewühlte Boden unter dem Kadaver noch bewegt habe und er habe ein ekelerregendes Schlürfen und Schmatzen, gepaart mit eindeutigen Kaugeräuschen, vernommen. Er macht wage Andeutungen über „ die Unterirdischen“ oder „ die Gräber“, Sagengestallten, vor denen unsere Ahnen in ständiger Furcht gelebt hatten, und er verteidigte sich, wenn auch nur zaghaft, mit den Worten „ der Pfaffenwinkel ist bekannt für seine unglaublichen und blutrünstigen Geschichten. Hier hat die Christianisierung erst sehr spät stattgefunden und bis ins Mittelalter hinein hat die einfache Bergbevölkerung abscheulichen, heidnischen Göttern geopfert, und nur weil man nichts mehr von ihnen hört, heißt das nicht, dass sie auch wirklich tot sind.“ Adolf Oehl, der einzige, der seine Aussage hätte bestätigen können, hatte zu diesem Zeitpunkt unsere Gemeinde längst fluchtartig verlassen.
Gefunden haben sie auf diesem unsagbar grausigen Schlachtplatz den vollkommen zerfetzten und ausgeweideten Körper des großen Rotweilermischlings. Die einzelnen Körperteile lagen im Umkreis von zwei Metern im Gras verstreut und alle wiesen eindeutig die Spuren kleiner, stumpfer Zähne auf.
Erst am nächsten Tag fand man die erste, und letzte, Spur von Harald Stöger. Der Umstand, dass seine Kleidung ausgerechnet hinter dem Eiblingerhof gefunden wurde, sorgte für einige Aufregung.
Tagebucheintragung vom 10.02.1965
Bin sehr früh aufgewacht. Ich hatte einen Geschmack im Mund, als hätte eine unfreundliche Katze darin ihr Revier markiert. Ein widerwärtiges Dröhnen, wie die Brandung eines gottlosen urzeitlichen Meeres, pochte in meinen Ohren. Mühsam quälte ich mich aus dem Bett und als ich an der Tür zum Flur vorbei kam, meinte ich einen leisen Gesang zu hören. Etwas daran, vielleicht der Rhythmus oder der eindringliche Ton, ließen mich die Tür öffnen und auf den Gang hinaus treten. Immer noch konnte ich nicht verstehen, was gesungen wurde, und so schritt ich den langen, dunklen Korridor entlang die Treppe hinunter, und in Richtung der Küche. Hier unten brannte kein Licht mehr, und aus einer irrationalen Angst heraus scheute ich mich den Lichtschalter zu betätigen. Überaus vorsichtig öffnete ich die Tür und trat ein, dabei fühlte ich mich wie ein kleiner Junge der Angst hat das Schlafzimmer seiner Eltern zu betreten, weil von dort seltsame, ungewohnte Geräusche kommen. Die Küche war stockdunkel, doch die Tür zum Keller stand offen und aus diesem finsteren Rachen kam ein pulsierender, zuckender und wabernder Schein aus blassgelbem, kränklichem Licht. Das unbestimmte Gefühl das alles schon einmal erlebt zu haben, beschlich mich. Ich wünschte mich zurück in mein Bett.
Doch stattdessen schob ich mich näher an den Keller heran. Der Text, der dort in der Tiefe, in ständiger Wiederkehr, einem blasphemischen, abscheulichen und gottlosen Mantra gleich, gesungen wurde kam mir erschreckend bekannt vor. Wie lange ich mich die schmale Kellertreppe hinab arbeitete weiß ich nicht, aber in der Erinnerung scheint es Stunden gedauert zu haben. Dann endlich sah ich einen schimmernden Lichtfleck. Die Stimmen wurden lauter und immer noch, in dumpfer Eintönigkeit, erklang der absonderliche Sprechgesang: „Tote Augen,... tote Augen, Schwarzer Mund,... lass dich sehen,... dich berühren, deinen heil´gen Atem spüren,...„, nur unterbrochen von einem vielstimmigen: „Veni,...Veni,… komm herbei“. Mir zitterten die Knie und ich spürte eine nie gekannte Schwäche und Müdigkeit in sämtlichen Gliedern. Mir war, als würde mein ganzer Körper sich dagegen auflehnen noch näher an die Quelle dieser krankhaften Versammlung zu kommen. Dann ließ ich mich vorsichtig, denn ich musste befürchten, dass meine Beine mir den Dienst versagten, auf die Knie nieder und legte die letzten zwei oder drei Meter auf allen Vieren zurück. Unsagbar vorsichtig lugte ich um die Ecke, um im nächsten Augenblick entsetzt zurückzufahren- dieser Anblick nackter, verschwitzter Leiber, die grotesk im Kreis herum hopsten oder schlurften und dabei eindeutig obszöne Handlungen vollführten, während sie sich um etwas drehten, dass ich zuerst für einen Berg unsagbar alter, vermoderter Wäsche hielt. Ein nackter Mann mit irrwitzigen Schmuckstücken an seinem riesigen, missgebildeten Penis trat hervor, warf die Arme in die Luft und schrie: „ Dunkler Gräber, Faresh! Beglücke uns! Du, der du in der Eingeweide der Erde herrschst und dich am Fleisch der Legionen mästest, nimm unsere Opfer!“. Der Fackelschein malte teuflische, rote Streifen auf seinen aufgedunsenen, blasgrauen Körper während er den verwesenden Körper einer Frau schändete. Die schwachsinnige Menge hielt inne, riss die Arme in die Luft und schrie: „ Rash al Ghoul! Rash al Ghoul, König des Fleisches, Sham o thai! Vater des Todes! Sohn des Faresh! S`Adonaii!“ Im nächsten Augenblick begannen sich die alten Kleiderfetzen zu bewegen, und ich erkannte die abscheulich gottlose und ekelerregende Wahrheit. Oh mein Gott - niemals werde ich den Blick dieser Augen vergessen, das absurde, hässliche Ding schien mir direkt ins Gesicht zu starren, - heilige Maria, Mutter Gottes, - als sich diese schleimig, widerwärtige Fratze verzerrte und mich mit einer nie gekannten Bösartigkeit anlächelte, da erkannte ich unter all dem Dreck, Blut und Jahrzehnte alten Schleim seine wahre Gestalt und mir wurde bewusst, welche seltsamen, verbotenen Handlungen es dort auf dem Boden kauernd vollführte. Wahnsinn überkam mich - in diese Augen hatte ich schon früher geblickt und auch der wolfsähnliche Rachen mit seinem gottlosen Lächeln und den blutigen Fleischfetzen zwischen den Zähnen war mir nicht neu. Auf allen Vieren, irrsinnig kichernd und die blasphemischen Verse singend, krabbelte ich den langen, schauderlichen Gang, der sich wie ein mit stinkenden, grotesken Fäkalien gefüllter Mastdarm in den Leib der Erde bohrte, zurück.
Wie ich dann in mein Zimmer kam, oder wie viele Stunden ich für den Rückweg brauchte, kann ich nicht sagen. Irgendwo in dieser beängstigenden, modrigen Dunkelheit verlor ich sämtliche Orientierung.
Oh, barmherziger Gott, warum tust du mir das an? Ich bin ein zitterndes, jammerndes Wrack - lege deine schützende Hand über mich, oh Gott und führe mich durch das dunkle Tal – ich kann nicht mehr. Und doch muss ich mich beeilen, denn ich befürchte ich werde meine Aufzeichnungen nicht mehr vollenden können.
Aufzeichnung:
Zwei Tage nach der Krisensitzung in unserem Haus erfuhr ich, dass der Eiblinger Anton wieder im Dorf gesehen wurde. Ohne zu wissen, was sie damit anrichtete, erzählte meine Mutter mir, dass der Eiblinger, am vorherigen Abend durch die Hauptstraßen unseres Dorfes geschlurft sei. Zwar konnte sie ihn im Dunkeln nicht genau erkennen, doch habe sie ihn, trotz seines offensichtlichen vollkommen verwahrlost Zustand, an seinem unnachahmlichen Gang erkannt. Von diesem Augenblick an gab es für mich kein halten mehr und da es mir inzwischen wieder besser ging, hatten meine Eltern nichts dagegen, dass ich das Haus verlies um mich mit Alfons Strohmaier zu treffen. Niemals werde ich diesen Tag vergessen, hatten sich doch schon am Morgen, wie ein Versprechen auf eine bessere Zeit, die ersten kleinen Wolken am Himmel gezeigt. Doch sollte heute über unsere kleine Gemeinde ein nie gekannter Schrecken hereinbrechen.
Nachdem wir uns die Begebnisse der letzten Wochen erzählt hatten, ohne wirklich etwas Neues zu erfahren, verstummten wir. Alfons und ich saßen niedergeschlagen auf den Strohballen in Strohmaiers Scheune. Eine lange Zeit gingen wir beide unseren eigenen, traurigen Gedanken nach, bis der Alfons aufsprang, sich das Heu aus den Haaren schüttelte und sagte: „Warum gehen wir nicht zum Eiblinger, du hast doch auch gesagt er sei wider daheim?“ Wie er so dastand, eingehüllt in eine Säule aus Licht, das durch die geborstenen Bretter schien und die tanzenden Staubpartikel wie kleine Edelsteine zum glitzern brachte, sah er aus wie ein Heiliger. Erstaunt sah ich ihn an, warum bin ich nicht selber auf diesen Gedanken gekommen?
Es war um die Mittagszeit, als wir den Eiblingerhof erreichten, die Hitze flimmerte über dem Dach des Hauses und zeichnete vielfarbige Finger in die Luft. Lange dünne Wolken waren unbemerkt aufgezogen und verursachten seltsame Schattenspiele auf der Landschaft. Eine bedrückende Stille herrschte auf dem Hof, und nur das aufdringliche Summen der Fliegen war zu hören. Es schienen die einzigen Lebewesen zu sein, die es in der Nähe des Eiblinger Landes gab. Der gesamte Hof machte den Eindruck, als sei er seit Generationen nicht mehr bewohnt. Die hölzernen Fensterläden hingen schief in den Angeln oder lagen zerbrochen am Boden. Die einstmals schönen Schnitzereien und Verzierungen am Haus waren zerstört und bis zur Unkenntlichkeit zerfallen. Alles Leben schien aus dem Land, den Bäumen, ja selbst aus dem Gebäude und der Stallung gesaugt. Fauliger Modergeruch lag in der Luft und rief in mir die Vorstellung eines riesigen, kranken und sterbenden Tieres hervor. Während wir langsam auf das Haus zu schritten, bekam ich den Eindruck, es würde auf eine ekelerregende Art leben und erst beim Näher kommen erkannte ich, dass es mit einer Unzahl von dicken, in der Sonne schillernden Schmeißfliegen übersäht war, die auf den Wänden herum krabbelten. Das Surren ihrer unzähligen Flügel erfüllte die Luft wie eine widerwärtige, sündhafte Melodie. Der Boden rund um das Gebäude war aufgerissen und verwüstet, als hätten riesige Hände brutal darin herum gewühlt. Mir stellten sich die Nackenhaare auf und ich fühlte mich mit einem Mal krank und elend, denn einige der aufgeworfenen Hügel erweckten den Eindruck, von unten heraus aufgestoßen zu sein. So als habe ein verruchtes Ding sich mit bestialischer, hasserfüllter Gewalt den weg ins Freie gesucht. In meinem Kopf drehte sich alles und ich bekam kaum noch Luft, das Gefühl, in einem bizarren Traum gefangen zu sein, wurde mit jedem Schritt, den ich auf das Haus zu machte, stärker. Als ich versuchte auf dem durchlöcherten Untergrund nicht zu stolpern, glaubte ich ein grausiges und alptraumhaftes Schlurfen und Schlabbern aus dem Innern des Hauses zu hören. Mein Blick fiel auf eines der zerstörten Fenster und ich sah einen missgebildeten Schatten, dessen Anblick mich seitdem in meinen Träumen heimsucht, daran vorbei schlurfen. Das eklige Ding drehte sich, um mich mit ranzigen, unappetitlichen, wässrigen Augen anzustarren. In diesem Blick lag eine tierische, abgrundtiefe Lasterhaftigkeit, die mich zutiefst erschreckte. Es gab ein grollendes Grunzen von sich und in seine Augen trat ein Ausdruck des Erkennens und mit einem seltsamen Geräusch, das mich an das Fließen einer zähen Masse erinnerte, verschwand es im Zwielicht des Hauses. Angewidert krümmte ich mich zusammen und übergab mich geräuschvoll auf den verwüsteten Boden.
Ich wollte Alfons warnen, denn er hatte von alldem nichts mitbekommen und schritt weiter auf das verfluchte Haus zu, doch ich bekam nur ein würgendes Gurgeln heraus. Er hatte die Vordertür fast erreicht, als diese mit einem langen knarrendem Ton öffnete und ein mitternachtsschwarzes Loch freigab. Im Dunkel dahinter entstand eine Bewegung und mit schwerfälligen, plumpen Schritten trat der Eiblinger Anton aus dem Haus.
Tagebucheintragung vom 11.02.1965
Sie haben wieder angefangen zu singen. Ich muss mich beeilen, es bleibt nicht mehr viel Zeit.
Aufzeichnungen:
Alfons blieb erstaunt stehen. Obwohl er von meinen Beobachtungen nichts mitbekommen hat, glaube ich, dass er als erstes begriff, das irgendetwas Seltsames, ja Widernatürliches, mit dem Anton Eiblinger geschehen war. Er machte ein oder zwei Schritte rückwärts und stolperte über einen Ast. Mit einem seltsamen Grunzen, das mehr an einen langen, widerlichen Rülpslaut erinnerte, bewegte sich der Eiblinger, erstaunlich schnell, auf den Gestürzten zu. Seine Bewegungen hatten etwas Schleimiges, Fließendes an sich und erinnerten mich an die Vorwärtsbewegungen einer großen Schnecke oder eines Wurmes. In seinen Augen stand ein Ausdruck der Gier und des Verlangens, Speichel lief ihm über den Mundwinkeln und ich erkannte, dass er in den Wochen seiner Abwesenheit gänzlich kahl geworden war. Wie in Zeitlupe bewegte ich mich und in meinem Kopf war nur Platz für den Gedanken, dass ich Alfons noch vor dieser abstoßenden Kreatur erreichen musste, dann würde alles wieder gut werden. Das Wesen, das einmal Anton Eiblinger war, stoppte jäh, als ich Alfons erreichte und aus seinen Augen verschwand der gierige Glanz und machte einer verschlagenen Intelligenz Platz. Während es seltsame Rülps- und Grunzlaute ausstieß, glaubte ich irrwitzige Bewegungen in seinem Gesicht zu erkennen, so als würden sich Würmer oder Maden unter der Haut befinden und langsam aber stetig um den Knochen herum kriechen. Fasziniert starrte ich auf das fließende Fleisch und merkte erst nach einiger Zeit, dass dieses Wesen mit uns sprach. Das abartige Sabbern und Geifern hatte die Stimme derart verändert, das ich dieses Gestammel zuerst nicht als Wörter oder Sätze erkannte. Doch dann erkannte ich die irrwitzig entstellte Sprache und das Gestammel ergab einen schrecklichen und perversen Sinn.
„Smohötch, Futter? Futter, hat mit mir gesprochen, - iis aba nich die Familie. Oourgh, S`Adonaii, Hoonger; beim unheiligen Rash al Ghoul, bald... Eiblinger whuorb, hat soalchen Hoonger..., iis aba noch nich`Sabbath...,`is ja nich die Familie- es hat aba gesprochen? Es is` lebend und saftig, S`Adonaii, Hoonger- muss essen.“ Während es in diesem seelenlosen Selbstgespräch vertieft war, hatten wir uns aufgerichtet und drehten uns jetzt wie auf Kommando um und versuchten den rettenden Pfad zu erreichen. Mit einem abscheulichen Schrei warf sich das Ding nach vorne und nach einigen unwahrscheinlich großen Schritten versperrte es uns mit seiner massigen Gestalt den Weg nach Hause. Übelkeit erregender Gestank drang uns in die Nasen und ich glaubte kleine Klumpen vom Arm des schleimigen Wesens fliegen zusehen als es, mit unförmiger Hand, nach uns griff. Stolpernd drehten wir uns um und versuchten in die entgegengesetzte Richtung zu entkommen. Hinter uns knackten Zweige und das absonderliche Grunzen verriet uns, dass jenes gottlose Wesen die Verfolgung aufgenommen hatte und durch die kränkelnden Büsche am Saum des Feldweges brach. Die Flucht über die zerrissene und aufgewühlte Viehweide war anstrengend und beschwerlich, mehr als einmal strauchelten wir und währen um ein Haar gestürzt. Haltlos schluchzend hechteten wir weiter und Alfons brabbelte leise immer wieder kindliche Gebete vor sich hin. Immer wieder schien die Erde unter unseren Füßen nachgeben zu wollen und wo scheinbar fester Boden war, versanken wir knöcheltief.
Nach einem schmerzhaften Sturz, durch eines dieser ungewöhnlichen Löcher, drehte ich mich entsetzt um und hielt nach dem Eiblinger Ding Ausschau. Doch hinter uns lag nur die zerfurchte, aufgerissene Wiese und das verlassene Gehöft. Zutiefst entsetzt schenkten wir dieser Wendung der Dinge keinerlei Beachtung und hasteten weiter.
Wir müssen die Hälfte der Weide schon fast hinter uns gelassen haben, als urplötzlich der Boden unter unseren Füßen aufriss und wir knapp zwei Meter in die Tiefe stürzten. Wie durch ein Wunder blieben Alfons und ich unverletzt. Panisch sprangen wir auf und blickten entsetzt nach oben, in der bangen Erwartung diese Monstrosität am Rand der Grube zu erblicken. Doch es waren nur einige, vom aufkommenden Wind vorangetriebene Wolken am Himmel zu sehen. Stattdessen ertönte hinter uns ein Scharren, das unser Blut in den Adern erfrieren ließ. Als wir uns umdrehten und zum ersten Mal unser Gefängnis in Augenschein nahmen, erkannten wir, dass wir uns nicht in einer Grube befanden, sondern in einer Art Tunnel. Dieser Gang muss einen Durchmesser von zwei Metern gehabt und an eben dieser Stelle zu nahe an der Oberfläche gelegen haben, so dass er unter unseren Füßen einbrach. Der rückwärtige Teil schien schnurgerade auf den Eiblinger Hof zuzulaufen und aus diesem Abschnitt drang wieder jenes furchterregende Scharren. So oder so ähnlich muss es klingen, wenn sich riesiges, bleiches Gewürm durch die Erde gräbt, in der Hoffnung am Ende des Weges auf Nahrung zu stoßen. Einen schrillen Schrei ausstoßend brach Alfons in der Mitte des Ganges zusammen. Hinter uns brachen die Geräusche abrupt ab. Auf Knien hockend, leise vor sich hin wimmernd, grub er seine Hände immer wieder in sein Gesicht und das Haar, ohne dabei auf Verletzungen oder Schmutz zu achten. Büschelweise riss er sich die Haare vom Kopf und blutige Striemen liefen über seine Wangen. Ich packte ihn an den Schultern und schüttelte ihn wild, während ich immer wieder seinen Namen rief. Doch unter epileptischen Zuckungen brach er in sich zusammen und in seinem verzerrtem Gesicht stand nur noch der Wahnsinn. So plötzlich wie sie abbrachen schwollen hinter mir die Geräusche wieder an und mit einer nie da gewesenen Gewalt schien sich etwas den Weg ins Freie bahnen zu wollen. Der Geräuschpegel aus dem abscheulichen Gang schwoll an und voller Angst starrte ich auf dieses finstere Portal der Hölle. Nach wenigen Augenblicken glaubte ich in der Finsternis einen Schatten wahr zu nehmen, der sich durch eine noch dunklere Schwärze von der Düsternis des Stollens abhob. Wimmernd warf ich mich herum und kroch auf allen Vieren auf das entgegengesetzte End des Tunnels zu. Das war der Augenblick, in dem das Schleimvieh aus dem Gang gestürmt kam. Geifernd und sabbernd brach es aus der Erde. Das letzte was ich sah, bevor ich in die Finsternis des Stollens flüchtete, war wie sich das Ding wahnsinnig kichernd auf Alfons stürzte und die Zähne in seinen Schädel schlug, während es mit stumpfen Klauen seinen Körper in Fetzen riss.
Iin meiner Erinnerung kommt mir meine Flucht endlos vor und auch heute noch überkommt mich das Entsetzen mit einer beispiellosen Gewallt wenn ich an die Dinge denke, die ich in der absoluten Finsternis unter meinen tastenden Fingern fand. Bald schon wurde mir die grausige Bedeutung meiner Fundstücke klar und ich erinnerte mich jetzt endlich wieder an das, was ich auf dem Friedhof erlebt hatte und mit einem Mal erkannte ich, dass der Eiblinger niemals das Dorf verlassen hatte, sondern immer in unserer unmittelbaren Nähe gelauert hatte.
Tagebucheintragung vom 12.02.1965
Oh Gott, das Schreiben hat in mir wieder sämtliche Erinnerungen, mit all ihren Ängsten und Schrecken, herauf beschworen. Nervlich bin ich nur noch ein Wrack, ängstlich hocke ich in meinem Zimmer und zucke bei jedem noch so kleinen Geräusch furchtsam zusammen, jeden Augenblick bereit in ein erbarmungswürdiges Schluchzen auszubrechen. Die Erinnerung, an die abgenagten Knochen und die fleischigen, stinkenden Überreste der verstorbenen Dorfbewohner, in jenem Tunnel rauben mir fast den Verstand. Welche gottlose Macht greift, nach so vielen Jahren, wieder nach mir? Ich kann nicht mehr..., oh Jesus und Maria, ich kann nicht mehr.....
Später:
Aufzeichnung:
Irgendwo hörte ich über mir ein dumpfes Grollen, es muss mich schon eine ganze Weile auf meiner Flucht durch den endlos langen, tiefschwarzen Schlund begleitet haben, aber Verwirrung, Angst und Müdigkeit hatten dafür gesorgt, dass ich erst jetzt darauf aufmerksam wurde. Nachdem ich einige Herzschläge lang still auf dem Boden kauernd lauschte, setzte das Grollen wieder ein und mir wurde klar, dass es sich dabei um das entfernte Donnern eines Gewitters handelte. Neuer Mut wuchs in mir und ich beeilte mich weiter zu kommen. Nach einiger Zeit glaubte ich das Grollen deutlicher zu hören und ich hielt wieder an um zu überlegen, was das bedeuten konnte. Es gab eigentlich nur zwei Möglichkeiten, entweder war das Gewitter direkt über mir oder der Gang hatte unbemerkt nach oben geführt und ich befand mich dicht unter der Oberfläche. Noch während ich darüber nachdachte, fiel mir auf das sich unter meinen Knien eine Wasserlache gebildet hatte und das der Boden und die Wände insgesamt sehr feucht und matschig waren. Ich fing an mit bloßen Händen in der feuchten Tunnelwand zu graben. Die herhausgebrochene Erde benutzte ich als Stufe, um an die höher gelegene Decke zu kommen und bald steckte ich mit dem gesamten Oberkörper in einem schmalen Gang. Mit den Händen löste ich die Erde vor mir, schob sie unter meinen Bauch und drückte sie mit den Füßen aus dem Tunnel. Einige Male brach über mir ein ganzes Stück der Decke ein und ich glaubte in der Finsternis elendig und allein ersticken zu müssen, doch jedes Mal konnte ich mich wieder befreien und beim letzten Mal spürte ich ganz deutlich das die Erde nicht nur feucht, sondern geradezu nass war. Einige Minuten später durchstießen meine Hände die Decke und kühle, frische Luft strömte mir entgegen.
Schluchzend vor Glück befreite ich mich Zentimeter für Zentimeter aus meinem unterirdischen Gefängnis. Über mir rasten violettschwarze Wolkenwände dahin und ein kalter Sturmwind ließ mich frösteln. Nach einigen Minuten fror ich in meinen nassen, stinkenden Kleidern und richtete mich langsam auf. In den Stunden, die ich unter der Erde verbracht hatte, war die Nacht hereingebrochen und es hatte sich ein furchtbares Gewitter zusammengebraut. Furchtsam schaute ich mich um und im gespenstigen Licht der Blitze erkannte ich, dass ich mich unweit unseres kleinen Weihers aus dem Boden gegraben hatte. Diese Erkenntnis beruhigte mich, denn nun wusste ich, wo ich mich befand. Nach wenigen Schritten fiel mir eine Anzahl von runden Lichtern auf, die sich in der Nacht hin und her bewegten wie gespenstige Irrlichter. Müde blieb ich stehen und konnte mir keinen Reim darauf machen. Nach einiger Zeit wurde klar, dass sich die Lichtpunkte auf mich zu bewegten und ängstlich sah ich mich nach einem Versteck um. Doch auf dem abgeernteten Feld gab es keinerlei Möglichkeit sich zu verbergen und so sank ich auf die Knie um mich meinem Schicksal zu ergeben.
Tagebucheintragung
Die Nacht ist fast vorüber.
Ich bin sichtlich erschöpft- es ist schon Jahre her, dass ich eine ganze Nacht aufgeblieben bin. Später werde ich versuchen mich hinzulegen und ein wenig zu schlafen.
Aufzeichnung:
Das Unwetter tobte mit nie da gewesener Gewalt über das Land. Die Natur schien ihre Versäumnisse der letzten Wochen auf einen Schlag wieder gut machen zu wollen und schickte einen sintflutartigen Regen, der Bäche und Flüsse in schäumende Ströme verwandelte. Der Donner brach sich vielfältig in den Bergwänden und verlieh dem Ganzen eine unheilvolle, apokalyptische Note.
Die tanzenden Lichter, die ich auf dem Feld gesehen hatte, erwiesen sich als die Laternen eines Suchtrupps, extra ausgeschickt um Alfons und mich zu suchen. Scheinbar leblos brachte man mich auf den Hof der Strohmaiers.
Aufgeschreckt durch die Angst meiner und Alfons Eltern hatten alle männlichen Dorfbewohner bei der Suche geholfen, während die Weiber unseren Müttern Trost zusprachen. Jetzt, nachdem man mich gefunden hatte, kehrten einige wieder zurück um nach ihren Häusern und Höfen zu sehen, denn man ging davon aus, dass ich erzählen könnte, wo sich der Alfons Strohmaier aufhielt. Zurück blieben nur die Witwe Wolfinger, der Pfarrer Mönich, und der stämmige Max Dillmann, sowie natürlich die Strohmaiers und meine Eltern. Ich lag in Alfons Kammer und alle standen um das Bett herum und redeten wild auf mich ein, während Mutter meine zahllosen Blessuren verarztete.
Obwohl ich restlos erschöpft war und meine Mutter laut protestierte, drängten die anderen darauf zu erfahren, was mit mir und Alfons geschehen und wo er abgeblieben war. Stockend begann ich meinen Bericht.
Anfangs wurde ich immer wider von zweifelnden Ausrufen unterbrochen, die aber aufhörten, sobald ich den Eiblinger und seinen verkommenen Hof beschrieben hatte. An der Stelle wo der Alfons und ich über die alte Viehweide flüchteten, stockte ich dann wieder, denn ich wusste nicht, wie den Strohmaiers davon erzählen sollte. Dann holte ich tief Luft und begann die schreckliche Geschichte zu erzählen. Alfons Mutter brach in lautes Schluchzen aus und musste von den anderen Frauen gestützt, aus dem Raum geführt werden. Die Männer redeten alle durcheinander und nur der Pfarrer behielt einen klaren Kopf und rief alle zur Ruhe. Danach stellte er mir noch einige präzise Fragen zu dem Erlebnis und ließ mich dann weiter erzählen.
Nachdem ich zu Ende erzählt hatte, verließen mich die Erwachsenen, um im Nebenzimmer zu beraten, nur mein Vater blieb noch einige Zeit bei mir und setzte sich zu mir ans Bett, er streichelte unentwegt meinen Kopf und murmelte leise vor sich hin. Kurz darauf muss ich dann eingeschlafen sein, denn von den nächsten Ereignissen weiß ich nur, was mir mein Vater Jahre später erst erzählte.
Tagebucheintragung
Mittlerweile ist der Tag angebrochen und ich bin mir nicht sicher wie lange ich noch wach bleiben kann. Wenn ich auch nicht mehr verhindern kann, dass sie meiner habhaft werden, so kann ich doch dafür sorgen, dass sie nicht allzu viel Freude an mir haben. Die Tabletten und ein Glas mit Wasser stehen bereit…
Aufzeichnung:
Erst viele Jahre später war mein Vater bereit mir von den letzten Ereignissen in jener verfluchten Nacht zu berichten. Ich selbst war mittlerweile ein gestandener Mann und hatte gerade den großen Krieg ohne besonderen Schaden überstanden, als wir uns eines Abends zusammen setzten und bei dem ein oder anderen „Halben“ von unserem Leben erzählten. In der Küche fragte ich ihn ganz direkt nach jenem Abend. Bevor er mir von jener Nacht erzählte, sah er mich lange und eindringlich an und dann sagte er:
“Es gibt Zeiten und Orte, an denen uns die Hölle näher ist als der Himmel. Das war damals so eine Zeit und der Eiblingerhof war solch ein Ort.“
Und dann erzählte er:
Nachdem ich damals eingeschlafen war, tagte der Krisenstab wieder und man holte extra die alte Witwe Oberländer, damit auch wirklich alle einflussreichen Leute dabei waren. Die Beratungen dauerten Stunden, doch irgendwann sah man ein, dass es nicht die Zeit zum Reden, sondern die Zeit zum Handeln war. Alle wehrfähigen Männer mit Waffen sollten helfen den Burschen zu retten. Nach fast anderthalb Stunden waren zwanzig kräftige Männer, ausgestattet mit Schrotflinten, Pistolen und Sturmlaternen, auf dem Hof der Strohmaiers versammelt. Es wird wohl so um vier Uhr morgens gewesen sein, als der kleine Trupp dann endlich aufbrach. Der Sturm heulte und tobte immer noch mit ungebremster Gewalt über das Land und erschwerte das Vorankommen ganz erheblich.
Über den Marsch zum Eiblinger Hof gibt es nicht viel zu berichten, doch als die Männer dort ankamen, stockte ihnen wohl der Atem und den Mitgliedern unserer kleinen Gemeinde wurde klar, dass ich bei meinem Bericht nicht übertrieben hatte. Man hielt eine kurze Beratung ab und beschloss, dass Rolf Strohmaier, Max Dillmann, der Pfarrer und mein Vater das Haus durchsuchen sollten, während die anderen die nähere Umgebung absuchen sollten.
Mein Vater weigerte sich mir zu erzählen, was sich genau in dem verfluchten Haus abspielte. Nur soviel konnte ich seinen Worten entnehmen, dass die Zimmer im Haus gänzlich ausgeräumt waren und vor Dreck, Kot und anderen schlimmeren Dingen nur so starrten. Der Holzboden in der größten Kammer war vollständig herausgerissen und den Männern gähnte ein gewaltiges Loch entgegen, von dem allerlei Gänge abzweigten und sie begriffen, dass der Tunnel durch den ich floh, nicht der einzige war, sondern dass vermutlich die ganze nähere Umgebung ausgehöhlt war. Die Entscheidung über ihr weiteres Vorgehen wurde ihnen abgenommen, als aus einem der größeren Gänge Geräusche ertönten und sie in den Schatten Bewegungen ausmachen konnten. Als das bleiche, widerliche Vieh im Zentrum der sternförmig angelegten Stollen erschien, eröffneten sie ohne zu zögern das Feuer auf die Missgeburt. Mein Vater sagte später zu mir, dass er den Max Dillmann, denn er immer für den abgebrühtesten Mann hielt, den er jemals kannte, wie ein kleines Kind wimmern sah. Er schwört, dass er ihn immer wieder sagen hörte, “ Der Butzemann, -Jesus Maria- der Butzemann – Jesusmariamuttergotteshilfunssündernindernot ..."
Das Ding schwankte unter den Einschlägen der Kugeln und Schrotladungen, allerdings ohne erkennbaren Schaden zu nehmen. Obwohl von den Männern fast in Fetzen geschossen, schaffte es diese Ausgeburt der Hölle in einen der Gänge zu entkommen. Durch die Schüsse alarmiert waren die übrigen Jäger ins Haus geeilt und jetzt beriet man wie man weiter vorgehen sollte. Es wurde beschlossen, dass die Männer unsere Gemeinde, ausgerüstet mit zusätzlicher Munition und zwei extra Taschenlampen, hinabsteigen sollten um das Wesen in der Tief zu verfolgen, während die anderen die Umgebung nach weiteren Einstiegsmöglichkeiten absuchen sollten um der Höllengestallt das weitere Entkommen unmöglich zu machen. Von den vier Männern, die in die Tiefe hinab stiegen ist niemand jemals bereit gewesen zu erzählen, was dort unten geschehen ist. An jenem Abend sagte mein Vater nur, dass der Anton Eiblinger nicht der Einzige degenerierte in der Familie war und dass er eigentlich noch einer der wenigen aus der Brut war, der am menschlichsten aussah.
Auf jeden Fall haben die Männer in der Tiefe unzählige dieser widerwärtigen, deformierten Dinger aufgestöbert, denn gegen sechs Uhr dreißig vernahmen die übrigen Männer eine Unzahl an Schüssen, die eindeutig aus der Tiefe kamen. Man beriet gerade was man tun könnte, als in der gesamten Gegend der Boden nachgab und aus einer Unmenge an Löchern sprangen und hopsten schleimige, blassgraue, menschenähnliche Gestallten, die ihre kleinen nadelspitzen Zähne bleckten und die Jäger aus blutunterlaufenen, bösartigen Augen anstarrten. Mein Vater ist bereit zu beschwören, dass er unter den entstellten Fratzen die Gesichter von Personen wieder erkannte, die seit Jahrzehnten in der Erde vermodern sollten. Einige dieser abscheulichen, gottlosen Kreaturen trug er vor Jahren selber zu Grabe. Noch Wochen später wurden Gänge und Stollen gefunden, die sich weitläufig unter unserer kleinen Gemeinde erstreckten. Niemand kann sagen, ob nicht eine oder mehrere dieser abartigen Kreaturen entkommen sind. Oder noch immer dort unten in der blasphemischen Schwärze lauern. Doch alles, was damals aus dem verseuchten Boden kam wurde von den Männern mit beherzten Schüssen nieder gestreckt.
Es dauert noch bis acht Uhr, dann hatten die Männer unseres Dorfes den Weg an die Oberfläche wieder gefunden. Alle müssen sie schweigsam und in sich gekehrt gewesen sein. Auf dem ganzen Eiblingerhof lagen die aufgedunsenen, stinkenden Kadaver verteilt und alle wurden sich schnell einig, dass kein Außenstehender von den Ereignissen der letzten Nacht erfahren durfte. Mit vereinten Kräften machte man sich ans Werk und suchte soviel trockenes Holz, wie man nur finden konnte, dann schleppte man die Überreste dieser ekeligen Brut ins Haus, schichtete das Holz um sie herum und zündete sie samt dem ganzen Gebäude an.
Das war alles, was ich jemals von einem Sterblichen über die verfluchte Nacht erfahren konnte.
Keiner kann sich ausmalen, wie groß mein Entsetzen vor wenigen Tagen war, als ich bei jener abscheulichen Orgie, unten in den Katakomben des Pflegeheims, die abscheuliche Fratze des Anton Eiblinger wieder erkannte. Plötzlich viel mir die Bemerkung meines Vaters wieder ein, wie merkwürdig es sei, dass die meisten, die damals an der Säuberungsaktion teilgenommen hatten unter mysteriösen Umständen ums Leben kamen. Als ob diese Monster systematisch alle Zeugen beseitigt hätten…
Sie kommen! Die Gesänge sind schon seit einiger Zeit lauter geworden und ich kann jetzt hören wie sie singend die Treppe heraufkommen. Oh lieber Gott, das ist das Ende..., sie sind schon auf den Flur- oh Gott, ich habe solche Angst... Diese aberwitzigen Gesänge, sie bringen mich noch um den Verstand..., kann nicht klar denken...
Gerade habe ich meinen gesamten Vorrat an Traumtötern mit einem Schluck Wasser herunter gespült. Es bleibt nur noch zu hoffen, dass die erwünschte Wirkung einsetzt, bevor sie sich zutritt zu meinem Zimmer verschaffen können... Sie sind an der Tür, oh nein, sie sind schon an der Tür... sie sind da...
„Es gibt Zeiten und Orte, da ist uns die Hölle näher als der Himmel“