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Das Lied des Mihalis
Der Ort, der Held und die Sache
Auf der Insel Korfu, wo das Dorf Paleo Perithia an den Hängen des Pantokrators liegt, gibt es einen Pfad, der eine gute Wegstunde lang ist, der an Kalkfelsen vorbei und zwischen Dornenstauden hindurch zu einem schmalen Tal führt, in dem eine Wiese liegt und ein alter Feigenbaum steht. Geht man zu dem Baum, erkennt man in seinem Schatten ein Geviert zerfallener Mauern. Diese Mauern waren einmal ein Pferch. Nachts wurden dort Ziegen eingefriedet. Sie gehörten einem Hirten. Er hiess Mihalis und wohnte nahebei in einer Hütte.
Seine Hütte war klein und einfach eingerichtet. Es gab darin eine Feuerstelle mit Koch- und Käsekessel, an der Wand ein Gestell für Kleider, Geschirr und Werkzeug, weiter einen Tisch mit Hocker und eine mit Laub gepolsterte Bettstatt. Mehr hätte auch kaum Platz gehabt. Das Gebiet der Hütte war jedoch alles andere als bescheiden. Seine Weideplätze waren zahlreich und weit verstreut. Pfade führten nach allen Seiten hin, schlängelten sich durch das Dornengestrüpp, formten in dem Dickicht aus Akazien, Oleander und Tamarisken ein Labyrinth, dessen Wege sich viele Male kreuzten und verzweigten. Wer sich darin nicht auskannte, konnte sich leicht verirren und lange nach dem Weg heraus suchen. Tatsächlich war das Gebiet so weitläufig und schwer zu überblicken, dass Mihalis mehr noch als andere Hirten auf seine Flöte angewiesen war.
Wollte Mihalis melken, hatte er die Wahl: Er nahm den Stecken, suchte in dem Labyrinth der Pfade nach den Ziegen und trieb sie entgegen ihrem Eigensinn in den Pferch, oder er streute in der Koppel Heu aus, setzte sich auf die Mauer und nahm die Flöte zur Hand. Spielte er ein Lied, konnte er die Ziegen locken. Mühelos konnte er so gar die eigenwilligste Ziege herbeirufen. Natürlich benutzten darum auch andere Hirten ihre Flöte und selbstverständlich fielen ihre Lieder in jeder Gegend ein wenig verschieden aus und unterschieden sich genauso von Hirt' zu Hirt'. Schriftlich erfasst beeinflussten diese Lieder selbst Komponisten wie Wagner und Rossini. Doch unter den Hirten gab es auch den einen oder anderen Wagner oder Rossini. Sie eiferten untereinander um das schönste Lied, um die innigste Klangfolge, um die Tonreihe, die sich am verlockendsten ins Ohr schmeichelte. Das war ihre Sache.
Drei Geister und drei Gaben
Mihalis hatte mehr als nur eine Flöte und ein feines Ohr für deren Spiel. Er hatte auch einen leichten Schlaf. Eines Nachts weckte ihn ein Gieren. Zuerst dachte er, der Wind wehe über den Pferch hinweg und bewege dessen Gatter. Schlaftrunken richtete er sich auf. Er setzte sich an den Bettrand und griff nach Hose und Hemd. Er wollte sich ankleiden, wollte nach draussen gehen, wollte nach den Ziegen schauen und die Koppel wieder fest verschliessen. Doch dann bemerkte er, dass es draussen windstill war, und zu seinem Erstaunen hörte er die Stimme eines Mannes. Wer kann das sein, fragte er sich. Meine Hütte liegt weitab in der Wildnis. Hier ein Besuch und das auch noch mitten in der Nacht? Er streifte sich die Hosen über. Doch halt, dachte er, indessen er sich das Hemd in die Hosen stopfte, vielleicht war dieser Besucher mehr als nur ein Störenfried. Vielleicht war er ein Dieb oder irgendein anderer schlechter Mensch. Wer sonst käme denn hierher, wenn es dunkel war? An der Wand lehnte der Stecken. Er griff danach und wandte sich der Türe zu.
Doch als er die Türe öffnete und nach draussen treten wollte, schreckte er gleich wieder zurück. Bei dem Feigenbaum stand ein derart riesiger Mann, dass er sogleich verzagte, und in dem Pferch konnte er zwei weitere Gestalten sehen. Die eine Gestalt war ein Mann mit Hörnern und die andere war ein Jüngling mit goldenem Haar. Mihalis rieb sich die Augen. Nein, er hatte richtig gesehen. Dem einen Mann wuchsen die Hörner eines Widders und das Haar des anderen schimmerte golden wie eine Zwanziger-Drachme. Mihalis verbarg sich hinter der Tür. Der Vorsicht halber wollte er zuerst abwarten und beobachten. Leise und langsam zog er die Türe wieder so weit zu, dass sie noch einen Spalt breit offenstand, durch den er nach draussen spähen konnte.
Zuerst führte der Gehörnte eine Ziege aus dem Pferch, danach der goldgelockte Jüngling und zuletzt ging auch noch der Riese und griff sich ein Tier. Als wäre nichts dabei, führten sie die Ziegen an der Hütte vorbei und kehrten Mihalis den Rücken zu. Sie gingen ein Stück weit über die Weide und führten die geraubten Tiere auf einen Pfad, den auch Mihalis kaum je benutzte. Noch immer zögerte er. Doch als die drei Fremden im schwachen Licht des Mondes nur noch vage zu erkennen waren, fasste er Mut und trat aus der Hütte heraus. Leise schlich er ihnen nach.
Am Himmel leuchteten die Sterne. Zwischen ziehenden Wolken stand als Sichel der Mond. Schwach leuchtete er auf die Erde hinunter. Dort lag der Pantokrator und an seiner Seite das Tal mit der Wiese und dem Feigenbaum. Die Ziegenpfade wanden sich durch das Dickicht. Es war tiefe Nacht und zu beiden Seiten der Pfade stand Ginster und anderes Gestrüpp. Ging man auf den Pfaden, ragte das Gebüsch hoch über den Kopf hinaus. Die Sträucher hielten das Licht des Mondes ab und man konnte nur wenig sehen. Mihalis folgte den Fremden. Der Pfad führte den Hang hoch, bog nach rechts, kehrte, bog nach links, führte an dem Hang wieder nach unten, dann zweimal links, einmal rechts und wieder hinauf. Er prägte sich alles ein: Einmal rechts, zweimal links, dann hundert Schritte geradeaus, wieder links und noch zweimal nach rechts. Immer tiefer folgte er den drei Gestalten in das Labyrinth hinein. Doch bald waren sie so viele Kurven und Kehren gegangen, dass er aufhörte, sich alles einzuprägen. Weil zwischendurch auch Wolken den Mond verdeckten, war es überhaupt schwierig, sich zu orientieren. Schliesslich konnte er nicht einmal mehr sagen, ob sie nach Süden oder Norden, nach Westen oder Osten gingen. Doch dann wurde der Pfad wieder breiter und führte auf eine Wiese. Die drei Gestalten liefen nun langsamer. Leise folgte er. Vor ihm hob sich ein breiter und hoher Umriss gegen den Nachthimmel ab.
Plötzlich erkannte er, wessen Umriss er sah. Vor ihm stand der alte Feigenbaum. Er ging näher an den Baum heran und staunte. Auf den Blättern glänzte das Licht des Mondes, und zwar so stark wie er es noch nie gesehen hatte, und an seinen Ästen hingen so viele und so grosse Feigen wie sonst nie. Auf der Wiese stand das zuvor abgeweidete Gras wieder frisch und hoch wie im Frühling und von allen Seiten her konnte er unzählige Grillen zirpen hören. Im Pferch waren der Riese und der Jüngling dabei, zwei der Ziegen zu melken. Mihalis näherte sich auf Zehenspitzen und verbarg sich hinter dem Feigenbaum. In der Koppel sah er auch die dritte Ziege. Doch von den anderen Tieren war keines mehr zu sehen. Von seinem Versteck aus konnte Mihalis auch die Hütte erkennen. Die Tür stand offen und aus dem Innern drang der Schein des Herdfeuers. Mihalis konnte vor dem Feuer den Gehörnten erkennen. Er goss Milch in den Kupferkessel, hängte ihn an den Holmen über dem Herd und richtet ihn so aus, dass der Kessel über den Flammen hing. Kurze Zeit später trugen auch der Riese und der Jüngling ihre Milch in die Hütte. Sie leerten sie zu der anderen Milch. Der Riese nahm die lange Kelle von dem Gestell und begann zu rühren. Der Jüngling legte von Zeit zu Zeit ein Holzscheit nach. Als die Milch über dem Feuer zu dampfen begann, zog der Gehörnte ein Fläschchen aus einem Tragebeutel und leerte Lab in die Milch. Nachdem er das Gefäss wieder in dem Beutel verstaut hatte, trat er vor die Hütte heraus.
Der Gehörnte kam bis an den Pferch, lehnte sich an die Mauer und holte aus seinem Beutel eine Flöte hervor. Und als er das Instrument an den Mund setzte und hineinblies, hörte Mihalis ein Lied, wie er es in seinem ganzen Leben noch nie gehört hatte. Es war, als würde gejubelt und über die ganze Flur hin frohlockt und dann wieder ertönte tiefe Sehnsucht und grosse Schwermut. Danach begann der Flötenspieler die bestimmende Klangfolge des Liedes in abgewandelter Form zu wiederholen. Mihalis wurde das Herz warm. Im nahen Dickicht begann es zu rascheln. Zwei Eulen flogen heran und setzten sich auf einen Ast des Feigenbaumes. Darauf kamen die vermissten Ziegen über die Wiese heran. Von den zauberhaften Tönen angezogen drängten sie sich an dem Rand der Koppel und reckten ihre Köpfe. Mihalis bemerkte, wie das Gezirpe der Grillen in das Flötenspiel einstimmte. Es war, als würden sich zu allen Seiten hin Tiere und Pflanzen regen. Kurz hielt der Gehörnte inne, dann setzte er die Flöte erneut an und ließ sie in die Nacht hinausklingen, nur diesmal langsamer und gezogener als vorher. Da lebten rundherum Berg und Tal auf. Das Echo gab die Klänge von den Felsen herab wieder und zwar zeitlich so versetzt, dass alle Töne zu einem reizvollen und vielstimmigen Lied verschmolzen. Es war, als wäre der Himmel davon erfüllt. Noch nie hatte Mihalis ein Lied so berührt.
Unterdessen hatte der Riese am Herd die Kelle beiseite gelegt. Er schöpfte aus dem Kessel heisse Molke in drei Bottiche. Aber wie seltsam: In dem einen Gefäss erschien die Molke blutrot, in dem zweiten buttergelb und in dem dritten schneeweiß.
Plötzlich erschrak Mihalis, denn der Riese schaute genau zu ihm hin, und das Herz klopfte Mihalis bis in den Hals, als jener ihm zurief: "Komm her, kleiner Mann, du sollst dir eine Gabe wählen."
Mihalis wäre lieber weggerannt. Aber wozu wegrennen, wenn der Riese einen Schritt machen konnte, wo Mihalis zwei machen musste. Er trat zögerlich und bangend hinter dem Stamm hervor und näherte sich langsam der Hütte. Als er stehen blieb, nahm jeder der drei Fremden einen Bottich und stellte ihn vor Mihalis hin. Danach sagte wiederum der Riese: "Schau, aus einem musst du trinken. Du darfst wählen. Aber überlege es dir gut. Die rote Molke ist meine Gabe. Trinkst du sie, wirst du stark und riesig. Du wirst kräftiger sein als jeder andere Mann. Keiner wird es mit dir aufnehmen können. Jedem wirst du widerstehen können. Greif zu der roten Gebse, wenn du alles das willst." Danach trat der gelockte Jüngling vor und sagte: "Trink lieber meine Gabe. Es ist die gelbe Molke. Trinkst du sie, schenke ich dir tausend Goldstücke. Hörst du, wie es klingelt?" Er schüttete Goldmünzen auf den Boden. Mihalis hörte sie klimpern und sah sie im Schein des Mondes glänzen. "Heute sind es tausend und morgen zweitausend," sagte der Jüngling. "Jeden Tag werden es mehr sein. Du wirst reich sein wie sonst niemand. Wenn du der reichste Mann der Welt werden willst, dann wähle meine Gabe." Danach trat der Mann mit den Hörnern vor und sagte mit melodischer Stimme: "Trink die weiße Molke. Sie ist von allen die beste. Trink sie, dann wirst du schon morgen singen und Flöte spielen können, so schön, wie du's eben von mir gehört hast. Trink die weisse Molke. Es ist eine gute Gabe."
Die Wahl
Mihalis schaute auf die drei Gefässe. Danach betrachtete er die drei Männer, den Riesen, der stärker und grösser als Herkules war, den Jüngling, der reicher als Krösus war, und zuletzt den Gehörnten, der die Flöte so schön spielen konnte, dass einem das Herz aufging. Mihalis trat vor und griff nach dem Gefäss, das die weisse Molke enthielt. Er setze es an die Lippen und trank.
Erfreut trat der Mann mit den Hörnern vor ihn hin und sagte: "Du hast gut gewählt. Hättest du eine der anderen Gaben gewählt, wärest du bald tot und ich hätte wieder viele Jahre warten müssen, bis jemand gekommen wäre, dem ich hätte vorspielen können. Hier, nimm meine Flöte. Sie gehört dir."
Plötzlich waren die Hütte und die drei Gestalten verschwunden. Mihalis erwachte auf seinem Bett und dachte zuerst, dass er geträumt habe. Doch als er aufstand, sah er auf dem Tisch die Flöte des Gehörnten. Er nahm sie und begann das Lied zu spielen, das er gehört hatte und als er zwei Wochen später eine Ziege ins Dorf brachte, spielte er es auch. Die Dorfbewohner hörten es und kamen an die Fenster, in die Türen und Hofeingänge, um zu lauschen. Passanten blieben stehen und eine Frau, die Wasser an einem Brunnen holte, vergass über den Tönen ihre Arbeit. Der Kessel unter dem Brunnenrohr lief über. Aber die Frau hörte selbstvergessen und wie gebannt auf das Lied des Mihalis. Gleich bei dem Brunnen stand auch das einzige Gasthaus des Dorfes. Ein Gast trat auf den Balkon des Hauses und wandte ergriffen das Ohr dem Flötenspiel zu. Als Mihalis seine Melodie in einer leichten Variation wiederholte, ging er kurz zurück ins Haus, trat aber gleich wieder mit einem Stift und einem Blatt Papier auf den Balkon heraus. Er notierte sich, was Mihalis spielte.