Das Loch in der Hagia Sophia
Wer hat in ihr nicht schon alles im Laufe der Jahrhunderte zu seinem Gott gebetet? In wie vielen Sprachen haben die Mauern der Hagia Sophia schon seinen Namen vernommen? Dieses Gotteshaus war einmal eine griechisch-orthodoxe Kirche, über viele Jahrhunderte noch dazu die prachtvollste und größte Kirche der Christenheit: Es wurde in den Jahren 532 bis 537 im Auftrag des byzantinischen Kaisers Justinian in jener Stadt gebaut, die erst Byzanz genannt wurde, dann Konstantinopel und heute Istanbul.
Die Hagia Sophia ist 1468 Jahre alt. Aber wie alt ist das Loch? Hat sich dieses merkwürdige, unheimliche, wunderbare Loch, welches sich in einer der Säulen im Innenraum befindet, von allein in den Marmor gefressen, oder ist der kalte, glatte Naturstein von all den steinerweichenden Klagen, die er im Laufe der Zeit mit anhören musste, innerlich geschmolzen?
Das Loch in der Marmorsäule ist mit einer Messingplatte abgedeckt, so wie ein OP-Tuch über einer Wunde liegt und nur die zu behandelnde Stelle den Blicken freigibt. Das Messing am Rande des steinernen Loches ist uneben und zerfetzt, und man würde sich die Finger daran blutig schneiden, wenn das Metall nicht schon derart abgegriffen wäre – von den Händen der Menschen in den letzten fünfzig, hundert und tausendvierhundert Jahren?
Schaut man hinein, ist da ein kleines, harmloses Löchlein, nur so groß wie das Innere eines Fingerhuts. Das Tageslicht versichert: Das Loch ist nicht tiefer, als ein Fingerhut lang ist. Wer ein reines Gewissen hat, kein Mörder und keine Ehebrecherin ist, kann seinen Finger hineinstecken, ohne dass die Marmorsäule ihn festhält und nie wieder freigibt.
Ich besuchte die Hagia Sophia mit meinem Mann und meinem Schwager vor einigen Jahren. Wir standen innen in der Halle und betrachteten die Säule mit der zerfressenen Messingplatte.
Mein Schwager war weder ein Mörder, noch fürchtete er sich, und so steckte er seinen Finger hinein. Seinen Mittelfinger, so weit es nur möglich war. Und er behauptete, es waberte da drinnen, wäre weich und sogar warm, und wenn sein Finger noch länger wäre, ginge er immer noch rein. Breitbeinig stand er vor der Säule und stemmte seine Hand gegen den Marmor. Als er zurücktrat, schien das Tageslicht wieder auf ein Loch, das so lang wie ein Fingerhut war. Ich starrte hinein, aber es war wirklich so: Das Loch war ganz klein, und vorher hatte ein ganzer Finger hineingepasst. Ich habe bis heute keine logische Erklärung dafür gefunden.