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Das Loch
Noch eine Sprosse.
Noch eine Sprosse.
Ihre klammen Finger umschlossen die hölzerne Leiter.
Noch eine Sprosse.
Mit den Knien an der lehmigen Wand, wagte sie einen Blick nach oben.
Ein Fehler. Aller Mut verließ sie - wenn es denn überhaupt Mut gewesen war, der sie nochmals diese Leiter hinaufgetrieben hatte - als sie den dunklen Umriss am Rande des Loches hocken sah. Die Leiter begann zu schwanken. Nein. Das Rütteln wurde stärker, schon spürte sie ihre Füße vom nassen Holz gleiten.
Nein, bitte.
Kein Halt mehr unter ihren Füßen. Hart schlug ihr Unterkiefer auf die nachfolgende Sprosse auf. Die Splitter, die sich trotz des fortgeschrittenen Verwesungszustandes der Leiter in ihre Handflächen gruben, waren unbedeutend gegen den Schmerz der Enttäuschung, der heiß durch ihren Leib zuckte.
Ein letztes Rütteln machten ihren Sturz endgültig.
All die mühsam erklommenen Sprossen rauschten an ihr vorbei, als sie zurück in die feuchte Kälte des Loches fiel.
Wie oft hatten sie dieses Spiel nun schon gespielt?
Beinahe nebenbei realisierte sie das dumpfe Geräusch, das ihr Körper beim Aufschlag auf den inzwischen flach getretenen Boden verursachte.
Was bedeutete schon dieser kurze Schmerz, wo all ihre Glieder im Rhythmus ihres kraftlosen Herzens pochten.
Sie hatte gelernt, es zu ignorieren. Erschöpft schloss sie die Augen.
Der unruhige Dämmerzustand in den sie verfiel, konnte man kaum als Schlaf bezeichnen. Was sie weckte, war der Geschmack von Erde in ihrem Mund. Sie versuchte die Augen zu öffnen.
Dunkelheit. Was... sie hob den Kopf, mühsam, zu mühsam. Ihre Beine spürte sie nicht mehr.
Sie wollte schreien, doch noch mehr kühle, feuchte Erde drängte zwischen ihre Zähne, sobald sie einen Versuch dazu unternahm.
Was tut er? Sie begann sich zu winden. Die Muskeln in ihren Beinen krampften sich schmerzhaft zusammen, doch wenigstens waren sie noch da. Sie grub die Fersen in den lehmigen Boden, stemmte sich dagegen, bäumte sich auf. Der Sand zwischen ihren Zähnen knirschte hässlich. Mit einer Drehung ihres Körper entkam sie der klammen Enge. Hustend spie sie Sand und Speichel auf den Boden.
Eine weitere Ladung Erde traf sie am Rücken, warf sie wieder auf den kalten Grund.
"Ich bin noch nicht tot!"
Sie schrie mit dem Gesicht auf die kurz und hart aus dem Boden aufragenden Wurzeln gepresst. Es gelang ihr sich auf den Rücken zu drehen, und noch einmal kreischte sie, diesmal dem Ausschnitt Himmel entgegen, den sie seit ein paar Tagen ihr eigen nannte: "Ich bin noch nicht tot, du Arschloch". Ihre Stimme hatte den überschnappenden Klang der Hysterie, rau brannten die Schreie in ihrer wunden Kehle.
Weiterer Sand folgte nicht von oben.
Sie ließ sich an die modrige Wand sinken. Ihr Atem ging keuchend, zeichnete kleine Wölkchen in die Luft. Sie atmete seufzend ein und fuhr mit dem Arm über ihre Stirn. Trotz der Kälte war sie schweißgebadet. Ihre zerfetzte Kleidung bot kaum Schutz vor der Feuchtigkeit, die in alle Poren ihres Körper kroch und sich dort breit machte wie der Geruch der Fäulnis sich in ihrem Kopf.
Die Wände schienen ihn abzusondern, seit es angefangen hatte zu regnen.
Erst hatte sie befürchtet - oder gehofft? - das Loch könnte vollaufen, doch die Erde hatte alles Wasser in sich aufgesogen und schien es nun mit üblem Atem wieder auszudünsten.
Achtlos fischte sie eine Spinne aus ihren Haaren. Ihre Finger blieben in einer der nassen Strähnen hängen. Als sie mit nur wenig Kraft daran zog, löste sie sich ganz und blieb zwischen ihren Fingern hängen. Ein leiser Laut des Schreckens und des Ekels entfuhr ihr. Angewidert streifte sie das Büschel von ihrer Hand. Es war mit Schweiß und Erde verklebt und hatte wenig Ähnlichkeit mit dem blonden Haar, das sonst leicht gelockt bis auf ihre Schultern fiel. Sie warf es von sich. Dann zog sie die Knie hoch, umschlang sie mit den Armen. In dieser Position verharrte sie einige Zeit.
Ihre Gedanken kreisten nicht mehr um die Leiter. Sie träumte nicht von ihr, als sie schließlich in der Morgendämmerung in den dumpfen Schlaf der Erschöpfung fiel.
Hell war es, als sie ihre Augen wieder öffnete. So hell, wie es in dem Loch eben wurde. Die Sonnenstrahlen krochen meist nur bis zur Hälfte des Schachts. Zeichneten dort einen Ring, die Grenze zwischen Dämmerlicht und Helligkeit. Zu dieser Grenze wanderte ihr Blick als erstes am Morgen des zwölften Tages. War sie gestern bis dorthin gekommen? Nein, weiter, höher – oder?
Sie stütze sich mit beiden Händen an die Wand, als sie sich aufrichtete. Sie streckte sich. Ein schmerzhafter Prozess. Fast schien es ihr unmöglich, ihre Arme richtig auszustrecken. Die Muskeln ihrer Beine krampften wieder, sie sackte kurz zusammen, fing sich, stand erneut. Das wütende Zucken ihres Magens bemerkte sie nicht einmal mehr. Sie hatte oft erbrochen, in den ersten Tagen ohne Nahrung. Das war nun vorbei, was blieb war das dumpfe Bewusstsein, das da etwas war. Eine Notwendigkeit, die erfüllt werden musste.
Sie stapfte ein paar Schritte an der Wand entlang.
Schon nach kurzer Strecke beschrieb sie somit einen Kreis, das rund ausgeschachtete Loch war nicht besonders breit.
Sie sank auf die Knie. Die Nässe zog allerlei Ungeziefer an, so musste sie nicht lange graben, bis sie auf ein Nest von Asseln stieß.
Der leicht säuerliche Geschmack von Chitin fühlte ihren Mund, nicht ihren Magen, aber es musste genügen.
Auf dem Rücken ausgestreckt bezeichnete sie fast den Durchmesser des Loches. Sie betrachtete nicht den Himmel, ihre Augen ruhten auf dem ausgefransten Rand des Loches, der sich dunkel gegen das azurblau abzeichnete. An einer Stelle war der Kreis unterbrochen. Das Ende der Leiter ragte über ihn hinaus, zwei schwarze Striche gegen den Vormittagshimmel.
Dieses Bild blieb in ihrem Kopf hängen, sie sah es noch als ihre Lider schon wieder schwer über ihre Augen gesunken waren.
Ein lauter Aufschlag dicht neben ihrem Kopf und sie wusste, dass es Mittag war. Gierig schlossen sich ihre Hände um das kühle Plastik, sie zitterten so sehr, dass sie Mühe hat den Deckel von der Wasserflasche zu schrauben.
Feiner Sand und der bitter-süße Geschmack ihres Blutes, sicherlich auch ein paar Teile des faulenden Zahnfleisches wurden in ihren Rachen gespült. Sie würgte, brachte einiges davon wieder hervor. Dann setzte sie erneut zum Trinken an, diesmal genoss sie das kalte Wasser. Es schien nicht nur ihren wunden Hals, sondern auch das Pochen in ihrem Kopf, sogar ihre Gedanken, zu beruhigen.
Anfangs hatte sie sie verschmäht, diese gnadenvollen Gaben der Grausamkeit. Er unterließ es dann, ihr Wasser hinabzuwerfen. Einen Tag gerade hielt sie sich einigermaßen bei Verstand. Sie hatte ja nicht geahnt, was Durst ist. Dann versuchte sie in ihrer Verzweiflung das Wasser zu trinken, dass sich an einigen Stellen auf dem Boden gesammelt hatte.
Es war furchtbar gewesen. Übelriechend und brackig, vermischt mit Lehm und anderen Substanzen, die ihm den Geschmack von Moder und Verwesung gaben.
Es brachte ihr nur Übelkeit und Fieber, bis sie um Wasser winselte und er zu seiner täglichen Routine zurückkehrte.
Auch war sie davon abgekommen, sich mit dem Wasser zu waschen.
Sie roch ihn nicht mehr, den penetranten Geruch von Schweiß und verbrauchten Adrenalin, der sie zu Beginn vor Ekel geschüttelt hatte. Sie nahm auch den Geruch nicht mehr wahr, der aus der Ecke drang, in der sie ihren Kot vergrub. Ihr Gehirn blendete diese Tatsache aus, obwohl sie sie in den ersten Tagen mehr als nur beschäftigt hatte.
Die nächsten Tage verbrachte sie in dieser teilnahmslosen Lethargie. Sie trank, wenn sie Wasser hatte, sie grub mechanisch mindestens einmal am Tag nach ihren kargen Mahlzeiten. Manchmal schaute er ihr zu. Er ließ die Beine über den Rand baumeln, das Kinn in die
Hand gestützt. Manchmal richtete sie einen hoffnungsvollen Blick auf ihn, meistens ignorierte sie seine Anwesenheit. Sie sprach ihn nicht an.
Tagelang hatte sie ihn angeschrieen, angefleht. Sich stundenlang ihr Elend aus dem Leib gebrüllt. Ihre schmerzende Kehle, die auch jetzt noch manchmal zu bluten anfing, belehrte sie, sich nicht mehr solchen Gefühlsausbrüchen hinzugeben.
Seine Stimme hatte sie noch nie gehört.
Am vierten Tag nach ihrem letzten Sturz fingen ihre Lebensgeister wieder an sich zu regen. Dies äußerte sich nicht in gesteigerter Aktivität, zumindest nicht körperlicher Art. Bei dem Sturz hatte sie doch größeren Schaden genommen, als es zuerst den Anschein hatte. Ihr geschwächter Körper war nicht mehr in der Lage die Wunden, die ihm zugefügt wurden, zu schließen. Sie hatte sich nicht die Mühe gemacht, die Splitter aus ihren Handflächen zu entfernen, so warf die Haut dort nun Eiterblasen und brannte bei jeder Beanspruchung.
Ihr Rücken hatte sich seit einem sehr tiefen Sturz, beinahe vom Ende der Leiter, nie richtig erholt und der erneute Schlag schien ihn endgültig hingerichtet zu haben. Da sie die meiste Zeit kniend oder krabbelnd auf dem Boden verbrachte, fiel dies nicht so ins Gewicht. Nur wenn sie sich mal erhob oder versuchte, gerade ausgestreckt zu liegen, bemerkte sie den stechenden Schmerz zwischen den Wirbeln.
Doch aktiver war sie, die Gedanken in ihrem Kopf formten sich wieder zu sinnvollen Zusammenhängen. Brachten Träume hervor, Gefühle – und auch wieder Wünsche.
War es denn nicht vielleicht doch möglich? Er schlief doch sicher irgendwann einmal. Aber sie hatte es ja schon zu jeder Tages- und Nachtzeit probiert.
Wirklich zu jeder?
Wie wäre es, kurz nachdem er sie noch unten gesehen hat? Nachdem er die Flasche hinuntergeworfen hat, zum Beispiel.
Hoffnung kann man es nicht nennen, was sie in diesen Gedankenspielen bewegte. Es war zu aussichtslos. Wie oft war sie nun schon von ihm wieder hinuntergestürzt worden.
Oder war es vielleicht doch Hoffnung? Eine völlig irrationale, die dort aufkeimte. Keimte, wuchs, im ewig dunklen, feuchten Klima des Loches.
Sie fing an, es sich vorzustellen.
Die Tatsache verleugnend, dass sie nicht einmal laufen konnte, saß sie und wartete auf das Zeichen. Es kam, beziehungsweise es fiel. Die Flasche schlug vor ihr auf, rollte ein Stück von ihr weg und blieb liegen.
Sie hielt den Atem an, als erwarte sie, seine sich entfernenden Schritte zu hören. Doch es drang nie ein Laut von oben zu ihr herab. Die Geräusche, die die feuchte Erde nicht aufsog schienen von der immerwährenden Dunkelheit geschluckt zu werden.
Was sie trieb, war der Mut der Verzweiflung, wie man so sagt, aber auch dieser Mut war nicht stark genug über ihre körperliche Gebrechlichkeit hinwegzutäuschen.
Auf allen vieren nährte sie sich der Leiter.
Die erste Sprosse.
Ihre Hände umschlossen das Holz. Wellen von Schmerz schüttelten ihren ausgemergelten Körper. Sie zog sich hoch, doch ihr Griff war durch das Gemisch von Blut und Eiter, dass sich zwischen ihren Handflächen und dem Holz vermengte, so gelockert, dass sie abrutschte und wieder in ihre sitzende Position zurücksank.
Minutenlang passierte nichts.
Dann raffte sie sich wieder auf, noch einmal griff sie zu, noch einmal Schmerz, noch einmal Anstrengung, die über ihre geringen Kräfte hinausging.
Doch sie stand. Hob den Fuß, erklomm sie erste Sprosse.
Noch eine Sprosse.
Ihr Körper drohte zu kippen, ihre Hände konnten der Last nicht standhalten. Rutschten wieder, eine Spur aus weißrötlichen Schlieren hinterlassend an der Leiter hinab.
Sie presste sich an die Wand, verbiss mit letzter Kraft ihre Zähne in dem weichen Holz. Einige brachen unter dem Druck, doch es hielt sie in der Senkrechten.
Endlose Minuten erfüllte nur ihr Keuchen das Loch.
Dann griff sie wieder höher, löste ihren schmerzenden Kiefer und hob den Kopf.
Sie schaute ihm direkt in die Augen, doch sein Gesicht war nur ein undeutlicher Schatten, als sie rücklings von der Leiter fiel.
Von dem stechenden Schmerz in ihrem Rücken zur Unbeweglichkeit verdammt, blickte sie in den rötlichen Himmel. Ein Tausendfüßler durchstrich ihr Haar, ließ sie an Wind und offene Felder denken.
Sie lächelte bei dem Gedanken, bevor sie sich auf die Seite quälte und ihn zum Frühstück aß.