Das Mädchen aus dem Fünften
Erschöpft strich er eine Haarsträhne aus seinem Gesicht. Der letzte Umzugskarton war ausgepackt und damit war Maik endlich eingezogen. Er schaute sich in seiner neuen im dritten Stock Wohnung um. Besonders geräumig war sie nicht, aber die Miete war günstig und die Wohnung gut in Stand gehalten.
Die untergehende Sonne tauchte die weiße Wand des Wohnzimmers in ein sanftes rot. Maik blickte zu seinem Computer und schüttelte dann den Kopf. „Heute nicht.“
Er ging in die Küche und nahm sich eine Flasche Bier aus dem Kühlschrank. Zurück im Wohnzimmer machte er es sich auf dem Sofa bequem und öffnete die Flasche mit einem Feuerzeug. Dann schaltete er den Fernseher an und nahm einen Schluck.
Es lief eine Talkshow. Ein Mädchen beklagte den Verlust ihres Freundes und forderte ihn zurück. Maik verdrehte die Augen. „Weiber! Wenn sie dein Herz erstmal zertreten haben, würden sie gerne alles tun, um es rückgängig zu machen.“
Er verblieb auf seinem Sofa und trank noch zwei weitere Flaschen Bier, bis es plötzlich an der Tür klopfte. Maik blendete die Uhr im Fernseher ein. 0:13 Uhr! „Fängt ja gut an mit meiner Ruhe hier…“, murmelte er und erhob sich seufzend. Erst als er zur Tür ging fiel ihm auf, wie viel er schon getrunken hatte. Das Klopfen wiederholte sich. „Bin ja unterwegs, man!“
Verstimmt öffnete er die Tür. Er hatte nicht damit gerechnet, was er sah. Vor seiner Tür stand eine junge Frau, etwa 25 Jahre alt, schlank, blonde lange Haare, strahlend blaue Augen und mit einem Bademantel bekleidet.
Sie lächelte verlegen. „Entschuldigen sie bitte die späte Störung, Herr Neumann…“, begann sie. Maik wurde bewusst, dass er sie anstarrte und sein Mund offen stand. Ebenfalls verlegen schüttelte er den Kopf. „Das … öhh… ist schon O.K. Ich… also… ich war sowieso noch wach.“, brachte er stammelnd hervor. Sie lächelte. So müssen Engel lächeln, dachte Maik verträumt. „Was sagten sie?“, fragte die Fremde. Hatte er das laut gesagt? „Ich… öhh… nichts. Was kann ich für sie tun?“
„Ich hatte vorhin meine Post vergessen und wollte sie holen. Dabei habe ich mich leider ausgesperrt.“
„Achso“, begann Maik. „Soll ich ihren Mann anrufen, dass er ihnen wieder aufmacht?“ Noch bevor er die Frage beendet hatte, schallte er sich einen Narren. Wenn sie verheiratet wäre, könnte sie auch klopfen! Idiot!
„Ich… bin nicht verheiratet. Nicht mehr …“, antwortete sie. „Könnte ich vielleicht von ihrem Apparat den Hausverwalter anrufen? Der müsste einen Generalschlüssel haben.“
Du starrst sie schon wieder an, meldete sich eine Stimme in Maiks Kopf. Eilig trat er zur Seite und machte eine einladende Geste. „Selbstverständlich. Kommen sie herein.“
Sie lächelte engelsgleich. „Vielen Dank.“, entgegnete sie und trat ein. Maik ging voraus. „Der Apparat steht im Wohnzimmer. Kommen sie, Frau…?“
„Oh, Verzeihung. Wie unhöflich von mir. Mein Name ist Waldera. Aber sie dürfen mich auch gerne Linda nennen.“ Er hielt ihr höflich die Hand hin und kam sich gleichzeitig schonwieder wie ein Idiot vor. „Freut mich! Dann bin ich Maik.“ Sie lächelte. „Freut mich ebenfalls, Maik.“
Er starrte sie wieder an und lächelte verträumt. Sie erwiderte seinen Blick. „Ähh… wo steht das Telefon?“, sagte sie diesmal eilig. Maik zuckte zusammen. „Äh, hier.“ Er deutete auf das Telefon auf seinem Schreibtisch. Linda ging zum Telefon und wählte die Nummer des Hausverwalters. Maik schaute ein wenig erstaunt. Sie bemerkte seinen Blick und erklärte: „Ich kenne die Nummer mittlerweile auswendig. Ich sperre mich andauernd … Ja, guten Abend Herr Mönch, hier spricht Linda. Ja, ich habe mich schon wieder ausgesperrt.“
Maik setzte sich auf die Lehne seines Sessels und schaute Linda von oben bis unten an. Wie wunderschön sie ist… und nicht einmal verheiratet! Aber wahrscheinlich bemerkt sie Geeks wie mich überhaupt nicht. Linda Waldera, allein der Name ist Musik in vollendeter Harmonie.
Piep! Linda hatte aufgelegt. „Na toll! Sein Auto ist kaputt und darum braucht er etwa ein halbe Stunde, bis er hier ist. Naja, ich werde im Treppenhaus auf ihn warten.“, sie schickte sich an zu gehen. Eilig sprang Maik auf. „Das ist doch Blödsinn! Du kannst natürlich hier warten, wenn du möchtest. Das Treppenhaus ist sau kalt. Da holst du dir in diesem Aufzug ja den Tod.“
Der blonde Engel strahlte, woraufhin eine Turbine in Maiks Brust startete. „Das ist wirklich zu nett von dir. Ich möchte dich aber nicht um deinen Schlaf bringen.“ Das hast du schon, mein Engel, dachte er. „Ach was! Ich schlafe sowieso schlecht ein und würde mir bis vier Uhr irgendwelche schlechten Werbespots und Sportclips reinziehen. Da ist mir angenehme Gesellschaft wirklich lieber.“ Sie nickte und setzte sich in den Sessel. „Wenn das so ist. Die schlechtesten Werbespot laufen jetzt auf DSF.“ Sie schaute zu Maik hoch und zwinkerte. Schmunzelnd verschwand er in der Küche und brachte zwei Flaschen Bier und ein Glas mit. Er stellte eine Flasche und das Glas vor ihr ab und setzte sich ebenfalls. Sie schaute ihn irritiert an. „Wer seinen Gast fragt, ob er etwas trinken möchte, der teilt nicht gerne. Das sagt meine Mutter jedenfalls immer.“ Sie zog lächelnd die Augenbrauen hoch. „So hab ich das auch noch nie gehört.“ Sie goss ein. „Also worauf stoßen wir an?“ Maik überlegte kurz. „Auf Engel.“ „Engel?“ „Ja. Auf Engel, Glück und fleißige Hausverwalter.“ Sie stimmte lachend zu und stoß an.
Der Hausverwalter ließ sich tatsächlich mehr Zeit, als angekündigt. Maik und Linda überbrückten die Zeit mit Anekdoten, Scherzen und tiefgründigen Gesprächen. Nach etwa anderthalb Stunden klopfte es an Maiks Tür. „Das muss Herr Mönch sein. Das wurde aber auch Zeit.“ Maik scherzte weiter. „War dir meine Gesellschaft etwa so unangenehm?“ Linda schüttelte den Kopf. „Keineswegs! Aber was soll ich meinem Freund sagen, wenn er fragt, warum ich nicht ans Telefon gehe, und ich ihm sagen muss, dass ich in Nachthemd und Bademantel bei meinem Nachbar sitze und Bier trinke?“
Schlagartig hörte die arbeitsame Turbine in Maiks Brust auf zu rotieren und explodierte. Was sie zurückließ, war ein großes schwarzes Loch voller Enttäuschung und Herzschmerz. „Da hast du natürlich recht.“ Wieder klopfte es an der Tür. Maik stand auf und Linda wollte folgen, taumelte jedoch stark und wäre beinahe umgefallen. Maik schlang schnell seinen Arm um ihre Hüfte und zog sie zu sich heran. „Na hoppla!“, sagte Linda. „Fall mir nicht um“, sagte Maik. Sie schaute ihm tief in die Augen. Er erwiderte ihren Blick. Ihre Augen waren klar wie ein geschliffener Saphir, wie ein Meer voller Leidenschaft, tief wie der Ozean. Er versank in den Tiefen von Verlangen und Begierde. Aber das Loch in seiner Brust schmerzte und holte ihn mit der Wucht eines Vorschlaghammers zurück in die Wirklichkeit. „Wir sollten zur Tür gehen.“, sagte er verhalten und ließ sie los.
Vor der Tür angekommen, drehte Linda sich um. „Nun… vielen Dank für deine Gastfreundschaft. Wir sollten das wiederholen!“, sagte Linda. Maik schüttelte den Kopf. „Ich denke nicht, dass das deinem Freund gefallen wird.“ Das Loch schien weiter aufzureißen und der Schmerz wurde beinahe un-erträglich für ihn. Ganz überraschend schlang Linda ihre Arme um ihn und küsste ihn leidenschaftlich auf den Mund. Maik wusste überhaupt nicht, wie ihm geschah und ließ sie einfach gewähren. Die Turbine war wieder da und dröhnte jetzt stärker als zuvor. Sie beendete den Kuss, hielt ihre Umarmung jedoch aufrecht und hauchte ihm ins Ohr: „Ich habe gar keinen.“ Dann löste sie sich von ihm. „Morgen um acht?“ Er stand völlig neben sich und nickte abwesend. Mit einem Lächeln verabschiedete sie sich und schloss die Tür hinter sich.
Maik wachte am nächsten Tag bereits früh auf. Benommen setzte er sich auf und warf einen Blick auf seinen Wecker. 8:11 Uhr. Er rieb sich die Augen und stand auf. Er hatte einen seltsamen Traum. Er sah seine Wohnungstür. Er wollte sie öffnen, doch sie war verschlossen. Er klingelte, doch es öffnete niemand. Er klopfte, doch es rührte sich nichts. Dann bekam er Angst. Eine komische Mischung aus Sorge und blankem Schrecken. Er schlug gegen die Tür, trat dagegen. Als die Tür sich einen Spalt öffnete, wachte er auf.
Er schüttelte den Kopf, zog sich an und ging in die Küche, um sich einen Kaffee zu kochen. Nach einer Tasse Kaffee und einer Zigarette startete er seinen Computer und begann zu arbeiten. Er war Programmierer. Der Tag zog an ihm vorbei, wie so viele andere auch. Als er aufblickte, war er nicht einmal verwundert, dass die untergehende Sonne erneut seine Wand rot färbte. Sein Magen meldete sich zu Wort, woraufhin er seinen PC abschaltete und sich in der Küche was zu essen machte. Als er die Nudeln gerade ins siedende Wasser gab, dachte er an den vorigen Abend, oder eher: an vorige Nacht. Hatte er das alles auch geträumt? War Linda gar nicht bei ihm gewesen? Hatten Alkohol und Erschöpfung nur ein verrücktes Szenario erschaffen, was sein Gehirn nun als Erinnerung verbucht?
Er aß seine Nudeln mit Tomatensoße und schaltete dabei den Fernseher an. Die Simpsons liefen.
Nach seiner Verdauungszigarette stand er auf, brachte den Teller in die Küche und ging ins Badezimmer. Er putzte sich die Zähne und ließ die Dusche warm laufen. Nach der Dusche rasierte er sich und legte noch etwas Aftershave auf. Er wusste weder, was er tat, noch warum er es tat. Er hatte sein Hirn ausgeschaltet und ließ einfach geschehen, was sein Körper tun wollte.
Frisch und wohl duftend setzte er sich wieder vor den Fernseher. Er blendete die Uhr ein. 19:57 Uhr. Die Turbine in seiner Brust nahm ihre Arbeit schleppend wieder auf. „Du hast nur geträumt, Alter.“, sagte er sich. Er zuckte arg zusammen, als es an der Tür klopfte. Die Turbine hatte im Bruchteil einer Sekunde von null auf hundert beschleunigt. Er begab sich zur Tür. Zitternd streckte er die Hand nach der Klinke aus.
Als er die Tür öffnete, stand Linda vor ihm. Sie trug eine enge Jeans und ein enges Top. Auf ihrer üppigen Brust prangte ein großes rosafarbenes Herz. In ihrer Hand hielt sie ein Sechserpack Bier. „Na Schatz, wie war dein Tag?“, begrüßte sie ihn. Maik konnte nur lächeln. Sie hauchte ihm einen Kuss auf die Lippen und ging ins Wohnzimmer. Maik schloss die Tür. Kein Traum, kein Traum! Er musste sich dieses Mantra immer wieder sagen, während er Linda ins Wohnzimmer folgte.
Sie schauten einen Film, doch war dieser eher Nebensache. Sie unterhielten sich den ganzen Abend, streichelten und küssten sich und genossen ihre keimende Liebe.
Linda arbeitete in einer Werbeagentur und wohnt oben im fünften Stock seit etwa zwei Jahren. „Du wohnst im fünften Stock?“, fragte Maik. Sie nickte. „Wieso kommst du dann runter in den dritten Stock, um zu telefonieren? Also: Warum gerade ich?“ Sie zuckte mit den Achseln. „Deine war die einzige Wohnung, wo ich noch Licht unter der Tür sehen konnte. Ich wollte ja niemanden wecken.“ Er nickte einsichtig.
Maik redete über sein Leben, welches zugegebenermaßen bisher nicht sonderlich spannend war. Er hatte mit neunzehn sein Abitur gemacht und danach angefangen, Informatik zu studieren. Das Studium lief allerdings nicht sonderlich gut und er brach es ab. Er jobbte mal hier, mal da. Über einen Bekannten aus dem Internet kam er an Kontakte, die ihn dafür bezahlen, dass er kleinere Programmfragmente schreibt. Damit verdient er jetzt sein Geld. Er ist umgezogen, weil die andere Wohnung zu teuer war.
„Was hältst du davon, wenn wir morgen mal rausfahren? Morgen ist Sonntag und wir könnten ins Blaue fahren?“, schlug Linda gegen Ende ihres Besuches vor. Maik stimmte zu und sie vereinbarten eine Zeit für den folgenden Tag. „Ich hole dich ab.“, versprach Linda.
Nachdem sie gegangen war, räumte Maik noch etwas auf, schaltete den Fernseher, auf welchem nur noch schlechte Werbespots liefen, ab und ging ins Bett.
Der Traum kehrte zurück …
Am nächsten Tag fuhren sie mit dem Bus aus der Stadt raus und gingen spazieren. Unter einer alten Eiche beschlossen sie ein Picknick zu machen.
Fortan traf sich das Paar jeden Tag. Sie gingen miteinander ins Kino, in den Zoo, ins Restaurant, in die Eishalle und ins Schwimmbad. Sie schwelgten in ihrer Liebe, suhlten sich in ihr. Sie atmeten Leidenschaft ein und Begierde aus, tranken Verlangen und aßen Verbundenheit, blendeten die Zeit aus, in welcher dieses Paradies enden würde.
Nach ihrem vierten Treffen schliefen sie miteinander. Maik hatte sein Schlafzimmer in ein Meer aus Kerzen verwandelt. Wie das Feuer der Kerzen, brannte auch der Wunsch in ihm, eins zu werden mit der Krone göttlicher Schöpfung. Er führte sie mit verbundenen Augen hinein. Als er ihr das Augenlicht wiedergab, schlug sie Hände vor dem Mund. Ihre Augen strahlten heller als es jeder Stern oder gar die Sonne je vermocht hätte. Er nahm ihre Hände mit sanfter Gewalt von ihrem Gesicht. „Lippen wie diese darfst du nie verstecken.“ Er küsste sie leidenschaftlich und wild.
Sie schliefen ineinander verschlungen ein, jeder mit dem Gefühl im Herzen, das höchste Glück auf Erden erreicht zu haben. „Wenn die Welt jetzt unterginge, würde Trauer keinen Platz in mir finden, denn schöner als dieser Augenblick kann auch das Paradies nicht sein.“, flüsterte Maik andächtig in den Kerzenschein und schlief ein. Am nächsten Morgen war Linda verschwunden. Nur ihr Duft zeugte davon, dass sie die letzte Nacht zusammen verbracht hatten.
Die Tage gingen vorüber und es gab nicht einen Tag, an welchem sie sich nicht sahen oder nicht vermissten. Maik erkannte Linda sogar schon am Klopfen an der Tür, denn sie trafen sich stets bei ihm. „Willst du mir nicht mal zeigen, wie du oben wohnst?“, fragte Maik einmal. Linda wich ihm aus. „Ein anderes Mal. Ich habe nicht aufgeräumt.“
Eines Tages klopfte es an Maiks Tür. Am Klopfen erkannte er, dass es sich nicht um Linda handelte. Er öffnete die Tür. Vor ihm stand Herr Mönch mit einem anderen Mann. „Guten Tag, Herr Neumann. Entschuldigen sie bitte die Störung, aber wir müssten ihren Gaszähler kurz ablesen.“
Maik machte eine einladende Geste. „Gar kein Problem. Kommen sie doch herein. Kann ich ihnen etwas anbieten? Einen Kaffee vielleicht?“ Die beiden Besucher schauten ziemlich verdutzt rein. „Ich nehme einen.“, sagte der Mann von der Energiefirma. „Sie sind ja gut gelaunt. Ihnen scheint die Sonne ja förmlich aus dem Arsch“, sagte Herr Mönch lachend. Maik grinste. „Die Liebe macht’s möglich.“
Er brachte dem Heizungsmann eine Tasse Kaffee und reichte auch Herrn Mönch eine Tasse. „Ich möchte ihnen ja nicht zu nahe treten, aber darf man fragen, wer die Glückliche ist?“
„Natürlich. Sie kennen sie sogar. Es ist Linda Waldera.“ Herr Mönch legte die Stirn in Falten. „Linda Waldera? Hm… der Name sagt nun überhaupt nichts.“ Maik nahm einen Schluck Kaffee. „Doch, natürlich! Sie wohnt oben im Fünften!“ Der Hausverwalter stellte seine Tasse ab. „Die Wohnung im fünften ist zurzeit nicht vermietet, Herr Neumann.“ Das Lächeln verschwand aus Maiks Gesicht. „Da müssen sie sich irren. Sie hat blondes Haar, eine Figur wie ein Model, strahlend blaue Augen…“ Sein Gegenüber nickte. „Ich kenne … oder … ich kannte jemanden, der im fünften Stock wohnte, auf den diese Beschreibung passt. Aber ihr Name war Weyer. Laura Weyer.“ Maik schüttelte ungläubig den Kopf. „Meine Freundin heißt aber Linda. Und… warum sprechen sie in der Vergangenheit?“
„Nun“, druckste Mönch herum. „Die Sache ist ein wenig … heikel. Die Wohnung war zwei Jahre lang vermietet. Ein junges Ehepaar wohnte dort. Wirklich nette Leute! Der Mann war, glaub ich, Bänker und die Frau arbeitete wohl irgendwie in der Werbung. Aber sie hätte es tatsächlich auch als Model weit gebracht. Sie war wirklich bildhübsch. Wie ein Engel.“ Ein kalter Schauer lief Maik die Wirbelsäule hinunter. Er hatte seine Tasse von sich weg geschoben. „Reden sie weiter.“
„Naja, man munkelt, dass ihr Mann die Frau betrogen hat. Er hatte es mit einer anderen in ihrem Ehebett getrieben und es wohl nicht mal für nötig gehalten, die Spuren zu beseitigen. Seine Frau kam ihm logischerweise schnell auf die Schliche und wollte ihn sofort verlassen, doch er wollte sie nicht gehen lassen. Als sie gerade zur Tür hinaus wollte, packte er sie und warf sie gegen einen Schuhschrank. Er schloss die Tür ab und ging ins Wohnzimmer. Tat so, als ob nichts gewesen wäre. Laura kam zu sich und ging in die Küche. Sie nahm das Messer und stach ihren Mann ab. Mit zwanzig Stichen hatte sie ihm zugesetzt. Der Mann hatte so geschrien, dass die Nachbarn es mitbekamen und an die Tür klopften. Doch es machte keiner auf. Laura ging ins Badezimmer, ungeachtet der Rufe und des Klopfens und schnitt sich die Pulsschlagader an beiden Händen auf. Als der Tod nicht schnell genug eintrat, bekam sie Panik und rannte schreiend durch die ganze Wohnung. Man vermutet, sie hat den Wohnungsschlüssel gesucht. Dabei hat sie ihr Blut in der ganzen Wohnung verteilt. Ich habe es bisher nicht geschafft, die Wohnung renovieren zu lassen. Es ist auch eine Frage des Geldes und…“ „Wie ging die Geschichte aus?“, unterbrach Maik den Mann. „Sie fand den Schlüssel und entriegelte die Tür. Als sie gerade die Klinke hinunter drückte, brach sie tot zusammen. Sie war verblutet.“ Maik hielt sich die Hand vor den Mund. „Aber das kann unmöglich meine Freundin sein. Ich war doch gestern noch mit ihr zusammen!“ „Die Tragödie ereignete sich am 25.3. Haben sie zufällig eine Zeitung von diesem Tag im Hause? Ich kann mich erinnern, dass da Bilder der beiden Verstorbenen abgedruckt waren. Wir können sie ja vergleichen.“ Maik schüttelte den Kopf. „Eine Zeitung habe ich nicht. Aber wenn sie mir sagen, in welcher Zeitung der Artikel stand, dann kann ich im Internet mal suchen.“ Der Hausverwalter teilte ihm den Namen der Zeitung mit und folgte ihm ins Wohnzimmer zum Computer. Es dauerte nicht lange, da hatte Maik den Artikel gefunden. „Da! Das ist Laura Weyer und ihr Ehemann. Sieht sie ihrer Freundin ähnlich?“ Maik wurde kreidebleich. Sein Magen drehte sich wie eine Zentrifuge. Er riss die Augen auf und schüttelte den Kopf. „Nein, die sieht ihr nicht ähnlich. Das IST meine Freundin!“ Herr Mönch schlug die Hände vors Gesicht. „Aber das ist doch nicht möglich!“ Maik schaltete den PC und stand auf. „Würden sie mich bitte alleine lassen?“ Der andere nickte. „Natürlich. Rufen sie mich an, wenn sie Hilfe brauchen, ja?“ Maik nickte und geleitete die beiden Männer zur Tür.
Maik machte eine Zigarette ein. Als er sie im Aschenbecher ausdrückte, zündete er sich direkt die Nächste an. Er wartete auf Linda. Aber sie kam nicht. Er wartete bis spät in die Nacht, aber er blieb allein. Ein ungutes Gefühl machte sich in seinem Magen breit.
Als um ein Uhr immer noch kein Klopfen zu vernehmen war, beschloss Maik ins Bett zu gehen. Er brauchte ein bisschen, aber schließlich schlief er ein.
Der Traum war wieder da. Aber diesmal anders. Er klopfte wieder vor die Tür und trat dagegen. Sie öffnete sich einen Spalt breit. Maik öffnete die Tür mit zitternden Händen. Er betrat seine Wohnung. Nein, es war nicht seine Wohnung. Sie sah nur genauso aus, wie seine, war jedoch anders möbliert. An den Wänden klebte Blut. Geradeaus konnte er ins Wohnzimmer blicken. Er sah dort einen Mann liegen. Eine große Blutlache sickerte unter ihm hervor. Seine Augen waren nur zwei blutende Wunden und auch aus seinem Mund lief Blut. Maik blickte ins Badezimmer und sah die gleiche Badewanne, die auch er in seiner Wohnung hat. Sie war randvoll gefüllt mit Blut.
Er blickte langsam nach unten. Plötzlich hörte er einen Schrei, der ihn auffahren ließ. Er saß in seinem Bett, schweißgebadet, mit pumpendem Herzen. Er sah auf die Uhr. Es war 4:22 Uhr. Er schaute sich in seinem Zimmer um. Hatte er den Schrei wirklich gehört oder nur geträumt? Er wollte aufstehen und einen Schluck Wasser trinken. Als er zur Schlafzimmertür kam, merkte er etwas Feuchtes an seinem nackten Fuß. Er schaltete das Licht an. Es war Blut!
Der Programmierer öffnete die Tür. Im Flur fand er noch mehr Blut. Es schien eine Spur zu sein. Er folgte ihr und ging aus seiner Wohnung hinaus, die Treppe rauf. Vor der Wohnung im fünften Stock, Lindas Wohnung, hörte sie auf. Er fröstelte. Er hatte sich einen Bademantel übergeworfen und Hausschuhe angezogen, aber trotzdem fühlte er sich nackt und schutzlos. Er klopfte an die Tür. Nichts. Er klopfte erneut, fester. Nichts. Oder? Atmete da jemand? Maik legte die Hände an die Tür und lauschte. Plötzlich durchschnitt ein Schrei, ein Kreischen, die Stille. Maik fuhr so zusammen, dass er stürzte. Er rappelte sich sofort auf und schlug gegen die Tür. Angst und Sorge hatte ihn gepackt. Er schlug fester und trat gegen die Tür. Plötzlich ging sie einen Spalt auf. Er trat langsam ein. Es war wieder völlig still. Kein Luftzug war zu spüren, nichts zu hören.
Die Wohnung war über und über mit Blut beschmiert. Der Traum! Geradeaus lag ein Mann, dem die Augen ausgestochen wurden, zu seiner Rechten die mit Blut gefüllte Badewanne. Zu seinen Füßen lag Linda.
Er kniete sich langsam neben sie. Sie lag auf der Seite, sie war aschfahl. Sie starrte geradeaus, doch ihre Lippen bewegten sich. Maik kam näher, hielt sein Ohr an ihren Mund, damit er verstehen konnte, was sie sagte. „Ich liebe dich.“
Als er sich aufrichtete, war sie verschwunden. Er war allein in der dunklen Wohnung im fünften Stock. Auch die Männerleiche war verschwunden, doch das Blut klebte noch immer eingetrocknet an den Wänden.
Er hat Linda nie wieder gesehen.