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Das Mädchen aus dem Park
Er sitzt am Schreibtisch und sieht aus dem Fenster. Mitte Fünfzig, ein paar graue Strähnen zieren sein dunkles Haar, für sein Alter noch eine sportliche und gute Figur und auch ein attraktives, wenig faltenreiches Gesicht. Er wirkt rundum fit, doch seine Augen erzählen eine andere Geschichte. Sie sind müde und nicht motiviert. Es ist wunderbares Wetter draußen und die Natur beginnt gerade sich zu entfalten. Der süßliche Blütenduft, den der Frühling so gerne mit sich bringt, weht durch das offene Fenster herein. Alles Dinge die ihn sonst vielleicht inspiriert hätten. Aber seit ungefähr einem Jahr fehlt ihm die Inspiration. Der Verlag macht Druck, er hat den Abgabetermin für sein Script schon drei mal verschoben und den Termin in 15 Tagen muss er einhalten, sonst erfüllt er die Vertragsbedingungen nicht. Das wäre es dann mit seinem Vertrag, kein Job mehr, kein Einkommen. Zum 10. Mal fängt er heute schon die erste Seite an um sie dann direkt wieder zu löschen. Er hat seine Muse verloren. Er weiß noch nicht mal warum, auf einmal war sie nicht mehr da. Spurlos verschwunden.
Seine Frau kommt herein und unterbricht seine Gedankengänge die doch nur in eine Richtung gingen. Nein, seine Frau war schon lange nicht mehr seine Muse, sie hatten sich längst auseinandergelebt, nur das tägliche Ritual, dass sie ihm pünktlich um 4 Uhr den Tee brachte gab es noch. Sonst nichts. Sie teilten noch nicht einmal das Bett.
Seine Gedanken schweifen wieder zu ihr, der Muse, dem Mädchen, welches er täglich im Park getroffen hat. Er lernte sie kennen, da war sie noch nicht mal 12 Jahre alt. Seine Gedanken schweifen ab, zu jenem Tag.....
Es war genau an jenem Tag vor 6 Jahren, auch wenn er das nicht mehr so genau weiß. Er saß auf der Bank im Park und schrieb. Genauer gesagt, gab er sich Mühe etwas zu schreiben, doch alles was er schrieb wurde ziemlich schnell wieder durchgestrichen. Auf einmal war da dieses Mädchen was ihm über die Schulter sah, er bemerkte sie nicht bis sie ihn ansprach und fragte, warum er alles wieder durchstreichen würde. Erstaunt erklärt er ihr, dass ihm die Ideen nicht gefallen, sie wären nicht zündend genug. Doch während er ihr das erklärte und in die strahlenden Augen sah, wusste er was er schreiben würde. Er begann zu schreiben und sie saß still neben ihm und sah ihm zu. So ging das die nächsten drei Jahre, sie kam fast jeden Tag in den Park und sah ihm zu wie er schrieb, wenn es regnete saßen sie auf der überdachten Bühne, wo an Sommerabenden oft Konzerte stattfanden. An den seltenen Tagen wo sie nicht kam, konnte er nicht schreiben, er merkte schnell wie abhängig er von dem Mädchen war. Meist saß sie einfach nur neben ihm und las, was er schrieb, selten redeten sie länger als nur ein paar Minuten und wenn er nicht weiter wusste, gab sie ihm immer neue Ideen auch wenn sie ganz neue Themen anfing. Doch irgendwann merkte er, dass sie nicht mehr die Ruhe ausstrahlte und auch nicht mehr diese selten getrübte Fröhlichkeit. Sie gab ihm immer noch dieselbe Inspiration und er vergaß - oder verdrängte es - sie nach dem Grund zu fragen.
Dann ungefähr ein Jahr später, kam sie von einen auf den anderen Tag nicht mehr. Er wartete wochenlang um dieselbe Uhrzeit im Park, doch sie erschien nicht. Er schrieb kein einziges Wort während er wartete. Es ging nicht. Ein Anruf wär die Lösung gewesen. Doch wie jemanden anrufen, dessen Namen man noch nicht einmal kennt. Er hatte jahrelang fast jeden Tag mit ihr auf der Bank gesessen und kannte noch nicht einmal ihren Vornamen. Sie war für ihn immer das Mädchen aus dem Park gewesen oder „meine Muse“ wie er sie gern genannt hatte. Und er war für sie immer „ihr Autor“ gewesen. Irgendwann gab er es auf, auf sie zu warten.
Er reist sich aus den Gedanken und beschließt in den Park zu gehen. Er holt seinen Pulli und geht los. Der Park so vertraut, die Wege die zu der Bank führen, wo sie meist gesessen hatten. Wie durch das Schicksal geführt kommt er bei der Bank an. Sie sieht aus wie immer. Er sieht sich um und – er traut seinen Augen nicht – da hinten geht sie doch – seine Muse. Er geht hinter ihr her. Will nach ihr rufen, doch er kennt ihren Namen nicht. Er fängt an zu laufen, er darf sie nicht verlieren. Sie biegt ab und er folgt ihr, ein paar Straßen weit. Das Mädchen geht auf den Friedhof. An dem Grab wo sie stehenbleibt, spricht er sie an. Sie ist es nicht. Er ist enttäuscht und doch verblüfft. Die junge Frau, Mitte 20, sieht seiner Muse sehr ähnlich. Es kann nur eine Schwester von ihr sein. Er fragt sie danach – ja sie habe eine Schwester, dort wäre sie direkt vor ihm– sein Blick folgt ihrem Fingerzeig auf das Grab. Sie erzählt ihm, dass dort ihre Schwester begraben läge und sie morgen 17 Jahre alt geworden wäre. Sie habe Leukämie gehabt und sich das Leben vor ungefähr einem Jahr genommen. Da begreift er, warum seine Muse nicht mehr kam und er bereut, dass er sie nie gefragt hat, als er bemerkt hatte, dass es ihr schlecht ging. Er dreht sich um und geht ohne ein Wort zu sagen. Tränen rinnen über sein Gesicht. Am Friedhofstor besinnt er sich und dreht um. Als er wieder zum Grab kommt, ist ihre Schwester nicht mehr da. Nur noch ein Name und ein paar Zahlen auf einem Stein und er schwört sich diesen Namen nie zu vergessen.
Zu Hause am Schreibtisch beginnt er sein letztes Buch „Wieso fragte ich nicht einmal nach ihrem Namen?“