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Das Mädchen in der Grube
Letzten Monat verschrieb mir mein Hausarzt einen Spaziergang durch den Wald, damit ich meinen Kreislauf wieder in Gang kriege. „Herr Busch, Sie sitzen zu viel im Büro vor Ihrem Rechner und in Ihrer Freizeit bewegen Sie sich viel zu wenig!“ Er gab mir einen Plan in dem einige Wanderwege der Umgebung eingezeichnet waren und meinte ich solle diese mal erkunden. Um meiner Gesundheit zu helfen, fuhr ich also am nächsten Wochenende raus um ein wenig auf der Wanderroute „Pfad des weißen Vogels“ zu wandern, die meiner Wohnung am nächsten war.
Während ich auf einer Parkbank aus einem alten Baumstamm meine Brotzeit zu mir nahm, hörte ich ein leises Wimmern aus einem Gebüsch kommend welches nicht weit von dieser Bank entfernt lag. Ich dachte es habe sich wohl ein Kätzchen verfangen oder etwas in der Art, und ging hin um nach zu sehen.
Hinter dem Gebüsch fand ich ein 5 Meter tiefes Loch und das Wimmern schien von dort zu kommen. Ich kroch langsam zu Rand um nicht herein zu fallen und sah hinab. Jedoch fand ich kein wimmerndes Kätzchen. Auf dem Boden der Grube saß ein Mädchen, mit schwarzen Haaren und blickte traurig hinauf.
Ich rief herab „Hey, kleines Mädchen, warum bist du in dieser Grube?“. Mit Tränen in den Augen rief sie herauf „Ich weiß es nicht. Ich war zu Hause. In meinem wunderschönen zu Hause. Mutter hatte Waffeln zum Frühstück gemacht und ich habe so viel gegessen dass ich eingeschlafen bin. Als ich wieder aufwachte befand ich mich in dieser tiefen, dreckigen Grube.“
Ich rief wieder herab „Hey kleines Mädchen, warte ich gehe Hilfe holen und dann ziehen wir dich heraus.“ Eine Träne rann die Wange des Mädchens herab und mit wassergefüllten Augen blickte sie tief in die meinen. „Bitte geh nicht weg. Ich möchte nicht mehr alleine in dieser Grube sein. Ich habe Angst dass ich hier unten sterbe.“
Ich wusste nicht was ich tun sollte. Hier, unter mir befand sich ein kleines Mädchen in einer Grube aus der es nicht rauskommt, und allein könnte ich auch nichts machen. Ich hatte keinerlei Dinge bei, womit ich helfen konnte. Wenn ich nur schnell zu meinem Auto gehen würde, und dann in die Stadt fahren würde, könnte ich die örtliche Feuerwehr verständigen. Andererseits wusste ich auch nicht, wie lange das Mädchen schon in dieser Grube lag, und vielleicht könnte es wirklich gestorben sein, bis ich wieder hier bin. Die Fahrt zur Stadt hin und zurück würde 2 Stunden dauern. Ich entschloss mich bei Ihr zu bleiben und gleichzeitig Ausschau nach einem Wanderer zu halten.
„Ich bleibe hier, ich werde auf dich aufpassen und über dich wachen“ rief ich hinab.
Viele Stunden saß ich an der Grube und blickte auf das Mädchen herab. Von Zeit zu Zeit lief es wie besessen auf einen Punkt in der Grube los, sprang mehrmals in die Luft und versuchte nach etwas zu greifen. Ich konnte nicht verstehen was es da tat. Viele Stunden verbrachte das Mädchen damit einfach ins Nichts zu greifen. Irgendwann starrte es ganz verstört in die Richtung des nichts und schien zu begreifen, dass dort wirklich nichts war. Völlig enttäuscht lief das Mädchen wieder in die Mitte, versteckte ihren Kopf in ihre angewinkelten Beine und fing bitterlich an zu weinen.
Ich saß oben und beobachtete das Mädchen. Und eine Traurigkeit überkam mich, dass ich sie nicht in Worte fassen konnte. Manchmal blickte das Mädchen mich an und erzählte mir, wonach sie gegriffen hatte. „Da war ein Seil!“ rief sie ganz aufgelöst. „Wo ist das Seil hin?“ Ich habe nie eines gesehen.
Wenn ich das Mädchen darauf aufmerksam machte, wurde es zornig und schrie mich an. „Du gönnst mir das Seil nicht und willst dass ich hier verhungere“ schrie es dann hoch. Ich erklärte ihr, dass es nie ein Seil gegeben hat, und dass es zudem völlig unsinnig gewesen wäre, wenn das Seil ausgerechnet dort gehangen hätte. Das Mädchen wurde zorniger als es schon war und sprach nicht mehr mit mir. Nach einige Zeit durchbrach es dann das bedrückende Schweigen, in dem es hochsah und meinte „Du, ich glaube du hattest Recht. Es war kein Seil.“ Wir schwatzen über Kleinigkeiten, die das Mädchen die Lage in der es steckte vergessen ließ. Manchmal überkam mich für eine kurze Zeit das Gefühl, dass mein Leben sinnlos geworden sei. Dass ich nur nutzlos am Rande dieser Grube saß und nichts tun konnte. Dann heiterte mich das Mädchen auf und sprach mir Mut zu. Im Unterbewusstsein suchte es jedoch immer nach einem Seil an dem es hochklettern konnte.
Leider hatte ich kein Seil, welches ich ihr hätte zuwerfen können, und ich hatte Angst dass das Mädchen sterben würde, wenn ich weg ginge um eines zu holen. Ich saß noch die ganze Nacht an der Grube und beobachtete das Mädchen. Wir schwatzten ein wenig, denn ich wollte nicht dass sie einschlief. Einschlief und vielleicht nie mehr erwachte.
Am nächsten Morgen kam ein Wanderer vorbei und erzählte mir, dass er mich bei seinem Morgenspaziergang an der Grube sitzen sehen hatte. „Warum sitzen Sie an dieser Grube?“ fragte er mich. „Ich sitze hier, weil ich über das Mädchen wache. Es will nicht dass ich weg gehe.“ Der Wanderer schaute in die Grube und sah mich an. „Dort ist kein Mädchen!“ Ich schaute hinab. Wenn man nicht wusste dass dort dieses wundervolle, tapfere Mädchen war, war es im Morgengrauen wirklich schwer zu erkennen. „Es ist schwer zu sehen weil es schwarze Haare hat und den Kopf wieder in den angewinkelten Beinen versteckt. Sie hat wieder eine Seil gesehen und weint, weil es eigentlich keines war.“ Der Wandere sah noch weiter einmal in die Grube, blickte mich verständnislos an, zeigte mir den Vogel und ging seines Weges…