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Das Mädchen mit der Perlenkette
Das Mädchen mit der Perlenkette
Ich stehe auf einer Lichtung. Vor mir ein kleines Mädchen.
„Wo bin ich hier?“
„Ich darf nicht mit Fremden reden.“
„Ich bin keine Fremde.“
„Du hörst dich an wie eine.“
„Ich bin aber keine Fremde.“
„Ich darf nicht mit dir reden.“
„…sagt wer?“
„Meine Mutter hat mir das verboten.“
„Aber du kennst mich doch.“
„Ich kenne nur meine Mutter.“
„Du kennst mich.“
„Wer bist du?“
Ich blicke dem Licht entgegen. In weiter Ferne Geräusche.
„Was ist mit Mami?“
„Mami schläft jetzt. Sie muss sich ausruhen.“
„Ist Mami krank?“
„Nein…sie muss sich nur ausruhen…“
„Wann wird Mami wieder aufwachen?“
„Bald…wenn sie wieder gesund ist…bald…wenn sie wieder…Schatz, gib Mami einen Kuss, wir gehen jetzt.“
„Ich will noch nicht gehen!“
„Gib…gib Mami einen Kuss…wir gehen jetzt.“
„Aber ich will noch nicht…“
„Mami muss sich ausruhen...wir besuchen sie bald wieder…“
Verzweifelt blicke ich sie an.
„Ich bin deine Mutter.“
„Mutter hat eine andere Stimme.“
„Glaub mir doch! Ich bin deine Mutter!“
„Geh weg! Ich darf nicht mit Fremden reden.“
„Aber du…“
„Ich darf nicht mit Fremden reden!“
„Aber du redest doch mit mir!“
„Hör auf!“
„Ich kann nicht.“
„Geh weg!“
„Ich kann nicht weg. Ich weiß nicht wo ich bin.“
„Aber woher kommst du dann?“
In weiter Ferne wieder Stimmen.
„Warum wacht Mami nicht auf?“
„Weil Mami zuerst gesund werden muss.“
„Wann wird Mami wieder gesund?“
„Bald…sie muss sich nur ausruhen…bald…sie muss nur etwas schlafen…der Doktor hat gesagt, dass es ihr bald besser geht.“
„Aber wann wird Mami wieder gesund?“
„Das kann ich dir nicht sagen, Schatz, aber ihr wird es bald wieder besser gehen. Ganz bestimmt!“
„Aber Mami liegt schon so lange da…“
„Lassen wir Mami weiterschlafen. Komm, Schatz, wir gehen nach Hause.“
„Aber ich will noch nicht…“
„Wir gehen jetzt nach Hause! Komm!“
„Zuhause. Ich komme von Zuhause.“
„Wo liegt das? Zuhause?“
„Ich weiß es nicht.“
„Wieso bist du dann hier?“
„Papi, Papi! Mami liegt in der Küche und schläft!“
„Bleib hier!“
„Was ist mit Mami?“
„Hol…hol ein Telefon…“
„Warum sind da Tabletten? Ist Mami krank?“
„Gib…gib mir das Telefon! Schnell!“
„Ich war traurig.“
„Deine Stimme hört sich nicht mehr traurig an.“
„Weißt du wo ich bin?“
„Ich darf nicht mit Fremden reden.“
„Aber ich bin deine Mutter!“
„Mutter hat eine andere Stimme, viel trauriger…“
„Hör mir doch zu! Ich bin deine Mutter!“
„Ich darf Fremden nicht zuhören.“
„Ich bin keine Fremde!“
„Du lügst!“
„Aber ich bin doch deine Mutter!“
„Wie soll ich dir glauben können?“
„Muss Mami sterben?“
„Nein…Mami muss nicht sterben…sie…schläft nur.“
Wärme. Etwas Weiches streift meine Haut.
„Joey wird Mami beschützen.“
„Ja. Das wird er. Da bin ich mir ganz sicher.“
„Aber, wenn Mami schläft…wer beschützt dann Joey?“
„Mami ist stark. Mami beschützt Joey…in ihren Träumen.“
„Joey.“
„Joey?“
„Er ist hier. In meinen Armen.“
„Ich kann ihn nicht sehen…“
„Er ist doch hier! Sieh!“
„Ich kann nicht sehen. Joey ist verschwunden! Wie meine Mutter!“
Eine Träne kullert aus meinem Augenwinkel.
„Aber…ich bin deine Mutter!“
„Deine Stimme…Mutter?“
„Ja. Ich bin hier!“
„Ich kann dich nicht sehen.“
„Ich stehe direkt vor dir.“
„Nein. Du bist nicht da.“
Eine weitere Träne.
„Ich…ich bin doch hier!“
„Bitte…bitte sei nicht so traurig…“
Noch eine Träne.
„Ich…ich…bin nicht…traurig.“
„Warum bist du so traurig, Mutter?“
„Warum weint Mami?“
„Mami ist sehr traurig.“
„Wegen meinem Brüderchen?“
„J…ja…“
„Was ist mit meinem Brüderchen?“
„Es…es…ist bei den Engeln…“
„Aber…aber…“
„Es…es…dort oben geht es ihm jetzt besser…“
„Nein! Ich will nicht, dass er da oben ist!“
Ich unterdrücke meine Trauer.
„Nichts. Es ist nichts.“
„Du lügst!“
„Nein…ich…nichts…“
Traurigkeit gewinnt wieder die Oberhand.
„Hier!“
Das Mädchen gibt mir etwas. Etwas Kaltes.
„Was ist das?“
„Eine Perlenkette. Sie soll dir Glück bringen.“
„Warum gibst du mir sie?“
„Sie soll dir Glück bringen.“
„Ich brauche kein Glück. Warum gibst du mir sie?“
„Du sollst sehen.“
„Sehen? Was?“
„Mich.“
Ich sehe dem Mädchen ins Gesicht. Es hat keine Augen.
„Was ist mit dir passiert?“
„Was ist mit dir passiert?“
„Wie meinst du das?“
„Die Perlenkette…du sollst sehen, was ich sehe.“
Die Perlen sind Augen. Ausgestochene Augen.
„Wo bin ich hier?“
„Das ist egal.“
„Wieso?“
„Du bist bereit.“