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Das Mädchen

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24.06.2001
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Das Mädchen

Es war an einem dieser heißen und schwülen Sommertage, als ich wieder einmal im Bus saß und mich auf der Heimfahrt befand. Ein Tag unter vielen, sicherlich, doch irgend etwas schien anders zu sein. Dann sah ich den Grund für diese Annahme: er füllte die Sitzbank der dritten Reihe des Busses gänzlich aus. Ein dickes kleines Mädchen, das gerade über das Grundschulalter hinaus gekommen war, und mit großen neugierigen Augen die Landschaft musterte. Noch größer als die Augen waren allerdings ihre Backen, die sich im Rhythmus der Kieferknochen bewegten und ihr Mittagessen zerkleinerten. Ich dachte an Raubtierfütterung. Das Fleisch ihrer Arme hing in Fetzen hinunter, als sollte es sie gegen ihre Umgebung schützen oder abpolstern. Die Fingerknöchel ihrer Hände waren kaum noch zu erkennen, so sehr hatte das Fettgewebe von ihnen Besitz ergriffen. Schweiß lief ihr in großen Tropfen über das rosige Gesicht und sie wagte es nicht, ihn mit dem Ärmel wegzuwischen. Denn sie hatte Angst. Sie hatte Angst davor, dass sie ausgelacht werden würde, wenn sie jemand betrachtete. Heimlich und in der Hoffnung, nicht bemerkt zu werden, öffnete sie ihre Schulmappe, um darin nach etwas Essbarem zu suchen. Nachdem sie eine Weile gekramt und immer wieder aus den Augenwinkeln ihres Mondgesichtes ihre Mitschüler im Auge behalten hatte, fand sie, wonach sie so intensiv gesucht hatte: einen Schokoriegel. Mit Genuss und vor Freude glänzendem Gesicht, riss sie die Verpackung auf und schob ihn mit einem schmatzendem Geräusch, das niemand im Bus überhört haben konnte, in den Mund hinein. Die Finger waren für eine Weile - vielleicht auch nur einen Augenblick, der mir wie eine Ewigkeit vorkam - gänzlich verschwunden, bis sie dann sogleich wieder herausgezogen wurden. Während sie kaute, betrachtete das dicke kleine Mädchen seine vor dem Gesicht gespreizten Hände und machte sich sogleich daran, sie abzulecken, um auch noch an die letzten Reste von Schokolade, die daran klebten, zu kommen. Ihr Kleidchen, das ihre Mutter für sie in einer Kinderboutique ausgesucht und dafür viel Geld ausgegeben hatte, musste nun noch dafür herhalten, die speichelnassen Hände wieder zu trocknen. Dem kleinen dicken Mädchen war nicht aufgefallen, wie alle Augen der anderen Kinder gebannt auf es gerichtet waren und es fasziniert betrachteten. Als ihr Magen schließlich mit einem Bäuerchen, wie es ihre Mutter vor langer Zeit genannt hätte, bekundete, dass der Vorgang der Nahrungsaufnahme nun beendet sei, schien der erlösende Moment gekommen zu sein und alle Schulkameraden brachen, mit dem ausgestreckten Finger auf das dicke kleine Mädchen deutend, in heiteres Gelächter aus. Niemand hätte mehr gelacht, wenn er erfahren hätte, wie herzzerreißend das kleine dicke Mädchen weinte, als es zu Hause auf ihrem weichen, mit Samt und Seide überzogenen Bettchen lag und die Welt verfluchte. Und niemand hätte sich mehr über es lustig gemacht, wenn er gewusst hätte, dass das dicke kleine Mädchen nur fünf Jahre später Selbstmord begehen würde, weil es keine Freunde hatte. Ich stieg aus dem Bus aus und freute mich über all die Abwechslungen, die eine Busfahrt doch mit sich brachte und war erheitert.


Tobias Rösch

 

Diese Kurzgeschichte ist heute entstanden, kurz nachdem ich aus der Schule zurückgekommen bin. Im Bus saß ein paar Reihen vor mir ein kleines dickes Mädchen und ich dachte mir "Was wäre wenn..." Auf diese Weise ist diese Kurzgeschichte zustande gekommen. Also mir gefällt sie, bin gespannt was ihr davon haltet...

- Toby -

 

Fand die Geschichte wirklich gut, da sie eine gute Auseinandersetzung
mit dem Tabu Thema "Übergewicht" ist. Was mir auch sehr gut gefällt ist,
dass die Geschichte recht realitätsnah geschrieben ist. Auch ist man
beim Lesen hin und her gerissen. Mal betrachtet man das kleine, dicke
Mädchen so, dann mal anders. Die Geschichte ist aber wirklich gelungen.
Währe es nicht mal interessant, eine ähnliche Geschichte über das Thema "Ausländer" zu schreiben?

Gruss an den Autor
Foxtown

 

Du hast Recht. Man könnte das Mädchen auch durch einen Ausländer ersetzen oder durch alle anderen Menschen, die in unserer Gesellschaft ausgegrenzt werden. Ich glaube ich werde diese Anregung bei Gelegenheit in die Tat umsetzen. Wie man an dieser Kurzgeschichte sehen kann, habe ich nun einen völlig neuen Weg gesucht, mich den Problemen des Alltags zu nähern (vgl. Geisterstadt).
Vielen Dank für die Aufmerksamkeit und das Interesse,

- Toby -

 

Hallo Toby

es ist ein kleiner, aber beeindruckender Text. Das Problem, das du hier anschneidest, beginnt in der Tat in frühester Kindheit. Suchtverhalten kann nur durch Selbstbeherrschung bekämpft werden. Allerdings liegen die Ursachen für Süchte vermutlich tiefer und sind in jedem Fall anders gelagert. Das Übel an der Wurzel zu packen, wäre in jedem Fall das beste. Aber ein kleines Kind kann das nicht allein, es spürt vermutlich nur seine affektiven Sehnsüchte. Später leiden dann die Mädchen unter ihrer schlechten Figur und wissen sich oft nicht zu helfen, oder die Sache schlägt ins Gegenteil um mit den bekannten Folgen. Deshalb ist der Text höchst aktuell. Mit gefällt vor allem die gute Schilderung, mit der du das ungezügelte Essverhalten des Kindes beschreibst. Manches ist vielleicht etwas zu drastisch geraten ("das Fleisch ihrer Arme hing in Fetzen herunter")

viele Grüße

Hans Werner

 

Jupp, also mir hat die Geschichte auch ziemlich gut gefallen <IMG SRC="smilies/thumbs.gif" border="0">
Man hätte noch ein paar gehässige und fiese Dialoge zwischen den anderen Kindern im Bus einbauen können... dann wäre es wahrscheinlich noch ergreifender rübergekommen... oder auch nicht... <IMG SRC="smilies/znaika.gif" border="0">

Drum; sie ist so gut, wie sie ist!!!! ;)

Griasle
stephy

 

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