Das Mädchen
Es war an einem dieser heißen und schwülen Sommertage, als ich wieder einmal im Bus saß und mich auf der Heimfahrt befand. Ein Tag unter vielen, sicherlich, doch irgend etwas schien anders zu sein. Dann sah ich den Grund für diese Annahme: er füllte die Sitzbank der dritten Reihe des Busses gänzlich aus. Ein dickes kleines Mädchen, das gerade über das Grundschulalter hinaus gekommen war, und mit großen neugierigen Augen die Landschaft musterte. Noch größer als die Augen waren allerdings ihre Backen, die sich im Rhythmus der Kieferknochen bewegten und ihr Mittagessen zerkleinerten. Ich dachte an Raubtierfütterung. Das Fleisch ihrer Arme hing in Fetzen hinunter, als sollte es sie gegen ihre Umgebung schützen oder abpolstern. Die Fingerknöchel ihrer Hände waren kaum noch zu erkennen, so sehr hatte das Fettgewebe von ihnen Besitz ergriffen. Schweiß lief ihr in großen Tropfen über das rosige Gesicht und sie wagte es nicht, ihn mit dem Ärmel wegzuwischen. Denn sie hatte Angst. Sie hatte Angst davor, dass sie ausgelacht werden würde, wenn sie jemand betrachtete. Heimlich und in der Hoffnung, nicht bemerkt zu werden, öffnete sie ihre Schulmappe, um darin nach etwas Essbarem zu suchen. Nachdem sie eine Weile gekramt und immer wieder aus den Augenwinkeln ihres Mondgesichtes ihre Mitschüler im Auge behalten hatte, fand sie, wonach sie so intensiv gesucht hatte: einen Schokoriegel. Mit Genuss und vor Freude glänzendem Gesicht, riss sie die Verpackung auf und schob ihn mit einem schmatzendem Geräusch, das niemand im Bus überhört haben konnte, in den Mund hinein. Die Finger waren für eine Weile - vielleicht auch nur einen Augenblick, der mir wie eine Ewigkeit vorkam - gänzlich verschwunden, bis sie dann sogleich wieder herausgezogen wurden. Während sie kaute, betrachtete das dicke kleine Mädchen seine vor dem Gesicht gespreizten Hände und machte sich sogleich daran, sie abzulecken, um auch noch an die letzten Reste von Schokolade, die daran klebten, zu kommen. Ihr Kleidchen, das ihre Mutter für sie in einer Kinderboutique ausgesucht und dafür viel Geld ausgegeben hatte, musste nun noch dafür herhalten, die speichelnassen Hände wieder zu trocknen. Dem kleinen dicken Mädchen war nicht aufgefallen, wie alle Augen der anderen Kinder gebannt auf es gerichtet waren und es fasziniert betrachteten. Als ihr Magen schließlich mit einem Bäuerchen, wie es ihre Mutter vor langer Zeit genannt hätte, bekundete, dass der Vorgang der Nahrungsaufnahme nun beendet sei, schien der erlösende Moment gekommen zu sein und alle Schulkameraden brachen, mit dem ausgestreckten Finger auf das dicke kleine Mädchen deutend, in heiteres Gelächter aus. Niemand hätte mehr gelacht, wenn er erfahren hätte, wie herzzerreißend das kleine dicke Mädchen weinte, als es zu Hause auf ihrem weichen, mit Samt und Seide überzogenen Bettchen lag und die Welt verfluchte. Und niemand hätte sich mehr über es lustig gemacht, wenn er gewusst hätte, dass das dicke kleine Mädchen nur fünf Jahre später Selbstmord begehen würde, weil es keine Freunde hatte. Ich stieg aus dem Bus aus und freute mich über all die Abwechslungen, die eine Busfahrt doch mit sich brachte und war erheitert.
Tobias Rösch