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- 17.04.2006
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Das Mädchen
Vor vier Jahren, als ich in unserer Großen Bibliothek war, begegnete ich einem ganz außergewöhnlichen Mädchen. Sie saß damals am langen, leeren Tisch des großen Lesesaals unter dem Gewölbe, und das Tageslicht fiel auf die glatte Oberfläche des Tisches und blendete mich ein wenig, an dieses Bild kann ich mich gut erinnern. Ich ging den schmalen Gang neben dem Tisch entlang, der sich gelegentlich durch die Unterbrechung der Bücherregale verbreiterte, und ich glaube sogar ein Buch – den Titel habe ich nicht behalten – umgestoßen zu haben. Als ich näher zu ihr kam, wendete ich meinen Blick zu den Büchern und versuchte vorzutäuschen, nach etwas zu suchen, aber es dauerte nicht lange, bis ich ihr Lachen hörte und verstand, dass sie mich verstanden hatte.
Wir kamen so ins Gespräch und ich erfuhr, dass sie Studentin aus Rumänien war und Literatur studierte. Sie fragte auch mich nach meinen Beschäftigungen und Pflichten. Ich weiß nicht, wie lange wir uns unterhielten, aber auch wenn meine Aufmerksamkeit ganz auf dieses Mädchen gerichtet war, so kann ich mich doch kaum an den Inhalt des Gesprächs erinnern. Ich weiß noch, dass ich etwas an der stickigen Luft des Raumes, überhaupt an der Trägheit dieses Vormittags litt und die Bilder, die mir erscheinen, sind etwas verwischt durch das Echo im Raum. Doch eben dadurch wird mir umso stärker bewusst, wie lebhaft, ja energisch das Mädchen mit ihrem scharfen Sprechton und dem ausdrucksstarken Gesichtsausdruck den Druck des Raums gleichsam sprengte und meine Aufmerksamkeit mehr an ihre Bewegungen und den Klang statt die Bedeutung der Worte band.
Ich verbrachte jenen Sommer viel Zeit in der Bibliothek, und es war mir immer wieder sehr angenehm, wenn mir das Mädchen begegnete. Sie war sehr schön; von hohem Wuchs, mit etwas träumerischen Augen und einem lebhaften Lächeln, und doch einem Gesicht von gewisser Strenge, Konzentration und einem Wesen, das nach langer Schweigsamkeit in der lebhaften Rede wie aus ihr herhausbrach. Ich bemerkte bei ihr einen etwas eigenartigen Gang, und es war ihre Art, wenn sie nachdachte, den Kopf seltsam mal zur linken, mal zur rechten Schulter zu kippen ; doch im Gegensatz zu diesen verspielt anmutenden Zügen beobachtete ich eine strenge Disziplin und Genauigkeit im in ihrem Studium.
Jeden neuen Tag liebte ich dies Mädchen aufs Neue! Ich beobachtete sie, verbrachte absichtlich viel Zeit in ihrer Nähe, und vergaß darüber hinaus oft genug meine Pflichten, wofür ich mir gelegentlich Vorwürfe machen musste. Es war mir eine Freude, ihr zu begegnen, kurz oder lang in dieses Gesicht zu schauen und ihm vielleicht ein Lächeln zu entlocken, und ich lebte jene Momente, die nach diesem kurzen Glück, nach diesen trügerischen Annäherungen, mein ganzes Herz erfüllten. Doch den Gedanken, dem Mädchen entgegenzukommen, drängte ich zurück. Die Gründe und Vorstellungen, nach denen ich so handelte, waren mir zu dieser Zeit wohl nur halb bewusst. Ich spürte wohl, dass mir eine Abweisung gewiss war und ahnte, wenn ich es auch nicht begreifen konnte wie es mir jetzt gegeben ist, dass mir dann jene Augenblicke der Seelenfreude verwehrt sein würden. Des Weiteren – und diese Annahme war mir viel bewusster – fürchtete ich mich vor den Bemerkungen der Menschen, in deren Gesellschaft ich mehr oder weniger, wohl oder übel leben musste. So fühlte ich, dass es mir nicht gegeben war, meine Zuneigung gegenüber dem Mädchen zu öffnen ohne durch die höhnischen Richtworte meiner Mitmenschen demütigen zu lassen.
So endete die Zeit, in der ich das Mädchen in der Bibliothek traf; gegen Ende wurden ihre Besuche seltener, bis ich sie auch auf der Straße nicht mehr auffinden konnte, wie es zuweilen noch der Fall war. Ich spürte stark, wie ich ihre Gegenwart vermisste, und bald machte ich mir Vorwürfe, aus ihrer Anwesenheit nicht mehr gemacht zu haben. Es war äußerst schmerzhaft, die gewonnene Erfahrung zu verarbeiten. Doch ohne es zu wollen, verstärkte ich mein Leiden nur, indem ich auf eine irrationale Weise versuchte, die Hoffnung auf eine mögliche Wiederkehr des Mädchens aufrechtzuerhalten. Der Gedanke daran, die Gelegenheit zu einer glücklichen Beziehung zu diesem Mädchen durch Unentschlossenheit, ja Feigheit verpasst zu haben, setzte sich in meiner Seele fest und ließ mich für eine lange Zeit nicht los.
Es ist mir seitdem vieles klar geworden. Auch wenn es schwer zu verstehen ist, so möchte ich sagen, dass ich in meiner Zurückhaltung keinen Fehler begangen habe. Ich hätte viel früher einsehen sollen, dass ich mit diesem Mädchen nicht zusammen sein kann, und dass uns verschiedene Wege vorherbestimmt sind. Es wäre nicht richtig, zu versuchen, diese Stränge gewaltsam zusammenzuführen. Wenn ich versucht hätte, ihr näher zu kommen, so hätte – ich bin jetzt davon noch viel überzeugter, als ich es war – ihre Antwort – je sanfter sie wäre, umso stärker – meine Leiden nur verstärkt, indem sie mich zu neuen Selbstqualen gezwungen hätte.
Ich habe aus dieser Liebe eine wichtige Erkenntnis gewonnen, eine Erkenntnis, die – ich bin davon überzeugt – mein weiteres Leben beeinflussen wird. Dort wo die Vernunft es ablehnt, ist auch mit dem Herzen nichts einzunehmen, und so gibt es Dinge, die man nicht fragt und nicht fordert, weil man dafür nicht bestimmt ist. Jeder Mensch muss den Verständnisprozess durchmachen, sich Klarheit vom Möglichen und vom Unmöglichen zu schaffen. Dazu gehört auch die Fähigkeit, sich von dem törichten Wunsch zu lösen.