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Thema des Monats Das Meer

Seniors
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10.10.2006
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Das Meer

Wir sind zu viert in der Hotelsuite. Zu fünft, wenn man die tote Frau auf dem Bett mitzählt. Milo sagt: „Im Grunde genommen ist es nicht meine Schuld.“
Und ich hab schon wieder vom Meer geträumt.
Milo erinnert mich an einen osteuropäischen Pianisten, den ich vor langer Zeit mal getroffen habe. Er hat dieses faserige, schwarze Haar und Augenringe. Fahrig wirkt er, sonst eine ordentliche Erscheinung. Die Hände gepflegt, glattrasiert ist er auch. Wohlmodulierte Stimme und alles, aber jetzt wirkt er nicht gut. Er sieht nicht gut aus, so als hätte jemand die Folie von ihm abgezogen und das, was drunter ist, das riecht schon muffig und ist grün vom Schimmel.
Stein dagegen – er sitzt Milo gegenüber in einem schweren Holzsessel. Ich seh nur seinen Rücken und das reicht mir völlig.
Und neben mir steht Thomas und starrt auf einen fixen Punkt. Ich folge seinem Blick, denke natürlich, er schaut auf das leinenweiße Bett mit der Leiche darin, aber nein, sein Blick geht weiter auf den Nachttisch. Dort steht eine braune Tasse mit einem weißen Inneren. Die Tasse ist von innen ganz weiß. Man kann den Kakao noch riechen, schwach, man denkt, er riecht nach Eisen, aber das ist das Blut. Kakao hat sie getrunken, denke ich.
Thomas schaut auf den Kakao, damit er nicht auf sie schaut.
Stein schaut auf Milo, damit er nicht auf sie schaut.
Und ich schaue auf Thomas und Stein, damit ich nicht auf sie schaue.
Aber sie ist da. Und sie ist tot.

Stein hat uns hergefahren, Thomas auf dem Beifahrersitz, ich hinten im Fond. Wir hingen unseren Gedanken nach, ein paar Passanten schaute ich zu, wie sie stramm gingen, mit Einkaufstüten in der Hand, vielleicht um noch ein paar Weihnachtseinkäufe zu erledigen.
Ein junger Mann im schwarzen Mantel schaute auf seine Schuhspitzen, während er ging, hatte etwas Beschwingtes an sich – vielleicht verliebt.
Dann stöhnt Stein auf. Ganz leise nur, so als hätte er masturbiert und sei fertig. Und auch Thomas und ich riechen es, die Zähne drücken spitz in unsere Unterlippen, unsere Nacken spannen sich, wir kreisen den Kopf beide. Ich kralle meine Hände in das Polster der Rückbank. Thomas pfeift leise etwas vor sich hin, greift in seine Tasche und schiebt sich einen Kaugummi rein. Thomas muss immer essen.
Als hätten wir drei einander im Rotviertel einer Videothek getroffen, so ist es. Und nicht anders.

Und auch jetzt, niemand schaut sie an. Sie liegt mit dem Bauch auf dem Bett. Keine Decke, das Kleid hat Milo ihr zerrissen. Kurzes blondes Haar, der Nacken frei. Ein paar Muttermale auf dem Rücken, links der Wirbelsäule entlang, wo das Fleisch zart und weich ist. Der Po ist etwas zu dick, dafür die Waden stramm. Ganz trocken kann man ihre Scham erahnen. Die Fußsohlen sind weiß. Und meine Augen wandern wieder hoch zu den Punkten, zu den Muttermalen, man meint, man müsse einen Kuli nehmen und die Male verbinden, vielleicht käme ein Muster heraus, so denkt man, aber auf der anderen Seite der Wirbelsäule, dort, wo man nicht schauen darf, weil dort das Loch klafft, weil dort das Blut sickert, da sind keine Punkte mehr.

„Schau doch“, sagt Milo, „sie ist vom Kreuzzug. Das müsst ihr doch verstehen.“
Doch Stein versteht nicht, Stein zündet sich eine Zigarette an und Thomas macht wortlos drei Schritte vor und reicht ihm Feuer. Stein lässt eine Rauchwolke nach oben fahren.
„Sie hat mich verführt. Schaut sie euch an! Mein Gott, Stein! Schau sie dir doch an, du kanntest Vanessa doch! Sie sieht aus wie Vanessa!“
„Der Status Quo“, sagt Stein.
Ich höre das Meer rauschen.
Und Milo lässt seine Schultern hängen, Thomas geht ums Bett herum und nimmt die Kakaotasse.
„Das war eine Falle“, schluchzt Milo und Stein drückt seine Zigarette auf der Lehne aus, springt aus dem Holzsessel, greift unter sich, reißt ein Stuhlbein los und treibt es Milo in die verhärmte Brust.
„Der Status Quo muss erhalten bleiben“, sagt Stein und öffnet das Fenster, aber Milos Asche ist schon zu Boden gesunken.
Jemand sollte jetzt sagen: „Dieser verdammte Kreuzzug.“ Jemand sollte sagen: „Der arme Milo, ich kannte ihn gut.“ Aber von draußen dringt nur der Lärm der Stadt ins Zimmer. Und die tote Frau schweigt und das Meer rauscht in mir.
Ich hör es ganz deutlich, so als hätte man alle Geräusche abgedreht, auf ganz leise gestellt, und das Hintergrundrauschen, das Branden der Wellen, das immer da ist, immer im Hintergrund, nur das ist jetzt noch da, vorn, bei uns, und es schlägt gegen meinen Bauch und ruft mich und ist weich und schwarz und leer.
Dann höre ich den Handstaubsauger.

„Wie bei Shakespeare“, sagt Thomas, während ich das Grab weiter aushebe.
Wir sind auf einem Friedhof und ich stehe in einem kalten Grab und schaufele. Morgen wird hier jemand anders beerdigt und die Tote liegt noch im Wagen, damit wir sie nicht ständig sehen müssen. Der Boden ist hart, fast gefroren und Thomas isst ein Baguette mit Schinken und Remouladensauce und mit Tomaten und vielleicht ist auch noch ein Salatblatt drauf.
„Du weißt doch auch, dass es so nicht weitergeht, oder?“, fragt er, während ich schaufle. „Vermisst du nicht die alten Zeiten? Die guten Zeiten, die bösen Zeiten? Die Friss-oder-stirb-Zeiten? Das ist einfach unnatürlich, der Status Quo ist eine Kopfgeburt. Von blutlosen Bürokraten. Nicht beißen, nicht reißen – wer denkt sich so was aus? Wir verleugnen unsere Natur. Sag doch auch mal was.“
Und ich halte kurz inne und stelle mir vor, zu baden. Und Wärme zu spüren. Richtige Wärme, überall, von warmem Wasser umschlossen. Das Wasser in den Ohren und so warm ist es, ganz warm, das Meer durchdringt mich und ich balle meine Hände zu Fäusten und lasse sie wieder los und atme.
„Wie eine Ersatzreligion, diese ganze Scheiße“, sagt Thomas. „Geh zur Kirche, sei artig, sei tot, fühle nichts, kontrolliere dich.“
„Du hättest ihm ja helfen können“, sag ich zu dem Boden.
„Ist tief genug“, sagt Thomas und ich höre seine Schritte auf dem Friedhofsboden.

Thomas wollte mich loswerden, er hat mir den Staubsaugerbeutel in die Hand gedrückt und mich auf der Rheinbrücke abgesetzt.
Und jetzt steh ich hier am Rand der Brücke und hinter mir fährt ein einsames Auto durch die Nacht. Man ist nie allein, der Fluss ist nicht das Meer und ich hab Milo in den Händen und fast muss ich denken: Thomas – gibt ihm noch Feuer und schwingt dann große Reden. Aber dann ist das Meer wieder da.
Ich reiß den Beutel auf und kippe Milo in den Fluss.
Dann hör ich das Motorrad, jemand lässt ein Motorrad aufjaulen, spielt am Gas herum, als wären wir in einem Film, ich drehe meinen Kopf zur Seite und sehe den Scheinwerfer. Was denkt die sich? Soll ich nun Angst haben? Soll ich versuchen wegzulaufen, weil sie ein Motorrad hat? Weil ich alleine bin?
Das Motorrad rast auf mich zu und ich öffne meine Hände und lasse den leeren Beutel in den Rhein sinken, drehe mich dann um, da sitzt sie drauf wie auf einem Streitross, ich sehe es durch die Nacht. Ein schwarzer Pferdeschwanz, der unter dem dicken Helm hervorlugt. Kreuzzüglerin. Amazone. Wow. Ich warte bis das Motorrad drei, vier Körperlängen vor mir ist und springe zur Seite. Kaum bin ich über den Rand der Brüstung, greife ich mit kalten Händen zu und hangle mich an Stein entlang unter die Brücke und dort bleibe ich und warte.
Das Motorrad jault auf.
Sie hat ja keinen Einschlag gespürt, kein Zucken am Vorderrand, aber kriegt sie das noch mit? Jetzt wo sie ihr erstes Opfer hat. Wo die Geilheit des Kampfes sie durchzuckt. Jetzt, wo sie getötet hat?
Das Motorrad wendet über mir, ich kann es hören. Sie reißt sich den Helm herab, spürt die Maschine unter ihren Schenkeln, das Adrenalin jagt durch ihren Körper. Sie lebt, sie atmet, sie tötet.
Eine Jagd auf krallenlose Bestien. Aber auf was für welche?
Ich hangle mich zum anderen Rand der Brücke und ziehe mich nach oben und tatsächlich, da steht sie, in all ihrer Pracht. In einem schwarzen Lederanzug und schaut wie ein Schulmädchen, das seine Spange verloren hat, in den Fluss.
Die Zähne drücken gegen meine Unterlippe und das Meer rauscht. So muss sich Milo gefühlt haben. Ich husche hinter sie und rieche ihren Schweiß, ich tippe ihr sacht auf die Schulter und sie wirbelt herum, hat wohl einen Dolch noch in der Hand oder einen Sai und ja, sie hat mit mir gerechnet. Sie ist ja so agil, ein Hieb gegen meinen Bauch und dann tritt sie mich auch noch, ach Gottchen. Und sie zielt auf meine Kehle und sie zielt auf meinen Arm und ja, sie täuscht auch Schläge an, ganz wie sie es gelernt hat.
Sie atmet schwer, ich gar nicht.
Wenigstens hält sie die Klappe.
Wieder Ausfallschritt, den Sai nach vorne gewirbelt, durchaus mit Talent, dann ein Tritt, wieder zurück, wir tanzen fast ein bisschen, aber sie ist tot wie eine Flunder und ich fühle gar nichts, dann wieder dieser Ausfallschritt und ich greife nach ihrem Arm, zieh sie an mich heran und treibe ihr die Faust in den Solarplexus.
Jetzt liegt sie da, ihr Kreislauf bricht zusammen und nicht eine Wunde. Kein Tropfen Blut.
Der Status Quo ist erhalten, ich heb sie auf und geh auf den Rand zu, auf den Rand der Brücke. Harte Gesichtszüge, irgendwie slawisch. Ein Muttermal auf Höhe der Oberlippe. Eine schöne Stirn hat sie. Kühl und leicht. Die Augen nun geschlossen, aber bestimmt grün. Und der Mund sieht nett aus. Ich lasse sie in den Rhein fallen. Ohne einmal zu kosten, ohne wallendes Blut. Stein wäre stolz auf mich.

Auf dem Weg nach Hause hör ich das Meer nicht. Manchmal suche ich einen Vorwand um wie Milo zu werden. Rache, Leidenschaft, Wärme. „Aber Stein, schau doch. Mir war so kalt. Es war eine Falle.“
Es ist kein Verlangen, es ist biologisch und im Kopf. Die verbotene Frucht. Beiß sie doch.
Man muss den Kreuzzug bewundern. Ich seh es vor mir, Milo liegt auf ihr und sie, todesmutig, bietet ihren Hals an, streckt ihn entgegen, bringt sein Blut zum kochen, tut so als wär es früher. Schaut ihn an, ganz weich und zart und dann, weicht er zurück. Weil er es hört. Weil er das Meer hört und die Brandung wird immer stärker und sie setzt nach, sie weiß, was sie will und sie lockt ihn mit ihrem warmen, weichen Körper und Milo hört das Meer und taucht in die Fluten.
Der arme Milo. Ich kannte ihn gut.

 

Hallo Van Horebke,

Halte mich kurz, so kurz wie es geht und sein muss. Habe schon die eine oder andere Geschichte von dir gelesen, zu denen mir mehr eingefallen wäre, doch die waren bereits tief gesunken, allenfalls empfohlen und auf jeden Fall noch reichlicher kommentiert als diese hier.
Das freut mich, die Reichlichkeit der Kommentare variiert ja immer stark.

Gefallen hat mir die Sprache, obwohl ich anfangs dachte, sie würde mir nicht gefallen. Sie kommt in einer gewollten Spontaneität, selten erzwungen, daher und fügt sich schön ins Gedankenkonstrukt des Protagonisten. Sie ist im Satzbau gewagter als geschliffen und in dieser Geschichte darf sie das sein. Hätte ich nicht Anderes von dir gelesen, hätte ich dahinter womöglich Unsicherheiten vermutet.
Über eine längere Distanz wäre der Stil sicher zu hektisch. Ich versuche immer, den Stil der Geschichte anzupassen.

Gefallen hat mir danach hauptsächlich die Grundstimmung. Der unterdrückte aber nicht vollständig negierbare Durst, die Wehmut, die Resignation. Deine Vampire gehören zu den menschlichsten, denen ich in letzter Zeit begegnet bin, und dem vergebe ich hier, spontan, den grössten Pluspunkt dieser Geschichte.
Genau das sollte durch den Stil noch verstärkt werden. Die Unruhe einfach.

Die Beschreibung der Figuren wecken Lust auf mehr. Der Plot an sich hingegen nicht. Er ist zufrieden mit der Länge. Hättest du dich noch gross zur Geschichte des Status Quo ausgelassen, hättest du dir unheimlich Mühe geben müssen, mich nicht zu langweilen. Ein minimer zusätzlicher Hinweis, in welcher Hinsicht der Status Quo zu verstehen ist, ertrüge die Geschichte. Aber nur ein Hinweis. Der offen lässt, nicht schliesst.
Ja, der Plot gibt nicht viel her. Das Ende sollte den Anfang verständlich machen und genauer beleuchten, diese Selbstmordattentäterin wenn man so iwll.

Stellenweise scheint mir, du hättest während dem Schreiben anfangs selbst etwas längeres beabsichtigt. Als hätten in deinen ursprünglichen Plänen sowohl Stein wie auch Thomas eine grössere Rolle spielen wollen. Besonders bei Thomas frage ich mich, warum du ihn dort beim Friedhof auf die Bühne hebst, obwohl er im übrigen Teil der Geschichte die Randfigur par excellence spielt.
Gut beobachtet. :)

Das "dagegen" hat mich beim Lesen gestört und verwirrt. Da fehlt mir irgendwie eine zum Vorhergesagten kontrastierende Information. Und wenn sie entbehrbar ist, liesse ich das "dagegen - er" oder das "- er" fallen.
Das "er" fliegt raus, gefällt mir auch besser.


Fazit: Mir hat die Geschichte hauptsächlich aufgrund der gewählten Sprache und der Stimmung gefallen, während sie inhaltlich nicht genug bietet, mich mehr als kurzweilig zu unterhalten. Trotz des Meeres. Da war die Geschichte mit der Schokoladengöttin deutlich origineller.
Ich versuch schon immer, was anderes zu machen. Die mit der Schokoladengöttin unterscheidet sich von der hier ja schon sehr stark, in der ganzen Anlage und ist auch deutlich länger.

Freut mich, wenn dich das Stück hier unterhalten konnte. Danke dir für den Kommentar
Quinn

Hallo Thrombin,

Anfangs tat ich mich schwer, mich mit deinem Schreibstil anzufreunden, weil ich ihn teilweise etwas zu kalkuliert und jeden einzelnen Satz zu ausgefeilt empfand, wie wenn du die Sätze nach den Vorschlägen aller Leser vor mir mehrmals korrigiert hättest - zu viele Köche verderben den Brei.
Hm, Nein? Sowas mach ich nicht. :)

Im Laufe der Geschichte habe ich mich daran gewöhnt, ich fand sogar, er passt sehr gut zur Stimmung und sollte nicht geändert werden. Viele Sätze fielen mir auf, die sehr fein pointiert waren, da steckt Geist drin. Ich kenne auch niemanden, der einen vergleichbaren Stil wie du hat, schön erzählt.
Das freut mich, ich danke dir.
Quinn

 

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