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Das Meisterwerk
Runaway train never going back
Wrong way on a one way track
Seems like I should be getting somewhere
Somehow I'm neither here no there
-Soul Asylum-
Wrong way on a one way track
Seems like I should be getting somewhere
Somehow I'm neither here no there
-Soul Asylum-
Endstation! Tanja schlurfte durch den alten Bahnhof. Am nächsten Morgen würde es weiter gehen, egal ob sie per Anhalter oder schwarz mit dem Zug fahren würde. Sie war nach diesem anstrengenden Tag sehr müde und sie musste sich ausruhen, egal wo. Tanja nahm ihren Rucksack und ihre Umhängetasche und ging weiter durch den verdreckten Bahnhof. An so einem Ort würden sich noch nicht mal Penner wohl fühlen, dachte das hübsche, junge Mädchen. Konnte sie dies denn wirklich beurteilen? War sie schon so tief gesunken? Bin ich auch schon so ’ne Art Penner?
In der Bahnhofshalle gab es nur einen defekten Fahrkarten-Automaten, einen geschlossen Schalter und ein ungemütliches Kiosk, das zu dieser Uhrzeit natürlich auch nicht mehr geöffnet hatte. Tanja gähnte und ging hinaus in die Dunkelheit.
Draußen schneite es gerade und die Schneeflocken tanzten um die einzige noch funktionierende Straßenlaterne. Die Flocken rieselten sanft nieder und wurden eins mit der dicken Schneedecke, die den Vorplatz des kleinen Bahnhofes bedeckte. Tanja sah sich um und musste schnell einsehen, dass die Bürgersteige schon längst hochgeklappt waren. In diesem Vorort war nichts los – eine Einöde aus kalten Mauern und kahlen Bäumen.
Nur eine kleine Kaschemme, eine unbedeutende Kneipe, schien noch nicht geschlossen zu haben. Tanja war das egal, doch sie brauchte Wärme. Der Schnee knirschte, als sie auf das Haus mit dem Schild „Gleis 66“ zuging und die Tür öffnete.
Der Laden war wirklich nicht gerade gemütlich: Eine Theke mit einem alten, dicken Mann, der gerade Bier zapfte, und vier kleine Tische mit Stühlen waren im Raum, sonst nichts. Es war alles sehr kahl. Nur eine Hand voll Menschen besuchte diese Kneipe – einsame Menschen, fand Tanja.
Sie schüttelte den Schnee von ihren langen, schwarz gefärbten Haaren, setzte sich an einen Tisch, machte sich eine Zigarette an und dachte nach. Vor einigen Tagen hätte sie nie gedacht, dass es einmal so kommen würde. Nun, geahnt hatte sie es schon, aber nicht gerade gewünscht. Nur einen Tag zuvor war bei ihr zu Hause die Hölle los gewesen. Das Fass war übergelaufen, als alles zusammen gekommen war: Der Anruf aus der Schule; die Packung Zigaretten, die ihr Vater in ihrem Zimmer gefunden hatte; und dann noch die heimliche Sache mit dem Piercing. Was denken die sich denn? Ich bin doch kein Baby mehr, ich bin jetzt fast fünfzehn, fast erwachsen. Am Vorabend war sie dann an dem Punkt angelangt, abzuhauen, richtig wegzugehen. Am Morgen hatte sie ihre Klamotten, ihren mp3-Player und Bücher in ihre Schultasche gepackt, so dass niemand in ihrer Familie auch nur Verdacht schöpfen konnte. Anstatt zur Schule war sie direkt zum Bahnhof gefahren und dann war sie auch schon weg. Sie hatte die ganze Zeit ihr Handy ausgelassen – ihr war klar, dass sie etliche Kurzmitteilungen erhalten würde, wenn sie jetzt das Telefon einschaltete. Zudem hatten ihre Eltern bestimmt schon alle ihre Freunde angerufen und morgen würden sie sich bestimmt schon an die Polizei wenden. Doch Tanja wusste, dass sie dann über alle Berge sein würde, auf dem Weg in ein neues Leben, ein Leben ohne nervige Eltern und Lehrer.
„Hier, bitte!“ Plötzlich stand ein Glas mit einem rötlichen Likör auf ihrem Tisch: Erdbeer-Limes.
„Aber ich habe doch nichts bestellt“, sagte Tanja und hob ihren Kopf. „Noch nichts“, fügte sie dann beim Anblick des widerwärtigen Wirts noch schnell dazu, da sie befürchtete, dass er sie bald rausschmeißen würde, falls sie langsam nicht etwas zu trinken orderte.
Doch der alte Mann zeigte trocken nach hinten, bevor er wieder zum Tresen ging. „Kommt von dem Kerl da am Tisch!“
Sie schaute in die düstere Ecke. Nur eine schwache Lampe und eine Kerze beleuchteten das Gesicht des Mannes. Tanja fand auf den ersten Blick, dass er nicht mal so schlecht aussah. Er wirkte sportlich und wesentlich fitter als die meisten anderen, die es in diese Kaschemme verschlagen hatte. Das Mädchen schätzte ihn auf ungefähr dreißig. Er hatte kurze, braune Haare und schrieb irgendetwas auf einen Schreibblock, bevor er aufblickte und Tanja anlächelte. Ach du Scheiße, was mache ich jetzt? Sie nippte verlegen an dem Getränk und schaute zu dem Mann rüber. Er war wieder auf seine Notizen fixiert. Das Mädchen raffte sich auf. Kann es denn überhaupt noch schlimmer kommen?
Tanja ging zu dem Mann. „Kommt das hier von Ihnen?“ Er nickte und lächelte dabei. „Aber woher wussten Sie denn, dass Limes mein Lieblingsgetränk ist?“
Er grinste und legte einen Bleistift zur Seite. „Wirklich? Dein Lieblingsgetränk? Das ist ja lustig!“ Er legte den Schreibblock auf einen kleinen Stapel mit Skizzenmappen und trank einen Schluck von seinem Bier. „Ich bin Daniel. Setz dich doch!“
Sie starrte kurz auf den Mann. Etwas in seinem Lächeln kam ihr sehr vertraut vor. Das Kerzenlicht schien sich ganz kurz zu verdunkeln. Das Mädchen setzte sich. „Ich bin Tanja“, sagte sie und wusste nicht, was sie sonst noch sagen sollte. Sie sahen sich an, bevor sie auf den Boden blickte. Was will der Kerl von mir? Sie versuchte das Schweigen vertreiben: „Was haben Sie denn da eben geschrieben?“
Er lächelte und zeigte ihr den Block. Eine Zeichnung zeigte ein dunkelhaariges Mädchen, das an einem Tisch saß und in die Leere starrte. „Das bin ja ich!“
„Na ja, wenn ich nichts zu tun habe, dann zeichne ich irgendwas, irgendjemanden“, erklärte Daniel und bevor das Mädchen etwas sagen konnte, fügte er noch hinzu: „Und ich male nun mal gerne schöne Menschen.“
Tanja wurde rot. Sie wusste nicht, was sie darauf sagen sollte, ob sie empört sein sollte oder erfreut. So trank sie stattdessen einen kräftigen Schluck von dem Erdbeer-Likör. „Sie können wirklich gut zeichnen. Ich würde so etwas auch gerne können. Aber in der Schule bin ich in Kunst eine Niete.“
Daniel lehnte sich zurück und musterte sie kurz. „Kommst du hier aus der Gegend oder von weiter her?“ Tanja wusste nicht recht, wie sie antworten sollte. „Bist du unterwegs?“ Sie nickte und trank. Er erkannte sofort die Unruhe in ihren schönen braunen Augen. Er winkte dem Wirt zu, der ihr ein neues Glas von dem süßen Schnaps einschenkte. „Du bist abgehauen!“
Oh, Gott, ich muss weg! Tanja wollte aufstehen, stockte jedoch und sah in Daniels Augen. Langsam sank sie wieder auf den Sitz.
„Keine Angst, ich werde dich nicht verraten.“ Die Kerze auf dem Tisch flackerte durch einen Luftzug. „Ich weiß, was du durchmachst. Meine Jugend war auch nicht einfach.“
Tanjas trockene Kehle brauchte ein neues Gläschen Limes, das der Wirt auch schon brachte. „Ich…“ sie schaute auf den Boden. „Ich habe es zu Hause nicht mehr ausgehalten.“
Daniel nickte. „Ich kenn das, ich bin früher oft von zu Hause abgehauen.“
„Du… ähm, Sie haben…“
Der Mann lächelte. „Bleiben wir doch beim ‚Du’. Ich fühle mich schon alt genug.“
Tanja grinste. „Also… ähm… Daniel, du hattest aber doch keinen Stress, wegen einem winzigen Piercing.“
„Einem Piercing? Nee, kein Piercing!“
„Sondern?“
„Ich hatte zu Hause Stress, weil ich mich tätowieren ließ.“ Er krempelte seinen Arm hoch und zeigte ihr einen um den Arm geschlungenen, grünlichen Drachen, der im Vergleich zum brennenden Schädel an Ellbogen etwas verblasst war.
Einer von Tanjas Freunden zeichnete oft in langweiligen Unterrichtstunden Tribals und andere Tattoo-Vorlagen. Solche Drachen hat er auch hin und wieder gezeichnet. Daniels Tätowierung sah aber eine Nummer besser aus. Sie war begeistert. „Und was dann?“
Er trank einen Schluck. „Ich bin abgehauen und habe mich als Tätowierer versucht.“
„Wow, ist das stark! Was ein geiler Job.“ Daniel reichte ihr eine Zeichenmappe rüber. Sie blätterte sie durch und erkannte Unmengen handgezeichneter Tattoo-Motive aller Art. Wie kann jemand so gut zeichnen?
„Na ja, hatte ein paar finanzielle Probleme, musste vor drei Jahren meinen Laden schließen. Seitdem bin ich arbeitslos und zeichne hier und dort noch Motive.“
Tanja war fassungslos. „Du hast hier ja wirklich geile Motive. Wie lange braucht man denn, um sich so etwas stechen zu lassen?“ Sie zeigte auf ein wirres Schwarz/Weiß-Muster.
Daniel steckte sich eine Zigarette an und bot ihr auch eine an. „Na ja, das hängt ganz davon ab, wen du tätowierst. Die meisten Menschen können keinen Schmerz vertragen, wenn sie sich ein Kunstwerk stechen lassen. Die wissen überhaupt nichts über diese Form der Ästhetik, darüber was es einem Tätowierer bedeutet. Sie zappeln nur rum, in alberner Vorfreude und stöhnen auf Grund der Schmerzen hier und der Wehwehchen dort. Man wartet immer darauf, das perfekte Model zu haben, ein Model worauf man sich in vollendeter Form verewigen kann, worauf man sein Meisterwerk stechen kann. Aber da kann man lange warten.“
Das Eis war gebrochen. Tanja war fasziniert von seinem Eifer und trank einen Limes nach dem anderen, den der Wirt fast automatisch nachschenkte. „Ich wäre da ganz anders. Wenn man schon die Ehre hat, ein wirklich geiles Tattoo zu bekommen, dann muss man schon den Schmerz wegstecken können.“
Daniel war gerührt über dieses junge, doch tapfere Mädchen. Er bemerkte es zu spät, als sie sich die zweite Zeichenmappe grabschte und diese aufschlug. Sofort verdüsterte sich seine Miene. „Halt, warte!“
Zu spät! Tanjas Augen wären beinahe raus gefallen, als sie die Skizzen begutachtete. Die Mappe war voller Anatomie-Skizzen, auf der linken Blockseite kahl und auf der rechten Seite mit Tattoo-Mustern versehen. Schnell wurde dem Mädchen klar, dass alle Detail-Zeichnungen zusammen passten. „Was ist… das?“
Daniel trank hektisch einen Schluck Bier und schaute sich beunruhigt um. „Was? Ähm! Ach… das da? Ja… das ist nichts! Habe ich mal irgendwann zwischendurch gezeichnet.“
Tanja schüttelte langsam den Kopf, immer noch auf die Zeichnungen fixiert. „Nein, das kann nicht sein! Soviel Mühe macht man nicht mal eben zwischendurch.“ Sie schaute auf, schaute tief in Daniels Augen. „Dies hier ist dein Meisterwerk, nicht?“ Jemand schien die Kneipe zu verlassen, denn beim Öffnen der Tür, flackerte die Kerze und schien auszugehen. Doch kurz darauf endete das hektische Flackern und die Flamme leuchtete wieder auf.
Daniel starrte auf das Mädchen, blickte dann zur Decke und nickte schüchtern. Tanja trank ein ganzes Pinchen auf Ex, ohne den Blick von dem… Künstler abzuwenden. „Und… bei wem wirst du es machen?“
Daniel schluckte. „Wie ich eben schon sagte, solche Models gibt es nicht. Models, die diese Kunst in Form von Schmerz ertragen können.“ Er trank sein Bier aus. „Models, die ein solches Werk wert sind.“
Tanja lächelte. „Du wirst dafür schon die Richtige finden.“
„Bestimmt. Irgendwo wird es eine Schönheit geben, eine Schönheit, die ich noch perfektioniere.“
„Es gibt viele schöne Mädchen!“
„Eine sitzt mir gegenüber“, platzte es ihm heraus.
Tanja senkte verlegen den Kopf und stand darauf abrupt auf. „Ich glaub, ich muss jetzt gehen. Danke für die Limes!“
„Wo wirst du denn heute Nacht schlafen?“ Daniel stand auf und steckte seine Zeichenmappen in seine Tasche.
Tanja wusste nicht so recht Bescheid. „Nun, ich werde schon irgendwo unterkommen.“
Daniel zog seinen Mantel an. „Du kannst ruhig bei mir übernachten. Da ist es wenigstens warm in dieser kalten Nacht.“
„Ich weiß nicht…“ Aber es ist nicht gerade angenehm draußen. „Meinst du?“
„Klar kein Problem, ich wohne hier in der Nähe. Du kannst auf dem Gästebett übernachten.“ Er legte ein paar Geldscheine für den Wirt auf den Tisch und beugte sich zu dem Mädchen rüber. „Keine Angst“, sagte er sanft.
Tanja lächelte und ging ihre Tasche holen. „Du hast Recht.“
Der Tätowierer sah ihr nach, wie sie ihr Gepäck hohlen ging, dass immer noch da dem anderen Tisch lag. Er lächelte. „Bist du soweit?“
Das Mädchen nickte, als sie zur Tür ging.
Er winkte dem Wirten zum Gruß und hielt ihr die Tür auf. „Na, dann wollen wir mal.“
Die Kerze auf dem Tisch begann wieder heftig zu flackern. Die Flamme schien mit dem kalten Winterhauch zu kämpfen, zuckte jedoch noch ein paar Mal… und erlosch.