Das Nest des Rotkehlchens
Das Nest des Rotkehlchens
Wer war sie?
Ich kannte sie seit acht Jahren und war mir niemals darüber bewusst, was für ein Mensch in dieser älteren Hülle aus relativ geschmackvollen Klamotten und natürlicher Schönheit steckte.
Ich weiss nur, dass sie sehr klug war.
Nun gehe ich durch ihr verlassenes Häuschen am Rande der Stadt. Draussen zwitschern die Vögel und aus der Nachbarschaft dringen Geräusche eines Rasenmähers durch die geschlossenen Fenster an mein Ohren.
Wie oft war ich schon in diesem Häuschen? Ich kann die unzähligen Male nicht fassen und mir wird schwindelig. Ich stehe in ihrer Küche, die nun allmählich ein bisschen verlassen wirkt. Auf den oberen Regalen stehen verstaubt die großen Gewürzgefäße, zwischen denen sich einige Spinnen eingenistet haben.
Wie gemütlich es hier früher einmal gewesen war! Der nun ausgestorbene Kachelofen in der Ecke lief immer, wenn ich sie im Winter besuchte, auf Hochtouren und verlieh der Küche somit eine wohlig- warme Atmosphäre. Auf dem Herd stand grundsätzlich ein großer Topf mit kochendem Pudding, denn sie wusste, wie sehr ich ihren Pudding liebte. Ich spüre den süßlichen Geruch noch heute in der Nase und gerade lecke ich mir mit der Zunge über meine Lippen, um den bezaubernden Geschmack ihres Vanillepuddings noch einmal in mich aufnehmen zu können.
Ausgerechnet jetzt fällt mir ein, wie sie immer, wenn es mir einmal schlecht ging, sagte, dass Pudding ein perfektes Seelenbalsam sei, denn er lege sich wie eine Wärmflasche auf die schmerzenden Stiche im Magen. Ihr Pudding wirkte dann wahre Wunder, denn, wie ich mir jetzt sicher sein kann, sie war wie eine wundersame Zauberin, die einem stets Gefühle verlieh, die einem halfen, auch in Zeiten größten Kummers noch aufrecht gehen zu können.
Gedankenverloren streiche ich mit meiner Hand über den Kachelofen und fast noch fühlt dieser sich warm an, was vielleicht daran liegt, dass ich das Knistern der verbrennenden Holzscheite wieder vernehme.
Ich muss die Küche verlassen, denn mir wird ganz schwindelig und schlecht. Ich fühle mich in diesem Moment so unwohl, dass ich das Haus auf der Stelle verlassen möchte, doch meine Beine tragen mich durch den ergrauten Flur, die große mit dunkelgrünem Teppich überzogene Treppe hinauf.
Während ich im oberen Stockwerk ankomme, wird mir wieder voller Schrecken bewusst, dass ich niemals hier oben gewesen bin.
"Wo alte Damen bei Vollmond nächtigen, das interessiert die Mainzelmännchen und die kleinen Knollennasen-Zwerge, aber ein junger Mann wird daran kaum seine Freude finden.", höre ich sie deutlich sagen. Damit war das Thema Hausbesichtigung des oberen Stockwerkes ein für alle Male erledigt.
Ich fühle mich wie ein Schwerverbrecher, der klaren Verstandes ein unmissverständlich ausgesprochenes Verbot bricht, doch ich spüre, dass es kein Zurück gibt, sie selbst wollte es so.
Die Wände des Flures sind versehen mit hellgrüner, altmodisch wirkender Tapete, die einem das Gefühl der Beklemmung in den Magen legt.
Vier Holztüren sind zu sehen und ich weiss sofort, welche die entscheidende ist.
Sie ist sehr alt und mit geschmackvollen Verschnörkelungen versehen, wohingegen die übrigen Türen aus schlichtem Holz bestehen.
ich mache einen Schritt auf die Tür zu und berühre leicht die Klinke, indem ich zögerlich mit den Fingerspitzen über sie streiche. Die Klinke fühlt sich erschreckend kalt an. Ich frage mich, warum ich denn erwartete, es könnte ein Hauch von Wärme von ihr ausgehen.
Zum ersten Mal denke ich: Das Haus ist tot mit all seinen Räumen und Türen. Es ist mit ihr gestorben.
Ich hole tief Luft und drücke die Klinke hinunter, denn ich kann nicht länger so ausharren, ohne dass mir die Kraft zum Atmen genommen wird.
Ich stehe in einem Wunder, ich stehe in ihr, in ihrem Herzen.
Mein Herzschlag beruhigt sich schnell, denn was ich da sehe, ist wunderbar, einzigartig und beazaubernd zugleich.
Der Raum ist rund. Da an dem äußeren ihres Hauses keinerlei Rundungen zu erkennen sind, bin ich sicher, dass dieser Raum eine doppelte Wand besitzt und eigens für sie angefertigt wurde.
In der Mitte des Raumes steht ein Brunnen. Er besteht aus vier Schüsseln, die einst das Wasser von der kleinsten, oberen in die die größte, untere leiteten, um es danach in der Erde verschwinden und es dann wieder hochpumpen zu lassen. Der Brunnen scheint aus schneeweissem Marmor gemacht zu sein und besitzt von der Mitte des kleinsten Schälchens ausgehend eine kleine Säule, auf der als oberster Punkt ein Einhorn thront.
Nun schweigt der Brunnen still.
Die kreisförmige Wand ist ausgetäfelt mit einer Art buntverzierter Wandkarte, die durch den gesamten Raum verläuft. Auf ihm zu sehen sind Bilder von verschiedenen Landschaften. Als ich näher herangehe, bemerke ich, dass es sich hierbei um den Lebenslauf eines Rotkehlchens handeln muss.
In der Wand ist eine Tür. Noch weiss ich nicht, wohin sie wohl führen mag.
Ich schaue zur Decke und atme überrascht auf. Direkt über meinem Kopf befindet sich das Universum. Eine riesige Planetenlaufbahn komplizierter Konstruktion ist etwa einen Meter über meinem Kopf befästigt worden.
Nun kann ich mir denken, wohin die Tür mich wohl führen könnte. Ich öffne sie und stehe vor dunkelblauen, mit gelb- silbernen Sternen versehenen Treppenstufen. Bedächtig steige ich die Stufen hinauf, die in einem abermals runden Raum enden. Sofort fällt mir auf, dass der Boden des Raumes aus einer dicken Glasscheibe besteht unter der sich die Planetenkonstruktion befindet. Die Wandtäfelung zeigt ebenfalls einen Sternenhimmel. Ich stehe noch immer am Ende der Treppe und staune. Links von mir befindet sich ein roter Schalter, der die Planeten zum rotieren bringen wird. Ich drücke ihn ohne zu zögern, denn an Stelle der Angst und Beklemmung hat sich nun ein Gefühl der Neugierde und Begeisterung in mir ausgebreitet.
Ein lautes Knarren ist zu vernehmen und langsam beginnen die Planetenlaufbahnen zu rotieren.
Ich stelle mich in die Mitte des Raumes und schaue hinunter auf das Schauspiel. Da ich rein gar nichts über Planeten weiss, bin ich mir nicht sicher, ob sie auch richtig konstruiert wurden und realitätsgetreu rotieren, doch der bloße Anblick der Planetenbahn erfüllt mich mit Gefühlen größter Ehrfurcht und unermesslichen Glücks.
Nun krame ich zum ersten Mal den Zettel mit den viel Zeilen raus, den sie mir vor ihrem Tod geschrieben hatte.
"Suche nach der Tür oben, betrete mein Herz.
Siehst du mein Glück?
Beschütze es, denn was, wenn es jemand
achtlos fortreisst, wenn ich nichtmehr bin?"
Sie hatte es gewollt, sie wollte ganz sicher, dass ich das Verbot breche und an ihrem Geheimnis teilhabe. Ja, ich soll es sogar beschützen. Ihr Werk, ihr Glück.
Seufzend legte er seinen Stift beiseite, denn hier endete seine Erzählung vorerst.
Das Wichtigste hatte er nun festgehalten.
Dieses Erlebnis lag nun bereits fünfzehn Jahre zurück. Inzwischen war er ein wohlhabender Geschäftsmann geworden, der dennoch nie vergessen hatte, seine Gefühle und Empfindungen zu bewahren.
Diese Geschichte schrieb er nicht für einen fremden Leser, sondern lediglich für sich selber und für eine wundersame Frau, die sich stets um ihn gekümmert hatte, wenn es ihm einmal schlecht ging, nieder.
Er erinnerte sich gerne an ihr Haus.
Nachdem er das Geld in dem Tresor, welcher sich aufgrund von einer bestimmten Planetenstellung öffnete, genommen hatte, um damit nach Vollendung seines achtzehnten Lebensjahres das Haus aufzukaufen, war er noch oft in dem runden Raum gewesen, um die fremdartigen Gefühlsspiele auf sich einwirken zu lassen.
Mitlerweile war das Haus fast vollständig mit Rosen bewachsen. "Wie bei Dornröschen!" , dachte er sich oft, "nur dass ich als Prinz einen leichteren Weg durch die Rosen habe, um es hin und wieder einmal aufzuwecken."
"Sie lebt weiter in diesem Raum", dachte er zum unzähligen Male und ein kurzer Schauer lief ihm den Rücken hinunter.Das Haus war nicht tot!
Danach machte er sich auf, um die Morgenzeitung aus dem Briefkasten zu holen und seine Frau und Kinder zu wecken.