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Das Puzzle
Das "Blue Camel" war eine typische Eckkneipe der Moderne. Es gab zwei Pooltische, einen Zigarettenautomaten, eine lange Bar mit Hockern und in den Abendstunden, wenn das Etablissement am Besten besucht war, hing eine Rauchwolke wie Nebel über den Köpfen. Es roch ständig nach Zigarettenqualm, billigem Schnaps und ungewaschenen Körpern. Die trübe Deckenfunzel, der miserable Zustand der Herrentoilette und die unentwegt plärrende Jukebox vervollständigten das Bild. Der Wirt war eine einzige Bestätigung seines Klischees: rundlich, glatzköpfig, ständig mit Gläserputzen beschäftigt und immer ein Ohr auf jene Elendsgeschichten gerichtet, die viele seiner Stammkunden nach dem sechsten Bier anzustimmen pflegten.
Frank Miller saß zusammengesunken auf seinem Hocker, eine halb heruntergebrannte Zigarette im Mundwinkel und ein Glas Heineken vor sich, in das er ärgerlich und mit vom Alkohol leicht glasigem Blick hinein starrte. Mit seinem kurzen braunen Haar, den Jeans und der schwarzen Stoffjacke wirkte er wie jede andere der hier versammelten traurigen Gestalten. Man kannte ihn und seine stille Art bereits und ließ ihn für gewöhnlich in Ruhe. Vor allem da man wusste, dass er leicht aufbrauste und dann schon mal um sich schlug.
Gerade an jenem Abend wollte Frank nicht gestört werden, denn er hatte, wieder einmal, seinen Job verloren. Er war in einem dieser Versicherungsunternehmen im Westteil der Stadt als Sachbearbeiter beschäftigt gewesen, doch seine Inkompetenz, das schlechte Benehmen den Kollegen gegenüber und seine Unfähigkeit, Fehler einzugestehen wurde seinem Vorgesetzten schließlich zu viel und er warf ihn raus. Selbstverständlich machte Frank alle anderen dafür verantwortlich, nur nicht sich selbst. Er war fehlerlos und wehe dem, der das Gegenteil behauptete!
Die Uhr über dem Tresen zeigte 21:34 Uhr. Larry King war gerade im Fernsehen zu sehen. Eigentlich verpasste Frank nie eine seiner Shows, ja er zeichnete sie sogar manchmal auf, wenn er es zeitlich nicht einrichten konnte rechtzeitig zu Hause zu sein. Aber heute war ihm das völlig egal. Mindestens so egal wie sein allabendliches Billardspiel hier im "Blue Camel", dass er diesmal ausfallen ließ. Stattdessen vergnügten sich zwei junge, offensichtlich stark angetrunkene Burschen mit den Queues und waren dabei so laut, dass sie sogar hin und wieder die Jukebox übertönten.
Gegen elf wollte der Wirt schließen und bat Frank höflich, aber bestimmt, doch bitte zu gehen.
'Mistkerl', dachte er, 'der will doch gar nicht schließen, der will mich nur loswerden.'
Doch er behielt seine Gedanken für sich, drückte die Zigarette aus, seine zehnte an diesem Abend, legte einige Dollarnoten auf den Tresen und trat auf die Straße. Ein kalter Wind fuhr ihm sogleich in den Nacken. Fluchend klappte er den Kragen seiner Jacke hoch und machte sich auf den Heimweg.
Nach einigen Minuten stummen Wanderns versank er in Gedanken. Früher, in seiner Jugend, da war alles noch besser. Da konnte er mit seinem Chevy die Straßen entlang brausen, ein süßes Mädchen im Arm und eine Dose Bier im Anschlag und einfach nur das Leben genießen. Er hatte auch Baseball gespielt und einmal den entscheidenden Punkt in einem Spiel gemacht. Heute hatte er weder einen Chevy, den hatte er gegen einen Baum gesetzt als er einmal betrunken am Steuer saß, noch ein hübsches Mädchen. Die hatten ihn alle für erfolgreichere Typen mit dickeren Brieftaschen verlassen. Bis auf Bethany.
Er hatte sie in der Highschool kennengelernt und sich sofort in sie verliebt. Ihre tiefblauen Augen und ihre Art, sich die Haare aus dem Gesicht zu streichen hatten ihn von Anfang an verzaubert. Leider auch James, seinen damaligen besten Freund und da dieser einfach besser aussah und charmanter war als Frank, dauerte es nicht lange und die beiden waren ein Paar. Obwohl er nach außen hin ihre Beziehung akzeptierte, hatte er James nie verziehen, dass er ihm seine Angebetene weggenommen hatte. Umso schlimmer wurde es durch die Tatsache, dass Frank in seinem ganzen Leben außer Bethany nie eine Frau wirklich geliebt hatte. Er wollte immer nur ihre Körper, nie ihre Persönlichkeiten.
Nach einigen Jahren heirateten die beiden. Beim Gedanken an die Trauung wurde ihm heute noch schlecht aber an die Tage danach erinnerte er sich stets mit einem Lächeln. Er hatte es ihnen heimgezahlt, oh ja, das hatte er.
Während er so durch die Nacht schritt und innerlich sein Leben verfluchte, bemerkte er gar nicht, dass seine Füße ihn auf einen anderen als den üblichen Heimweg trugen. Er sah erst auf, als der sanfte Schein einer Schaufensterbeleuchtung sein Gesicht streifte. Verwirrt fand er sich vor einem hell erleuchteten Geschäft wieder. "Antiquitäten Dunbar und Sohn" stand in verschnörkelten Buchstaben auf einem Schild über der Tür.
Für einen Moment war er erstaunt über die Tatsache, dass so spät überhaupt noch etwas geöffnet hatte. Instinktiv beschloss er, hinein zu gehen, allein schon deshalb, weil es drinnen sicher wärmer war.
Das leise Klingeln einer Glocke begleitete sein Eintreten. Der Geruch von altem Holz und Staub drang ihm in die Nase und der Kronleuchter an der niedrigen Decke sandte ein sanftes, leicht tanzendes Licht in den Raum. Ein wenig schüchtern sah er sich um. Im Zimmer stapelten sich die verschiedensten Dinge, fleckige Spiegel lehnten an den Wänden, altertümliche Möbel sammelten neben ramponierten Musikinstrumenten Staub an, Bücher in allen Größen und Umfängen reihten sich aneinander, Gobelins, verschiedene Services und Bestecke lagen nutzlos in den Ecken herum. Die Stücke wirkten zwar alt, schienen aber in gutem Zustand und relativ gepflegt zu sein, bis auf einige Spuren Schmutz hier und dort.
"Kann ich ihnen helfen?", sagte plötzlich eine Stimme.
Frank zuckte erschrocken zusammen und drehte sich um. Aus dem hinteren Teil des Raums trat ein schmaler, älterer Herr mit spärlichem, grauem Haar und einer krummen Nase. Seine Augen funkelten belustigt unter buschigen Brauen. Er trug einen etwas vermodert aussehenden, irgendwie albern wirkenden Frack und polierte Herrenschuhe.
"Kann ich ihnen helfen?", wiederholte er freundlich, als Frank nicht antwortete.
"Oh äh, nein, ich, ich seh mich nur um, danke.", stotterte er.
Der Alte tat als hätte er es nicht gehört und trat näher. Er deutete auf einige Bilderrahmen, die neben ihm an der Wand lehnten.
"Kann ich sie vielleicht für einen von denen hier begeistern? Sie sind ausgesprochen alt aber günstig. Sie verschönern jeden Raum und jedes Bild."
"Nein danke.", sagte Frank, jetzt wieder gefasst und, wie es seine Art war, nicht gerade höflich.
"Nun dann sehen sie sich nur um. Bei Dunbars findet man immer etwas, obwohl die Dinge meistens eher ihren Besitzer finden."
Bei den letzten Worten lächelte er geheimnisvoll, was Frank einen kleinen Schauder über den Rücken jagte. Er wusste nicht wieso, aber der Alte war ihm unheimlich.
Er sah sich tatsächlich noch einen Moment um, doch er fand nichts, was sein Interesse weckte. Schon wandte er sich zum Gehen, als sein Blick auf eine unscheinbare, längliche Schachtel gleich neben der Tür fiel. Sie hatte einen grünen Deckel und sah etwas angeschlagen aus. Einem plötzlichen Gefühl folgend trat er näher. Oben drauf konnte er die Worte "200 Teile" entziffern. Es musste sich wohl um ein Puzzle handeln, obwohl er nirgends ein Bild vom Motiv entdecken konnte. Er nahm die Box in die Hand und betrachtete sie einen Moment lang stirnrunzelnd. Frank hatte Puzzle schon immer gemocht, sich diesem Hobby aber lange nicht mehr gewidmet.
"Was kostet das hier?", fragte er, ohne den Blick abzuwenden.
Der Verkäufer trat näher und sah Frank über die Schulter.
"Oh nicht viel, das liegt schon sehr lange hier. Es wollte nie jemand kaufen. Ich habe es vor einigen Jahren auf einem Flohmarkt in Denver erstanden. Der Händler sagte mir damals, es sei ein ganz besonderes Puzzle, das für jemand ganz Bestimmtes gemacht worden sei. Ich habe nie herausgefunden, was er damit meinte.
Aber wer weiß,", sagte der alte Händler plötzlich verschwörerisch und lächelte wieder so komisch, "vielleicht sind sie ja derjenige."
Frank blickte ihn an und sah den Schalk in seinen Augen. Für solche Scherze hatte er nun wirklich nichts übrig!
"Wie viel?", fragte er ruppig.
"Oh für sie Sir...drei Dollar achtzig.", antwortete der Alte, immer noch lächelnd.
Frank gab ihm das Geld, murmelte ein "Wiedersehen" und verschwand mit der Schachtel unterm Arm.
Zwanzig Minuten später traf er in seiner 2-Zimmer-Wohnung im dritten Stock eines Mietshauses ein. Er schloss die Tür hinter sich ab, legte die Schachtel auf den Wohnzimmertisch und genehmigte sich ein Narragansettbier aus dem Kühlschrank. Dann ließ er sich in den Sessel vor dem Fernseher fallen, schloss die Augen und trank seufzend einen Schluck. Der kühle Alkohol entspannte ihn und jagte einen wohligen Schauer über seinen Rücken. Morgen würde er sich nach einem neuen Job umsehen müssen. Wie lange er diesen wohl behalten würde?
Schließlich richtete er sich etwas auf und dabei fiel sein Blick auf das Puzzle. Jetzt, im Nachhinein, fragte er sich plötzlich, warum er es gekauft hatte. Es sah ihm nicht ähnlich, Geld für Spielereien auszugeben, vor allem dann nicht, wenn er kaum welches hatte. Aber als er in diesem Laden stand und sein Blick auf diese Schachtel fiel...er wusste es nicht auszudrücken, aber irgendwie hatte es ihn gerufen, so seltsam das auch klingen mochte.
'Na ja, Scheiß was drauf, wenn ich schon Geld für sowas ausgebe, dann soll es sich auch lohnen verdammt noch mal.'
Also schob er den Sessel an den Tisch heran, nahm den Deckel von der Box, schüttete die Teile auf die Tischplatte und begann damit, es zusammenzusetzen. Während er das tat, dachte er an den alten Antiquitätenhändler. Ein seltsamer Vogel war das gewesen. Aber so wurden wohl alle Menschen, wenn sie älter wurden. Er brauchte sich nur an seinen Onkel Hap zu erinnern, der manchmal aus unerfindlichen Gründen anfing zu lachen und vor sich hin zu brabbeln. Inzwischen war er längst tot und Frank vermisste ihn nicht sonderlich. So wie er eigentlich niemanden aus seiner Familie wirklich vermisste. Sie wohnten alle an der Ostküste, also weit weg und das passte ihm ganz gut in den Kram. Seine zwei Brüder waren beide erfolgreicher als er, was seine Mutter nie vergaß, ihm vorzuhalten, wenn sie sich sahen. Was nach ihrem Geschmack zu selten, nach seinem aber viel zu oft war. Einen Vater hatte er nicht mehr, der hatte sie sitzenlassen als Frank drei Jahre alt war.
Gerade hatte er eine kleine Gruppe von Teilen aneinander gelegt, die einen Schrank darstellten. Als er kurz aufblickte stellte er fest, dass er seltsamerweise genauso aussah wie der in Franks Wohnzimmer. Doch er dachte sich nichts dabei, schließlich war es nur ein gewöhnlicher Schrank und es gab viele dieser Art. Das Puzzle musste in seiner Vollendung wohl ein typisches Zimmer darstellen. Ein wenig enttäuschte ihn das. Er hatte mit einem etwas ausgefalleneren Motiv gerechnet.
Doch nach einigen Minuten hatte er das obere rechte Viertel fertiggestellt und es ähnelte nun nicht nur irgendeinem Wohnzimmer, sondern genau seinem Wohnzimmer. Da war die alte Stehlampe mit dem Riss im Schirm und das Bücherregal, in dem niemals Bücher standen.
Er hielt einen Moment inne und betrachtete stirnrunzelnd die restlichen Teile. Was hatte der alte Händler gesagt? Das Puzzle sei für jemand ganz Bestimmten gemacht? Konnte das ein Zufall sein?
Ärgerlich schüttelte er den Kopf und wischte den Gedanken beiseite. Unsinn! Er glaubte nicht an solchen Hokuspokus. Der Alte hatte ihm einfach nur eine tolle Geschichte erzählt um das Puzzle endlich losschlagen zu können. Und er hatte sich davon auch noch beeindrucken lassen.
Er fuhr fort in seinem Tun und konzentrierte sich eine Weile nur auf das Legen der Teile. Doch dann schweiften seine Gedanken wieder ab und kehrten erneut zu dem merkwürdigen Händler zurück. Seltsam. Er konnte sich gar nicht mehr an sein Gesicht erinnern und Frank hatte eigentlich kein solch schlechtes Gedächtnis. Wie hieß er noch mal? Dunkin? Franklin? Auch das wusste er nicht mehr. Merkwürdig.
'Ach was solls, hab wohl zu viel Bier getrunken.'
Und damit begnügte er sich.
Nach einer Weile, in der das Puzzle mehr und mehr Gestalt annahm, fiel ihm die Ähnlichkeit zwischem dem Motiv und seinem Zimmer nun doch deutlich ins Auge. Da waren bestimmte Details wie die Fernbedienung, die auf dem Sofakissen lag oder die kaputte Uhr an der Wand, der ein Zeiger fehlte, die mit seinem Wohnzimmer übereinstimmten. Es wirkte wie ein Foto von seiner Einrichtung. Langsam bekam er es mit der Angst zu tun.
'Was geht hier vor? Das kann doch nicht wahr sein!'
Einen Moment lang glaubte er an einen üblen Scherz, den ihm jemand spielte. Doch als er zögernd weiter Teil an Teil legte und das Bild immer mehr jenes Zimmer abbildete, wurde die Sache erst richtig unheimlich. Denn auf dem Motiv des Puzzles konnte er sich selbst erkennen, wie er vornübergebeugt im Sessel am Tisch saß. Es gab keinen Zweifel, er war es. Mit einem Schrei auf den Lippen sprang er auf und sah sich gehetzt um.
"Was soll das? Was ist hier los? Zeig dich du Mistkerl!", brüllte er panisch den vermuteten miesen Scherzbold an.
Er rannte zum Kühlschrank, griff nach einer Dose Bier, riss sie auf und schüttete den Inhalt in seine Kehle. Dann warf er sie weg, stützte sich am Kühlschrank ab und schloss die Augen.
'Ganz ruhig Frank, das ist nur ein Scherz, jemand will dich auf den Arm nehmen. Aber davon lässt du dich nicht beeindrucken, auf gar keinen Fall!', versuchte er sich zu beruhigen, 'Es ist nur ein Puzzle!'
Schon etwas ruhiger und entschlossen, sich nicht so einfach hochnehmen zu lassen, setzte er sich wieder an den Tisch und fuhr mit dem Puzzlen fort. Es fehlten nur noch vier Teile, die, sollten sie wirklich das letzte Detail seines Wohnzimmers darstellen, das Fenster hinter ihm abbilden mussten. Er konnte ein leichtes Beben seiner Finger nicht unterdrücken. Verärgert darüber fügte er die letzten Steine des Mosaiks ein.
Und dann gefror sein Innerstes.
Was er sah, war ein Gesicht. Eine wutverzerrte, wahnsinnige Fratze starrte ihn vom Puzzle aus durch die Scheibe des Fensters an.
Das letzte was er hörte, war das Bersten von Glas.
Als die Polizei am nächsten Tag seine Leiche fand, lagen neben seinem zerschmetterten Körper zwei ausgerissene, schon etwas vergilbte Zeitungsartikel, die offensichtlich mehrere Jahre alt waren. Auf dem einen war das Bild eines vollkommen zerstörten Autowracks zu sehen, das von Polizisten umringt war. Darüber stand:
JAMES UND BETHANY WOOD BEI UNFALL UMS LEBEN GEKOMMEN
Und etwas kleiner darunter:
POLIZEI STELLT MANIPULATION DER BREMSEN FEST
Der andere Bildartikel stellte die Reste eines abgebrannten Hauses dar. Die Schlagzeile lautete:
ANTIQUARIAT DUNBAR UND SOHN FÄLLT GROßBRAND ZUM OPFER