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Das Rütli-Komplott
I
‚Wieso denke ich verdammt noch mal an Gitarren?’
Detektiv Schmopp, wohl der unmusikalischste Mensch auf der Welt, dachte seit einer Weile nach. Er saß auf einer Parkbank am Bodensee, wo auch sein Landhaus lag, und rauchte eine gute Zigarre. Seine vom ewigen Nachdenken und Im-Alter-weise-Werden ergrauten Locken umspielten sein braun gebranntes Gesicht. ‚Das ist ein tolles Bild’, dachte er. Tatsächlich war er mehr rot als braun und mehr verbrannt als gebrannt, aber aufgrund der Häufigkeit solcher Vorfälle war er abgehärtet und spürte nichts. Plötzlich erinnerte er sich, dass er kurz zuvor eine Zeitung erworben hatte. Er schlug sie auf und las:
Wissenschaftler fanden heraus:
Tempo Geschwindigkeitsursache Nummer eins!
Interessant, dachte er. Dann blätterte er weiter. Er las:
Gesucht: Wasserkocher mit Zeitfunktion, Gepflegte-
Unterhaltung-Modus und verschiedenartigen
synthetischen Stimmen. Außerdem eine Katze,
schwarz-grau-rot-braun gestreift. Hinweise bitte
an Kohlweg 2 in 53112 Bonn. Finderlohn
Tatsächlich hatte er eine Katze, rot-grau-schwarz-braun gestreift, mit einem Wasserkocher im Schlepptau gesehen. Er seufzte: „Nicht die richtige. Die Streifen haben die falsche Reihenfolge.“ Er blätterte. Er blätterte. Er las:
Selbstmord von zwei Hochschulprofessoren und einem Homosexuellen in Bochum
Polizei vermutet, Virus stecke dahinter
„Ich habe frei“, kommentierte er den Vorfall.
Auf einmal stand eine mittelgroße, mittelalte, mittelschöne Frau vor ihm. Er konnte sich nicht genau erklären, wie sie da hingekommen sei. Er vermutete, sie sei nicht aus dem Wasser gestiegen; sie schien jedenfalls nicht zu tropfen oder ähnliches. Sie zeigte auf seine Zeitung. Er konnte ihr nicht ganz folgen. Sie kam näher und zeigte auf den Artikel. Da fiel es ihm plötzlich wie Schuppen von den Augen: Die Frau konnte mit Sicherheit nicht lesen und er sollte es ihr vorlesen. Er hub schon an, da unterbrach sie ihn: „Haben Sie das gelesen?“
„Überflogen, ja.“ Er sog etwas Luft ein. Er atmete sie wieder aus.
„Ich bin deswegen hier.“
„Ach.“
„Ich habe gehört, sie seien der Beste.“
„Ach.“
„Sie sind doch Detektiv?“
Er zögerte. „Ja“, sagte er schließlich.
„Ich bin die Mutter von einem der Verstorbenen. Mein Sohn war Theologe.“
„Ach so. Und er war schwul.“
„Ja... woher konnten Sie das wissen?“
„Nur so ein Gedanke.“
Schweigen. „Ich will Sie mit dem Fall befassen“, sagte die Frau schließlich.
„Aber es war Selbstmord, gnä’ Frau“, erklärte er.
„So steht es überall. Aber es ist komisch. Die Leiche wurde uns vorenthalten. Wir konnten Sie nicht anschauen.“
„Wenn er vom Hochhaus gesprungen ist, hätten Sie auch wohl nicht mehr viel erkannt, gnä’ Frau“, erklärte er.
„Das wurde uns auch gesagt. Aber die Umstände. Mein Sohn hatte nie Depressionen oder sonstiges. Und ich glaube nicht an diese Virustheorie.“
„Was vermuten Sie also?“
„Nichts. Deswegen wende ich mich auch an Sie.“
„Verständlich.“
„Nehmen Sie also an?“
„Mein Honorar beträgt 1000 pro Tag.“
Und also besiegelten sie den Vertrag mit einem festen Händedruck.
Schmopp konnte ja nicht ahnen, was für bizarre Geschehen ihn noch erwarteten.
II
Es war wie jeder andere Tag. Es war ein Tag wie jeder andere. Es regnete.
Schmopp fuhr natürlich nach Bochum. Entgegen vieler Meinungen war Schmopp tatsächlich ein Mann der Tat. Er pflegte, einen Satz von Ephraim Kishon zu zitieren: „Was die Japaner tun, ist unlauterer Wettbewerb! Die arbeiten doch tatsächlich während der Arbeitszeit.“ Wer den Sarkasmus nicht verstand, war für ihn schon uninteressant.
Schmopp fuhr also. Langsam. Schneller. Wieder langsam. Er zündete sich eine neue Zigarre an. Es kam ihm alles bekannt vor, wie als ob er es schon einmal erlebt hätte. ‚Ein Fehler in der Matrix’, dachte er. Aber eigentlich mochte er den Film nicht.
Es ging alles sehr schnell: Ein Wagen auf der rechten Spur vor ihm schien irgendeinem Gegenstand, vielleicht auch einem Tier, schien irgendeinem Etwas ausweichen zu müssen, der Fahrer lenkte jedenfalls scharf nach links ein; Schmopp bremste und riss das Lenkrad nach rechts, was ein Fehler war, denn dadurch kam der Wagen ins Schleudern, Schmopp verlor die Kontrolle und sein Wagen war kurz davor, sich zu überschlagen, als er an der Leitplanke zum Stehen kam. Wie auch immer. Er betete ein Ave Maria und rief den Notruf an, um Hilfe für den vielleicht Verletzten im anderen Wagen zu holen. Plötzlich bemerkte er, dass der Wagen des anderen nirgends zu sehen war. Er legte wieder auf und wunderte sich eine Weile. Dann fuhr er weiter.
Kurz vor Bochum wurde er angehalten. „Schönen guten Tag, Führerschein und Fahrzeugpapiere bitte, danke, ja, haben Sie getrunken, konsumieren Sie Drogen, gehen’se mal das Alphabet rückwärts durch, ja, gut, bitte, alles in Ordnung, weiterfahren.“ Nachdem er wieder losgefahren war, konnte er im Radio eine kurze Ansprache des Bundeskanzlers Helmut Zwiebel hören. Er nickte zustimmend bei Worten wie „Innovation-“ oder „Wurstmarkt“, er schüttelte ärgerlich den Kopf bei Worten wie „aber“, „nein“ oder „Fisch“.
Downtown Bochum. Da wollte er schon immer mal hin. Eigentlich nicht, dachte er, aber man muss ja alles mal gesehen haben. ‚Kümmer dich endlich um den Fall!’ tadelte er sich. Also fuhr er schnurgerade Richtung Universität.
Er dachte nach. Er hatte sich ein wenig über den Fall informiert. „Man“ sagt, ein Virus hätte sie vielleicht wahnsinnig gemacht, oder irgendetwas in der Art, jedenfalls sei ein Virus schuld. ‚Schwachsinn’, sagte sich Schmopp. Außer dem Theologen waren es noch ein Philosophieprofessor und ein Literaturwissenschaftler. Er konnte sich keinen rechten Reim darauf machen, was vielleicht diese Akademiker verbinden hätte können.
Dort angekommen, konnte er wohl das höchste Universitätsgebäude Deutschlands sehen. Es war sehr hoch. Das musste er selbst zugeben. Und hier sollte also der Selbstmord passiert sein. ‚Ich hatte gar nicht so Unrecht: man hätte die Verstorbenen wirklich nicht mehr erkannt.’ Er betrat den Hof und bewunderte drei Kreidezeichnungen auf dem Boden. Das schienen die ungenauen Konturen der Unglücklichen zu sein, deren Schädel dem Beton einen Besuch abgestattet hatten. Insgesamt war eine weite Fläche um die Leichenzeichnungen abgeriegelt, und als er sich nur näherte, watschelte auch schon ein etwas korpulenter Polizist auf ihn zu. „Hier is Sperrzone!“
„Wenn ich mich vorstellen darf, mein Name ist Schmopp, mit Doppel-p; ich bin Privatdetektiv und wurde von der Familie eines der Opfer aufgesucht. Man ist nicht ganz glücklich mit der Auflösung dieses Selbstmordes.“
Der Dicke rief: „Meister! Kommen’se mal!“
Ein langer, kurzhaariger, junger Mann kam mit direkten Schritten auf beide zu.
„Guten Tag, was können wir denn für Sie tun? Wie Sie vielleicht schon von meinem Kollegen erfahren haben, ist hier Sperrzone.“
Schmopp seufzte und wiederholte das eben Gesagte.
„Ja, Herr Schmopp, das tut uns sehr Leid natürlich, dass man unzufrieden ist. Wir sind um jede Hilfe ehrlich gesagt froh, die zu einer Klärung dieses seltsamen Falles führen könnte.“
„Dürfte ich mich hier ein wenig umsehen.“
„Aber natürlich, Sie haben freien Zugang. Allerdings haben unsere Leute schon alles durchsucht, Sie werden wohl kein Glück haben.“
„Ach, lassen Sie mich das mal meine Sorge sein.“ Schmopp schmunzelte. ‚Alle sagen sie das’, dachte er bei sich, ‚und ich finde doch immer etwas.’
„Allerdings müssen wir Sie begleiten, Sie verstehen. Reine Formalität.“ Der Dicke schaute ihn an.
„Reine Formalität, wie immer. Ja, kommen Se nur mit.“
Und also schritt Schmopp bedächtig über den Hofplatz, hob das Absperrungsband hoch und ging zu den Leichenzeichnungen. Im Nacken die beiden Aufpasser. Er kam also, sah sich um, fand nichts, ging wieder. ‚Wie Caesar’, dachte er.
Er bedeutete den beiden Polizisten mit einem Fingerzeig, dass er auf das Dach des Hochhauses gehen wolle. Sie nickten beide und folgten ihm.
Erste Treppe hoch. Schmopp war zwar schon etwas älter, aber er hängte die beiden Aufpasser mühelos ab. Trotzdem sehnte er sich nach der dritten Treppe nach einem Fahrtstuhl. An der Schwelle zur fünften Treppe rief ihn eine Stimme an: „Du, der du wanderst den heiligen Berg nach oben; verstehe mich nicht falsch. Hörst du freundliche Stimmen? Wenn ja, dann ist es gut. Ich lasse dich nach oben steigen. Haben Sie Feuer? Es ist nur so, dass es oben sehr windet. Du wirst frieren. Hier.“ Der Mann gab ihm eine Jacke. „Aber du musst mir versprechen, mich mal wieder zu besuchen. Vergiss nicht: Bochum gibt es nicht. Wir sind hier nicht. Und jetzt lassen Sie mich alleine. Ich habe schon genug Probleme mit allen anderen. Merken Sie nicht, wie sie den Verkehr aufhalten. Es wollen noch viele andere meine weisen Ratschläge auskosten. Ich werde es ihnen allen sagen. Bochum ist nicht existent. Existenz evaluiert sich im umgekehrten Sinne. Ich wohne Raum 407. Hörsäle befinden sich im Keller. Dort sind auch die Menschenversuchslabortestgeräte. Kleiner Scherz. Merken Sie sich nur das: Wir sind hier alle in einem großen Gefängnis, woher wir kommen, wissen wir, wohin wir gekommen sind, nicht. Bochum? Lächerlich. Lassen Sie sich das sagen.“
Schmopp war schon weitergegangen, er hörte den verrückten Kerl noch rufen: „Welcome to the Hotel California!“
‚Du Knalltüte, jetzt hab ich einen Ohrwurm’, dachte Schmopp ärgerlich.
Schmopp machte eine Tür auf und stand endlich auf dem Dach. Von den zwei Polizisten war weder etwas zu sehen noch zu hören. Er ging an den Rand des Daches, um hinunterzusehen. Volltreffer. Unten sah er die Kreidezeichnungen. Von hier mussten sie gefallen sein. Er begann, die Gegend abzusuchen. Er fand nichts. Er suchte noch einmal. Er fand nichts. Es war wohl 18 Uhr. Er blickte nach Westen und die Sonne schien ihm ins Gesicht. Er drehte sich um und wollte zur Tür gehen, da wurde ein Sonnenstrahl von einem kleinen Gegenstand reflektiert und stach ihm ins Auge. Er wurde neugierig und näherte sich. Was er vermutet hatte. Eine metallene Patronenhülse. ‚Sieht man schlecht auf diesem grauen Boden’, dachte er.
„Na, was gefunden?“ rief der Dicke aus der Tür. Schmopp erschrak ein bisschen. Er mochte es nicht, in Gedanken gestört zu werden.
„Ähm, ja, tatsächlich, ja, ich habe hier etwas.“ Er lief schnell zu den Polizisten. Er zeigte die Hülse dem Langen, denn er mochte den Dicken nicht.
„Sehen Sie sich das an.“
Der Lange runzelte kurz die Stirn.
„Ich weiß nicht, wie uns das passieren konnte. Wie konnten wir das denn übersehen? Das wundert mich sehr. Sie leisten gute Arbeit, Detektiv Schmopp, mit Doppel-p. Wir sollten es mitnehmen, schließlich ist es ein Beweisstück.“
Schmopp zögerte. „Ja“, sagte er schließlich, „finden Sie bitte heraus, welche Waffe diese Kugel abgefeuert hat, und alles, was Sie aus einer Patronenhülse lesen können.“
Er gab ihnen die Patrone und beide verschwanden sehr schnell.
Schmopp stand noch länger auf dem Dach und sah sich den Sonnenuntergang an. Er musste an den Mann denken, der ihn bei der Treppe angesprochen hatte. Ein Verrückter, das war ihm klar. Aber ein paar Worte schienen in ihm stecken geblieben zu sein. „Bochum gibt es nicht. Wir sind hier nicht.“ Was für ein Schwachsinn, offensichtlich. Er beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken.
Er ging wieder hinunter und begegnete nun keiner Menschenseele. Als er auf den Hof hinaustrat, hörte ein leises Kratzen. ‚Wie, wenn etwas sehr Schweres über einen Fensterrahmen nach außen aus dem Fenster geschoben wird’, dachte er kurz. Unwillkürlich tat er einen Schritt zur Seite. Da kam tatsächlich etwas heruntergefallen, das sehr schwer schien. Als es genau dort aufprallte, wo er kurz zuvor gestanden hatte, zerbrach es scheinbar in viele Einzelteile, klirrte aber nicht. Im Dunkeln konnte er wirklich schlecht sehen. Er trat näher heran und es wurde ihm klar. Goethe wollte ihn erschlagen; Kant sollte ihn in den Boden stampfen; Schiller wollte seinen Schädel zertrümmern; kurz: Viele schon mehr als tote Leute wollten ihn gerne bei sich wissen. Nun hatten ihn ihre Werke verfehlt und lagen zerstreut herum. Jetzt erst dachte Schmopp daran, auch einmal hochzublicken, aber es war klar, dass er den Mordversucher nicht mehr sehen würde können. Ihm wurde es ein bisschen zu viel. Er ging.
In Bochum schien es kein Hotel zu geben. Er fuhr auf die Autobahn und übernachtete in einer Raststätte.
III
Am nächsten Morgen frühstückte er ausgiebig. Er dachte nach. Er schmierte sich ein paar Brötchen, hungrig wie er war. Er dachte immer noch nach. Er trank eine Tasse Kaffee nach der anderen. ‚In Amerika bestellt man einmal Kaffee, dann kommen die Kellner immer wieder und fragen „Some more coffee?“’, dachte er. Er war knapp einem Mordanschlag entgangen. ‚Zugegeben, ich bin ziemlich gut’, dachte er.
Irgendjemand schien mitbekommen zu haben, dass er im Fall der drei Dozenten ermittle. ‚Wunderbar’, dachte er, ‚jetzt haben die mich wenigstens auf die richtige Spur gelockt. Ich hätte sonst noch geglaubt, es sei wirklich Selbstmord gewesen.’ Er dachte an den Verrückten im Treppenhaus. ‚Sein eigenes Universum in der Hirnschale’, dachte er, ‚was ein komischer Kauz.’
Abrupt beendete er das Frühstück. An der Rezeption meldete er, er wisse nicht, wie viel Tage er noch bleiben würde, und gab den Schlüssel ab. Er fuhr nach Bochum.
Downtown Bochum. Nun kannte er es. ‚Manche Dinge muss es auch geben’, sagte er sich. ‚Außerdem ist alles so klein und –’
Er schreckte auf. Das war es doch, da war es doch wieder, das war doch das Auto, das auf seiner Fahrt nach Bochum ihn fast in einen heftigen Unfall verwickelt hätte. Er erkannte es genau. Nicht, weil es silbern war, sondern wegen des Nummernschildes. Schmopp hatte sich angewöhnt, sich Nummern in Stresssituationen besonders schnell zu merken, und zwar nur anhand der Formen der Zahlen und Buchstaben und an deren Zusammenspiel. So kam ihm das Nummernschild des silbernen Autos bekannt vor, er wusste, dass es das Unfallauto war, das so plötzlich verschwunden war. Es fuhr ungefähr hundert Meter vor ihm und er hatte es bemerkt, als es sich links einordnen wollte. Er wurde neugierig und tat dasselbe. Er folgte dem Wagen durch einige Straßen hindurch; sie kamen zu einem riesigen, grauen, etwas außerhalb gelegenen Gebäude, und der Wagen fuhr in die große Tiefgarage hinein. Schmopp sah den Schriftzug, der oberhalb der Eingangstüren angebracht war, und wunderte sich sehr. Dort stand: „Zentralbank Bochum“. ‚Eine so große Bank für eine kleine Stadt’, dachte er. Es kam ihm alles sehr spanisch vor. Doch er glaubte nicht mehr an einen Unfall auf der Autobahn. Vielleicht war das ebenso ein Mordanschlag gewesen, wie der Vorfall an der Universität. Er dachte an den Verrückten im Treppenhaus. Er wollte ihn noch einmal aufsuchen. Was sollte er bei ihm? Das brächte nichts, rein gar nichts. Aber er wollte es aus irgendeinem Grund besuchen. Verrückt.
Er kam an der Universität an. Er war kaum ausgestiegen, als auch schon die beiden Polizisten auf ihn zuliefen, der Dicke hatte seine Hände in der Hosentasche vergraben und der Lange rief etwas, wild gestikulierend.
„Herr Schmopp, Sie müssen uns verzeihen. Bitte sagen Sie uns, dass Sie uns verzeihen.“ Der Lange hatte gesprochen. Er fuchtelte mit den Armen.
„Was denn?“ fragte Schmopp gelangweilt.
„Wir haben die Kugel verloren! Das heißt, mein Kollege hier.“ Er wies auf den Dicken, der beschämt zu Boden blickte.
„Schön gemacht. Konnten Sie sie wenigstens noch zuordnen?“
„Nein, wir haben Sie auf dem Weg zum Labor... sie ist uns abhanden gekommen“, korrigierte er sich.
Er wollte die beiden Kanaillen irgendwie loswerden.
„Bitte, vielleicht ist es am Besten, wir gehen die Kugel suchen“, sagte er. „Sie beide suchen auf Ihrer Fahrtstrecke jeden Millimeter ab und ich gucke hier.“
„Geht klar!“ rief der Dicke eifrig. Sie gingen weg. Sie gingen weiter weg. Sie waren nicht mehr zu sehen. ‚Wie schön’, dachte Schmopp. Er gab sich einen Ruck und ging in die Universität. Zimmer 407. Das heißt: vier Treppen. Man ist ja noch jung.
405, 406, 407. Er klopfte an. Eine Stimme jaulte: „Cave canem, aber bitte, treten Sie ein!“ Er zögerte. Dann machte er die Tür auf. Eine Rauchwolke erwartete ihn. „Räucherstäbchen. Nicht, was du denkst!“ rief die Stimme. Er ging weiter und kam in einen Raum, den man wohl als Wohnzimmer bezeichnen konnte. Er ließ den Blick schweifen. Eine Pfeife, ein Schachspiel mit Star-Wars-Figuren, Bilder an der Wand, Salvador Dali, eine Büste, wohl Sokrates, alle alten Griechen sehen gleich aus, muss wohl ein Philosoph gewesen sein, eine in eine Einkaufstüte eingewickelte Tischlampe, eine ungeöffnete Flasche Spätburgunder und so fort; alles das auf Schränken, Tischen und so fort; auf einem zerfledderten Sessel eine Gestalt. ‚Interessant’, dachte Schmopp. Die Gestalt sah ungewöhnlich gesund aus. Er erkannte in ihr den Verrückten im Treppenhaus wieder.
„Gestatten, mein Name sei Dr. Fredrich Nitschke. Ich bin leicht psychisch labil, Aberratio mentalis im fortgeschrittenen Stadium, vielleicht auch ein bisschen paranoid. Ich bin Psychologe. Promoviert in Schizophrenie. Meine Arbeit können sie in der Bibliothek begutachten.“
„Schmopp mein Name; Detektiv.“
„Angenehm; lass doch gleich alle Formalitäten über Bord werfen, wie ist Ihr Vorname?“
Er wusste nicht recht, was er meine.
„Inspektor“, sagte er schließlich.
Nitschke lachte schallend. „Toller Humor. Aber nein, gebieten Sie sich Einhalt, ich lache mir sonst das Zwerchfell wund.“
„Ich bin gekommen wegen den drei Professoren, die Selbstmord begangen haben.“
Nitschke zeigte auf die Flasche Spätburgunder. „Ein guter Wein hat seinen guten Platz, bei mir steht er unter Dali, meinem Liebling. Italien ist sehr schön, waren Sie schon mal da? Ich meine, in Finnland auch. Aber nein, dort ist es nicht so. Wein gibt es auch in Deutschland, aber, Sie wissen...nicht mal Kalifornischen kann ich vertragen. Nein, bei mir muss es einer wie der sein. Lassen Sie es mich so ausdrücken: Ich kann Ihnen nichts sagen. Bochum existiert nicht und ich bin verrückt. Also lassen Sie die Fragen.“
„Hätten Sie keine Vermutung, wieso sie das getan haben könnten?“
„Ich habe geträumt, ich würde in einen großen Pudding fallen. Ein Löffel schlug mir auf den Kopf, da rief ich laut einen Satz, ich erinnre mich nicht mehr, aber dann war da kein Löffel mehr und ich stand im Regen. Aber das Komische war: Ich hatte keinen Mantel an.“
Schmopp dämmerte, dass man mit diesem Typ nicht gut reden konnte.
„Was meinen Sie eigentlich damit, ‚Bochum gibt es nicht’ und der ganze Quatsch.“
„Verdammt noch mal, werden Sie nicht unflätig, ich kann böse werden, ich kenne Sie nicht einmal und Sie stellen mir persönliche Fragen. Wir sind nicht einmal per du. Erst kommt das Du, dann das Au, sage ich immer. Weißt du, das ist das mit der Bank. Ich werde nicht mehr bezahlt, und als Hausschwein bekommt man schwer eine andere Arbeit. Sie müssen wissen.“
„Bank? Was für eine Bank?“ unterbrach ihn Schmopp.
„Die Schweizer Bank! Nein! Verdammt noch mal, Sie drängen sich mir auf. Ich möchte jetzt ein Leberwurstbrot. Mit Anwalt. Ich rede erst, wenn ich mit meinem Leberwurstbrot gesprochen und meinen Anwalt gegessen habe.“
‚Schweizer Bank’, dachte Schmopp verwundert.
„Es ist nämlich, weil, diese Universität hat keine Studenten! Sie hat keine Professoren! Sie hat nur Hausschweine! Ha! Verstehen Sie die Pointe. Es ist wie mit Bochum. Ich bin übrigens Vegetarier.“
Der Verrückte brummte unverständliche Laute. ‚Er ist wie ein Fleischwolf’, dachte Schmopp, ‚verarbeitet jeglichen geistigen Input in undifferenzierbaren Matsch.’
Plötzlich machte sich ein sonderbares Schimmern, ein freudiges Glänzen auf den Augen Nitschkes bemerkbar. „Wissen Sie“, sagte er vertraulich, „es ist die Verschwörung der Moneten. Monetenverschwörung. Schwonetenvermörung. Möhren kochen sich am besten in Wasser. Das liegt an der Konsistenz. Ich glaube, ich besitze eine theoretische Schrift zu diesem Thema. Schauen Sie doch mal beim Theologen.“
Schmopp wachte auf. „Was sagen Sie? Wieso denn das?
„Es ist wie Bochum. Leicht findet man es und man tut es doch nicht. Jeder sucht nach seinem Bochum. Bochum, ich komm aus dir, Bochum, ich häng an dir. Und so fort. Ich werde kochen. Ich koche nur mit Wasser.“
Er redete weiter. Schmopp wurde es zuviel. Er ging.
Auf dem Weg die Treppen hinunter traf er die beiden Polizisten wieder.
„Wir haben nichts gefunden“, sagte der Lange.
„Es ist nicht so wichtig“, meinte Schmopp, „wahrscheinlich hat jemand Tauben geschossen.“
„Mag sein“, sagte der Lange.
„Ich würde mir gerne das Zimmer des Theologen ansehen.“
„Natürlich, sofort. Kommen Sie einfach mit. Allerdings haben wir auch dort alles schon durchsucht.“
‚Natürlich’, dachte Schmopp, ‚kein Wunder wenn ich dort noch eine Kugel finde.’
Als sie durch die Gänge liefen, fiel Schmopp ein Mann auf, der aus einem Zimmer trat und, als er die drei Fremden sah, sofort wieder verschwand. Es kam Schmopp komisch vor. Nicht nur, weil er sonst niemanden in der Universität gesehen hatte, als er den Verrückten besucht hatte, sondern auch, da ihm sein sonderbarer Blick auffiel. Er war ein hagerer, recht großer Mann, der schwarze Haare und keine Augenbrauen hatte.
Sie kamen im Zimmer des Theologen an. Es war schlicht, beinahe asketisch eingerichtet. Kaum Wertgegenstände, keine Bilder, nichts. Er ging umher. Im Badezimmer fiel ihm eine mittelgroße Kristallkugel auf, er hatte etwas übrig für so etwas. Doch er musste jetzt erst mal an die Arbeit. Er fing an zu suchen. Die beiden Aufpasser standen stupide in der Gegend herum. Der Lange guckte komisch. Schmopp ließ sich nicht beirren, er suchte weiter. Er fand nichts. Je öfter er suchte, desto eher fand er nichts und desto größer wurde sein Ehrgeiz, etwas zu finden. Aber da war nichts. Nach zwei Stunden intensiver Suche gab er schließlich auf. Jetzt wollte er sich wenigstens mal diese Kristallkugel anschauen. ‚Bestimmt bricht sich das Licht wunderschön darin’, dachte er. Er ging ins Bad und betrachtete die Kugel, nahm sie in beide Hände, blickte ins Licht und betrachtete die Reflexionen. Er erschrak furchtbar, als ihm der Lange an die Schulter gefasst hatte, und ließ die Kugel fallen. „Sie können hier noch gerne weitersuchen, aber wir haben noch anderes zu tun, Sie verstehen.“
„Ja, äh, natürlich, auf Wiedersehen.“ Irgendwie war er erleichtert, dass die beiden Wichte weggingen. Als sie fort waren, schaute er nach der Kugel. Sie war an die Wand gerollt und als er sie nahm, bemerkte er, dass sie eine Delle in der Wand hinterlassen hatte. ‚Komisch’, dachte er. Er fasste an Stelle; da war weiches Material. Er kratzte ein wenig daran herum, darunter kam schon sehr schnell ein Stück Pappe zum Vorschein. ‚Da scheint jemand sehr schlampig ein Loch verstopft zu haben’, dachte er. Er drückte ein wenig; tatsächlich, dahinter war ein Loch. Er drückte weiter, so dass er die Pappe herausnehmen konnte. ‚Eine Schatzkammer’, dachte er. Er konnte nichts erkennen, also griff er blind hinein und fasste einen festen Gegenstand. Als er ihn herausgezogen hatte, sah er, dass es ein Buch war. Er schlug es auf, da stand:
14. Juni
Treffen bei mir. Nicht sehr ergiebig. Die andern haben zuviel Angst. Sie sind wirklich gute Hausschweine. Ich kann sie manchmal nicht ausstehen. Aber verstehen kann ich es ein bisschen. Das wir mit dem ganzen an die Öffentlichkeit gehen wollen, grenzt an Größenwahn. Es ist Größenwahn. Aber wir werden es tun, definitiv. Gott wird uns beistehen, er liebt die Wahrheit. Ich hätte niemals Hausschwein werden sollen. Aber das Geld war verlockend. Es ist viel mehr, als ein stinknormaler Theologieprofessor maximal verdienen kann. Ich will nicht mehr länger diesen ganzen Mist mitmachen. Ich habe von Leuten gehört, die den Verdacht hatten, Presseleute, die was von den Schweizern wussten, die sind auf dem Weg nach Bochum durch Unfälle gestorben. Durch einen geisterfahrenden LKW zum Beispiel. Es ist verrückt. Geld lässt manche über Leichen gehen.
15. Juni
Habe von Theorien gelesen, dass es Bochum nicht gebe. Die wissen gar nicht, wie Recht sie haben.
Schmopp las weiter, blätterte hin und her, aber er konnte nichts mehr als Andeutungen herauslesen, die er zwar zum Teil kombinieren konnte, aber die für ihn auch zusammengesetzt keinen Sinn ergaben. ‚Wieso schreibt man Tagebücher immer für sich, verdammt. Macht es doch wie die Schriftsteller, die Tagebücher schreiben, damit sie nach ihrem Tod veröffentlicht werden’, dachte er verärgert. Dann las er:
25. Juni
Treffen bei mir. Plan verfestigt sich. Wir werden an die Öffentlichkeit gehen. Ralph und Karl sind absolut unerschütterlich dabei. Sie sind der Fels, auf den ich meine Wahrheit baue. Man kann nicht ewig eine ganze Welt anschwindeln.
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Toriami hat uns belauscht. Ich bin mir sicher, ich habe ihn gesehen, wir waren mal wieder unvorsichtig und haben die Türe offen gelassen. Es läuft ja sowieso niemand im Gebäude herum. Ich habe ihn im Fenster gesehen, das ihn gespiegelt hat. Er kam an der Tür vorbei und hat uns zugehört. Ich habe es den andern nicht gesagt, sie hätten Angst bekommen. Toriami ist ein feiger Denunziant, ein richtiges Hausschwein. Er kriecht den Schweizern in den Hintern. Er sieht wie der leibhaftige Teufel aus, er hat keine Augenbrauen. Er ist ekelhaft.
Ihm fiel der hagere Mann ein, den er gesehen hatte. ‚Toriami’, dachte Schmopp, ‚interessanter Name. Er kommt mir so bekannt vor.’
Für Schmopp gab es nun keinen Zweifel. Auch, wenn er die Zusammenhänge noch nicht richtig begriff, war ihm klar, dass dieser Toriami die drei Professoren ermordet oder sie wenigstens an jemanden verraten hatte. Er war es auch, der versucht hatte, Schmopp mit Literatur zu erschlagen. Daran bestand kein Zweifel.
Schmopp zündete sich eine Zigarre an, um besser denken zu können. Er setzte sich auf den Badezimmerboden und spielte geistesabwesend mit der Kristallkugel. Er dachte nach. Er hatte keinerlei Beweis. Die Kugel wurde verloren. Schmopp schrie auf vor Erkenntnis. „Das glauben die doch selber nicht, dass sie die verloren haben! Verschwinden lassen haben sie die! Verdammte Trickser, sie stecken alle unter derselben Decke.“
Er hatte keine Ahnung, wie er den Mörder schnappen sollte. Er grübelte mehrere Stunden. Es war tiefste Nacht und er konnte die Grillen zirpen hören. Die Kugel fiel herunter, da seine Hände sich plötzlich verkrampften. Das taten sie manchmal, wenn er eine Idee hatte.
IV
Toriami hatte diesen Detektiven schon seit zwei Tagen nicht mehr gesehen. Genau seit dieser Zeit lief er in seinem Zimmer kreuz und quer, dass seine Füße schmerzten davon. Er hatte nicht geschlafen, er konnte es sich nicht verzeihen, dass er den Mord verschlampt hat, dass er zu dumm war, diesen Menschen zu töten. Er war zu nervös gewesen, warum hatte er es auch mit diesen Büchern versucht? Er hatte doch eine Waffe! Er hatte diese Möchtegernrevoluzzer beseitigt und es wurde nicht öffentlich und er wurde nicht eingesperrt, er hätte doch einfach hingehen und den Mann erschießen können. Er hätte seine Kanone genommen und abgedrückt, wie zuvor. Er dachte daran, zu schlafen. Es ging nicht. Zu aufgeregt. Er schaute in den Spiegel seines Wandschranks. Wie hässlich er war. Blaue Ränder unter den rot angelaufenen Augen. Er glaubte, viele geplatzte Äderchen zu sehen. Ihm wurde schwindelig. Er hörte Schritte im Flur. Seine Tür war offen. Wie konnte er nur so nachlässig sein, immer war er so nachlässig. Er musste ihm zuvorkommen. –
Toriami hetzte zur Tür raus und traf die Quelle der Schritte an. Es war der verrückte Fredrich Nitschke, der so spät am Abend durch die verlassenen Gänge lief. Toriami zuckte zusammen, als er ihn erkannte. Nitschke schien ihn nicht zu bemerken. Toriami verhielt sich ganz ruhig. Nitschke ging an ihm vorbei, ohne Notiz von ihm zu nehmen. Toriami atmete wieder. Ein. Aus. Tat das gut, wieder zu atmen. Er wartete, dann versuchte er, leise zurück in sein Zimmer zu gehen. Da donnerte die Stimme Nitschkes und Toriami erschrak mächtig.
„Professor Josef! Bitte in die Intensivstation! Ich sehe etwas, ich sehe einen Untergang. Ich nenne es: Den Untergang von Dir! Dein Untergang. Toller Titel, nicht wahr? Dr. Josef Toriami, bitte in die Intensivstation; der Patient hat Schusswunden, schlimmster Art, solcher Art, von eigenen Verbündeten zugefügt. Ja, denn man weiß nie, wann Verbündete zu Feinden werden, zum Beispiel, wenn man auspacken will.“
Toriami schwitzte. Doch Nitschke zeigte keine Gnade. Er stand im Dunkeln des Ganges und Toriami konnte nur seine dunkle Stimme hören. Das war die Stimme eines wahrhaft wahnsinnigen.
„Ja, man will ein Geschenk auspacken, das man doch zuvor so schön eingepackt hatte, es ist schade drum, und deswegen mussten die Auspacker auch sterben, nicht wahr, Professor Josef, Dr. med., deswegen mussten drei Männer sterben. Wir sind alles Hausschweine! Du hast die drei umgebracht, nicht wahr? Bei der Leberwurst, du hast drei Menschen getötet, mit deiner Waffe, du hast sie vom Hochhaus geschmissen und es wurde vertuscht, denn hier steht viel auf dem Spiel, mein Lieber! Es steht verdammt viel auf dem Spiel!“
Toriami zitterte. „Du verrückter kleiner Knilch“, sagte er, indem er all seine Kraft zusammennahm, „du Irrer, was redest du für einen Stuss. Sie haben sich umgebracht, weil sie mit der Verantwortung nicht mehr klar gekommen sind und du bist deswegen irr geworden!“
„Sieh dich vor, Dr. med., es ist viel mehr im Gange, wie du denkst! Ich möchte jetzt Wein und Brot und Käse, aber ich bin nicht wichtig. Wichtig ist, dass es Bochum nicht gibt, und dass du es versaut hast. Du hast den Detektiven nicht umbringen können und deswegen wirst du beseitigt werden, beim Dionysos, du wirst beseitigt, denn du hast gesündigt und gegen das ungeschriebene Gesetz der Schweizer Zentralbank verstoßen!“
„Was?“ Toriami wurde bleich und zitterte am ganzen Leib, er bekam keinen Satz mehr zusammen, er war so müde, lange nicht geschlafen, er wollte es nur noch raus schreien, es war doch ungerecht, er hatte doch, wieso sollten sie, und er tat es, er schrie es raus: „Was!? Du lügst, du Judas, du verdammter“, Verzweiflung, „wieso sollten sie mich beseitigen wollen? Ich habe es doch richtig gemacht. Der Philosoph, der Literat und diese Schwuchtel wollten doch rauskommen mit allem, und ich habe sie umgebracht, ja, ich habe es gehört, wie sie ihre perfiden Pläne geschmiedet haben, da hab ich sie einmal bei einem ihrer Treffen überrascht und hab sie einer nach dem andern niedergeschossen! Ich hab sofort den Vorsitzenden unserer Bank verständigt! Er billigte mein Handeln! Es geht um so viel Geld! Er hat gesagt, ich solle die drei vom Dach schmeißen, den Rest würden sie erledigen! Wieso sollten sie... wieso - -“ Er stockte. Er hatte Angst.
Plötzlich, eine Stimme: „Nitschke, Sie sind genial. Es ist immer so: Die Grenzen von Genie und Wahnsinn sind leicht verwischbar.“ Aus dem Dunkel des Ganges, aus dem Nitschkes grausame Stimme kurz zuvor noch donnerte, trat jetzt ein älterer Herr hervor.
„Guten Tag, mein Name ist Schmopp, mit Doppel-p; sehr angenehm. Ich freue mich, dass sie sich dazu entschlossen haben, ein Geständnis abzulegen.“
Toriami war wie erschlagen. Er stammelte nur.
„Naja, im Prinzip brauchen Sie nichts mehr sagen, wir haben alles auf Band.“ Nitschke trat aus dem Dunkeln; er sagte nichts, aber sein Gesicht war verzerrt von Wahnsinn. Schmopp nahm ein kleines Tonbandgerät aus Nitschkes Jackentasche.
„Um es kurz zu machen, ich werde gleich die Polizei anrufen. Nicht mal die Bochumer Polizei wird sich solch einem Beweis entziehen können.“
Nitschke lachte plötzlich schallend. Schmopp erschrak und Toriami sank zusammen.
„Sie haben doch keine Ahnung, Schmopp. Sie haben doch keine Ahnung, inwieweit sich die Polizei solchen Beweisen entziehen kann. Sie haben keine Ahnung vom System.“
„Ich habe keine Interesse am ‚System’. Ich will nur den Mörder hinter Gittern bringen.“
„Wir müssen diesen Schwindel zerstören. Er hat schon mehreren das Leben gekostet.“
„Ich bin Detektiv, die Familie eines der Opfer hat mich beauftragt und ich werde den Mörder der Polizei ausliefern. Mehr habe ich nicht zu tun.“
Nitschke ging in das Zimmer Toriamis. Er kam wieder heraus. Er schrie: „Sie müssen mir helfen!“
„Nein.“ ‚Wieso eigentlich nicht?’ dachte Schmopp. ‚Es ist so viel... es ist so viel verwirrendes.’
Nitschke ging zu Toriami, zog eine Pistole und hielt sie ihm an den Kopf
„Glauben Sie, ich bin verrückt?“
„Ja“, sagte Schmopp, „und ich glaube nicht, dass sie abdrücken werden.“
Er drückte ab. Schmopp starrte ihn an
„Ich werde jetzt gehen“, sagte der Verrückte. Er ging auf Schmopp zu und riss ihm das Tonbandgerät aus der Hand. Er entnahm die Kassette und zerbrach sie. Das Gerät gab er ihm wieder. „Gehen Sie in mein Zimmer, dort steht ein Kassettenrekorder. Ich habe etwas aufgenommen. Für die Nachwelt.“
Nitschke ging. Schmopp trug nie einen Revolver. Er hätte ihn auch nicht benutzt. Toriami saß regungslos da. Schmopp schaltete das Licht an. Er stieg die Treppe hoch und betrat das Zimmer 407. Kein Rauch erwartete ihn. Er sah, dass der Raum vor dem Wohnzimmer voll mit Zeitungsartikeln war; Artikel über Bochum, über die Schweiz, über die Schweizer Banken, über die Bochumer Zentralbank. Auf einem Schreibtisch stand der Kassettenrekorder. Er zündete sich eine Zigarre an und spielte das Band ab. Nitschkes Stimme.
„Es ist so, dass die Schweiz die Bank der Welt ist. Jeder weiß das. Die Schweiz hat schmutzige Geschäfte getrieben mit dem Geld der Welt. Mir sind da einige Dinge bekannt geworden. Die Neutralität der Schweiz ist gleichzeitig ihre Unmoralität, sie lagern das Geld von Geschäften mit Waffen, die dazu gebraucht werden, Massen von Menschen zu töten, genau wie das Geld von Unternehmern, die möglichst wenig Steuern bezahlen wollen, sie lagern das Geld von brutalen Diktatoren, die, falls sie gestürzt werden sollten, sich einen schönen Lebensabend machen wollen und so fort. Die Schweiz hatte Angst. Es hatte Gerüchte von terroristischen Plänen gegeben, Plänen, die Schweizer Zentralbank anzugreifen. Das ist schon lange her. Die Schweiz hatte Angst, und mit ihr die Welt. Schon in den 30’er Jahren wurden jene Gerüchte laut. Nach dem 2. Weltkrieg nun wollte die Schweiz, mit Unterstützung der USA und anderen Ländern, ihre Zentralbank insgeheim versetzen. Das Vermögen sollte versteckt sein. Westdeutschland, das in dem Moment ja noch besetztes Gebiet war, schien der ideale Platz. Die Stadt Bochum wurde geräumt unter dem Vorwand, die USA müsse einen wichtigen, sehr großen Militärstützpunkt dort errichten. Stattdessen wurde die Schweizer Zentralbank dort hinverlegt und eine artifizielle Stadt darum herum konstruiert. Nach Abzug der amerikanischen Armee sollte es allen Anschein haben, als sei diese Stadt eine normale Stadt und so mussten dort natürlich auch normale Bürger wohnen. Wenigstens zum Schein. Dafür sind die „Hausschweine“ da. Lehrer, die nicht lehren, Forscher, die nicht forschen, Arbeiter, die nicht arbeiten. Alle diese werden bezahlt. Von der Schweiz. Von der Welt. Sie wohnen zum Scheine dort und genießen ein faules Leben. Und die Universität, in der ich wohne, ist keine Universität. Sie ist nur ein Gebäude. Sie nimmt keine Studenten auf, denn sie ist permanent voll. Es ist ein riesiges Gebäude, das nur sehr wenige bewohnen. Es ist eine Scheinuniversität in einer Scheinstadt Doch diese Scheinstadt ist nicht perfekt. Sie kann leicht entlarvt werden, wenn nur die Augen geöffnet werden. Es ist wie das Magellansche Schiff. Der große Seemann Magellan segelte einmal zu einer ganz unbekannten Insel, auf der die Ureinwohner dieser Insel ganz ungestört lebten. Die Ureinwohner sahen das Schiff nicht kommen, sahen es nicht, bis es vor ihrer Insel lag und Magellan und seine Mannschaft schon herausgetreten war. Das ist der Punkt. Warum sahen sie es nicht? Weil sie es nicht kannten, sie konnten sich so etwas nicht vorstellen. Genauso kann sich niemand solch ein großes Komplott vorstellen. Nicht wenige Leute haben schon ihr Leben auf zufällige Art und Weise gelassen, durch ‚Unfälle’, weil sie auf eine Spur gekommen waren und diese Spur weiterverfolgen wollten. Journalisten, Polizisten und so fort. Ich bin Idealist. Ich bin nicht verrückt. Ich war es nie. Hätten mich nicht alle für verrückt gehalten, hätte ich nie meine Studien betreiben können. Ich war ja mitten im Kern. Und ich habe vieles erfahren. Denn man hat mir Informationen geliefert, während ich von Wein und Hotel California und Leberwurst geredet habe. Ich wollte, dass diese Bank gesprengt wird. Für die Menschheit. Ich wollte diese Lüge aufdecken. Und ich war so kurz davor. Wenn jemand diese Nachricht hört, so möge wissen, dass ich gescheitert bin. Man kommt nicht dagegen an. Man kommt nicht dagegen an.“
Man kommt nicht dagegen an. Diese Worte hallten nach im Bewusstsein von Schmopp. Er ging.
Als er in den Hof trat, bemerkte er etwas, dass er nie sonst gesehen hatte: An der Außenwand des Gebäudes schien etwas abgebröckelt zu sein. Er ging hin und konnte ganz leicht die Wand auseinander nehmen. War das das Magellansche Schiff? Er hörte auf, er drehte sich abrupt um und ging zu seinem Wagen. Er wollte nur noch weg. Ihm war übel. Der Familie würde er erzählen, ihr Sohn habe sich in irgendeinen Kerl verliebt, der stand aber nur auf Frauen und er hat sich umgebracht und – irgendetwas würde ihm schon einfallen.