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Das Rennen — Erzählung eines alpinen Leistungssportlers
Es herrscht eine bleierne Stille über dem Startgelände, bereit, jeden Moment in ihrer aufgeblasenen Rigidität zu zerbersten. Menschen hasten stumm durch alle Richtungen in der knapp bemessenen Zone, teils blass und die Anspannung steht ihnen ins Gesicht geschrieben, teils entspannt und eine Aura der Überlegenheit ausstrahlend. Ich gehe erwartungsvoll durch das Areal, der trockene Mittwinterschnee knirscht unter meinen Schritten und glitzert in der Sonne wie paillettenbesetzter Samt. Die Athleten befinden sich in unmittelbarer Vorbereitung, schnelle, wuchtige Beinbewegungen, gepresste Atemstöße, stumme Selbstgespräche. Irgendwann ertönt das entscheidende Funksignal. „Piste est libre — Start frei!“
Aufbrausende Stimmen zerreißen die Stille jäh, unter ihnen der gedämpfte Schrei, der jedem Athleten aus seinem Innersten entfährt, während er erbarmungslos aus dem Start hinaus prescht. Das Rennen hat begonnen. Ich verspüre nichts außer dem unbändigen Willen, mich selbst der Abfahrt zu stellen.
Glücklicherweise verfügt mein Trainer über eine Zunge, die im Aufrütteln der Gefühle trainiert ist, und über Hände, die durch gezielte Griffe meine Muskeln anregen. Diese immer gleichen Abläufe sind unumgänglich für die bevorstehende Aufgabe und vollkommen automatisiert. Sohlen kontrollieren, Bindungshärte feststellen, in die Skier steigen, Schnee in den Nacken pressen, Atem regulieren. Es sind jene Momente kurz vor dem Start, in denen die Realität schwindet. Zunächst scheint sie lediglich verschwommen, von einem schwachen Dunst verzogen, dann aber mutiert sie zur Nichtigkeit und ich werde von gänzlicher Schwärze umhüllt. Vor mir erstreckt sich ein markanter Spalt. Er erlaubt mir ein Blickfeld, scharf auf das Wesentliche beschränkt, als stünde ich in einer tiefen Schlucht, zu beiden Seiten mächtige, steinerne Wände und am Ende gleißendes Licht.
Der Läufer vor mir stürzt sich der Piste entgegen und es dauert nur den Bruchteil einer Sekunde, bis er verschwunden ist, in dem steilen Gelände. Ich fühle mich beschwingt und leistungsbereiter denn je, die Konturen zeichnen sich derart klar am blauen Himmel ab, dass man jede Unebenheit erkennen kann. Das Getöse kommt nun wie von ewig weit her, langatmige Stimmen aus dem Jenseits, unbedeutende Klänge aus dem Nichts. Ich beuge mich vorsichtig über die Zeitschranke und blicke den Hang hinab. Ein leiser Windhauch streicht über meine Wangen, sanft und anmutig.
In mir regt sich das Tier.
Es erwacht aus einem tiefen Schlaf und scheint in mir allmählich lauter zu werden, in seiner majestätischen Pracht schlägt es die schweren Tatzen zu Grunde und frönt dem bevorstehenden Kampfe. Dann jagt der schrille Ton des Startsignals durch mein Gehör.
Und erneut.
Fünf einprägende Sequenzen. Das Tier wütet und brüllt in freudiger Verzweiflung. Ein letzter bewusster Atemstoß und ich befinde mich bereits auf der Piste. Es dauert nicht lange und meine Muskeln kommen in Fahrt wie die Kolben eines hochgezüchteten Motors. Der Wind peitscht mir aufgeregt ins Gesicht, die eisig präparierte Rennpiste zischelt und säuselt unter den Skiern, die Tore schnellen mit halsbrecherischer Geschwindigkeit auf mich zu, peitschen an mir vorbei, das Tier schlägt in seiner ungezähmten Gier den Schwanz durch die Gegend, donnert und ringt und rauft.
Es heißt, ein gutes Rennen sei mit einem Rauschzustand zu vergleichen.
Es heißt, dass sich lediglich Bruchstücke der Erinnerungen im Nachhinein offenbaren.
Ich erinnere mich an Lüfte, einsame Sprünge und Übergänge, dahinter der grüne Bestand der weiten Landschaft, unten im Tal. Ich erinnere mich an die kurze Ewigkeit glückseligen Dahinfliegens. Erst als ich die Ziellinie passiere, kehre ich mit ihr in die Realität zurück.
Der Lautsprecher bellt mit bedeutungsschwangerer Stimme die Endzeiten durch das Mikrophon, Erleichterung und Erschöpfung überströmt mich. Die Last der brennenden Muskeln drückt mich zu Boden, mein Atem geht laut und stoßweise, und das Tier verfällt, spürbar ermüdet und angenehm schnurrend, in den wohlverdienten Schlaf zurück.
Momente des Glücks folgen. Vergängliche Momente. Denn irgendwann drängt sich das Bevorstehende in mein Bewusstsein, schmerzend, nachtrauernd, denn das Geschaffene ist vergangen.
Bald schon sitze ich wieder auf dem Lift und werde rasant den Berg hinaufbefördert. Unter mir bewegt sich mein Schatten, bedrohlich schlängelt er sich über den gewellten Boden. Etwas wälzt sich in mir. Etwas erwacht, öffnet die Augen, streckt sich, und brüllt schließlich die Müdigkeit aus meinen Poren der Haut hinaus. Ich stoße freudig erregt die frische Luft aus meiner Lunge und sauge sie wieder voll. Ein Lächeln huscht über meine Wangen, als ich zurückkehre, in das Startareal, in die rege Stille, in den lauten Kampf, in den zweiten Lauf.