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Das Rennen
Das Rennen
Verschiedene Gelb- und Brauntöne durchsetzt mit roten und grünen Tupfern, so glitt der herbstliche Wald unter ihr hinweg. Doch Jasmin hatte kein Auge dafür. Sie fixierte einen Schatten in der Luft vor ihr. Mit ein paar Flügelschlägen gewann die junge Frau wieder Höhe. Dabei zog sie einen Zweig heraus, der sich in ihren Gürtel verfangen hatte.
'Du Mistkerl,' dachte sie wütend, 'weil du mich abgedrängt hast, hätt ich fast notlanden müssen. Das kriegst du wieder.'
Während sie die Schlagzahl ihrer Flügel erhöhte, nahm sie beide Hände nach vorne. Sie verschränkte die Mittel- bis kleinen Finger, zielte dabei mit den Zeigefingern auf ihren Konkurrenten. Doch dann besann sie sich. 'Die Regeln sagen deutlich: Keine Waffen und keine Kampfzauber. Ich kann den Opi auch anders schlagen.'
Ein Hubschrauber flog über sie hinweg, die Harpyie warf nur einen kurzen Blick zu dem Kameramann hoch, sie musste sich auf das Rennen konzentrieren. 'Die anderen haben dadurch bestimmt aufgeholt,' ging es Jasmin durch den Kopf. Wie zur Bestätigung tauchte ein fliegender Teppich in ihrem Blickfeld auf. Um wenig Wiederstand zu leisten, hatte sich der Pilot so flach wie möglich auf sein Flugobjekt gelegt.
Dicht hinter ihm stand ein Mann auf einem fliegenden Surfbrett, gefolgt von einer Hexe auf ihren Besen. Die meisten Teilnehmer des Wettfliegens trugen Helme, oder zumindest Schutzbrillen, gegen den Fahrtwind. Jasmin brauchte solche Hilfsmittel nicht, als Harpyie war sie fürs Fliegen geschaffen. Sie hatte den Körper einer Frau, ihre großen Füße waren die eines Greifvogels. Die Flügel auf ihren Rücken waren mit rund elf Metern Spannweite recht beeindruckend. Das ockerfarbene Gefieder der Flügel hatte Jasmin und ihrer Mutter, Kjaskar, den Beinamen Sandschwinge eingebracht.
Die junge Harpyie beschleunigte wieder, aber sie gab noch nicht alles. Denn sie wusste, das sie noch im ersten Drittel des Rennens war, sie wollte ihre Kräfte einteilen. 'Wär ja blöd, wenn mir kurz vor Schluss die Puste ausgeht.'
"Oh je, das hat der Führenden, Jasmin Sandschwinge, eine Menge Zeit gekostet," kommentierte ein Reporter das Rennen. "Ganruman hat sie mit seinem Manöver in den Tiefflug gezwungen. Der alte Magier ist nicht umsonst für sein rüpelhaftes Verhalten bekannt. Was werden die Schiedsrichter zu diesem seltsamen Überholmanöver sagen?
Jasmin hat sich wieder von den Baumwipfeln gelöst, aber die Anderen haben mächtig aufgeholt. Muhazad, Jo und Fredririke sind ihr dicht auf den Fersen. Jasmin wird wieder schneller, sie hat jetzt bestimmt mächtig Wut im Bauch."
Die junge Harpyie konnte ihren Vorsprung zu ihren Verfolgern wieder leicht ausbauen. Auch ihr Rückstand auf Ganruman hatte sich wieder verringert. Langsam aber sicher holte sie wieder auf. "Plötzlich tiefer gehn, und mich in den Wald drängen, darauf bekommst du noch ne passende Antwort."
Sie näherte sich einem steilen Hügel. Dort veränderte sie die Stellung ihrer Flügel ein wenig, um den Aufwind auszunutzen. Mit dem Schwung legte sie hinter dem Hügel die Flügel an. Sie war in einem Sturzflug von rund fünfundvierzig Grad. Dabei flatterte ihr langer, lackschwarzer Zopf im Wind. Nach ein paar Sekunden breitete sie wieder ihre Schwingen aus. Sie stieg in einem sehr flachen Winkel, so konnte sie viel vom Tempo des Sturzfluges mitnehmen. Dieses Manöver hatte sie dem führenden Magier deutlich näher gebracht.
"Jasmin hat deutlich aufgeholt," sagte der Reporter, "doch jetzt kommt der schwierigste Teil der Strecke: Der Knochenkamm. Hier hat es noch jedes Jahr mindestens einen Unfall gegeben. Wen wird es diesmal erwischen?"
Vor dem Führungsduo lag eine schmale Schlucht, die von einer Brücke überspannt wurde. "Das sind höchstens fünfzehn Meter," schätzte die Harpyie, "kein Platz für Fehler. Wer über die Schlucht fliegt wird disqualifiziert."
Mit hohem Tempo schossen Jasmin und der Magier unter der Brücke durch. Die Zuschauer, die ihnen von dort zujubelten, nahmen sie nicht war. Jasmin hatte vor Konzentration die Zähne zusammengebissen. In der Schlucht herrschte leichter Gegenwind, der durch die unregelmäßigen Felsen verwirbelt wurde. Die Harpyie wusste, wenn sie einer der Wirbel ungünstig traf, konnte es sie regelrecht an die Felsen saugen, was bei gut einhundert Stundenkilometern für sie nicht nur das Ende des Rennens bedeuten würde.
Doch in ihren achtzehn Jahren Flugerfahrung hatte sie gelernt, den Wind zu lesen. Sie wusste unter welchen Bedingungen man mit welchen Tücken rechnen musste.
"Wa...?" Unerwartet machte die Schlucht einen scharfen Knick nach links. Jasmin kippte über den linken Flügel in eine enge Kurve. Sie hätte fast zu spät reagiert. "Eijeijeijei." Für ein paar Sekunden lief sie mit den Händen, bei hohem Tempo, an der Wand entlang. Mit einer Änderung ihrer Flügelstellung löste sie sich wieder vom Felsen. Für einen kurzen Moment nahm sie einen Zeigefinger in den Mund. "Und dafür war ich gestern bei der Maniküre. Das war verflucht knapp."
Sie war wieder in der Waagerechten, dann sah sie vor sich das nächste Hindernis. Die Schlucht war nun zwar etwas breiter, aber dafür standen in unregelmäßigen Abständen Felsnadeln im Weg. "Daher wohl der Name Knochenkamm. Das wird eng."
Der Magier schien die Kurve besser gemeistert zu haben, sein Vorsprung hatte sich wieder vergrößert. Jasmin konnte nicht aufholen, ein höheres Tempo war ihr unter diesen Bedingungen zu riskant. "Ein Fehler und man kann mich mit nem Spachtel von den Felsen kratzen."
Ein paar Flügelschläge brachten die Harpyie fast auf Höhe der ersten Felsnadel. Mit V-förmig nach hinten gestellten Flügeln schoss sie zwischen der Nadel und der Wand hindurch. Den Abstand zum nächsten Hindernis, nutzte sie für weitere Flügelschläge. "Gut, so komm ich heil hier durch."
"Jasmin hat im Knochenkamm ihr Tempo gedrosselt," kommentierte der Reporter die Szene, "hat sie der Mut verlassen? Ganruman kann so seinen Vorsprung noch mehr ausbauen. Fredririke konnte auf Jasmin aufholen. Wird sie eine Lücke finden, um an den Flügeln vorbeizukommen? Wenn sie von den Flügeln getroffen wird, wird das beide aus der Bahn werfen."
Jasmin kippte wieder auf die Seite, um zwischen zwei Felsnadeln hindurch zu fliegen. Da war plötzlich die Hexe auf einer Höhe mit ihr. Mit geschlossenem Helm und in einem engen Lederoverall, klammerte sie sich, weit vorgebeugt, an ihren Besen.
'Hat die noch alle auf der Kette?,' ging es Jasmin durch den Kopf, 'hier ist es zu eng zum Überholen.'
Mit ausgestrecktem Arm hätte die Harpyie die Hexe berühren können.
Jasmin legte die Flügel an, und lies sich ein paar Meter fallen. Dann stieg sie mit ein paar Schlägen wider bis knapp unterhalb der Kante der Schlucht. Fredririke war nun vor ihr. Die Hexe flog im Zickzack um Jasmin keine Lücke zu lassen.
Die Harpyie wich immer wieder aus. Im Windschatten bestand die Gefahr, das die Strömung an ihren Flügeln abriss.
"Blöde Orgerin! Ist sonst bei dir noch alles frisch?," rief Jasmin wütend.
Die Hexe sah sich nach ihrer Verfolgerin um. "Pass auf!," schrie die Harpyie erschrocken.
Fredririke wandte sich wieder nach vorne. Sie musste ihren Besen hart herumreißen, um einer Felsnadel auszuweichen. Dadurch geriet sie ins Trudeln, sie verschwand zwischen den Bäumen am Grund der Schlucht.
"Hoffentlich ist ihr nix passiert."
Jasmin konzentrierte sich wieder darauf, heil durch den Knochenkamm zu kommen. Sie wusste, wenn die Hexe verletzt war würden sich die Heiler um sie kümmern.
Schließlich konnte sie das Ende der Schlucht sehen. Nun hatte sie auch wieder Blickkontakt zu dem führenden Magier. "Hier ist dein Vorteil zuende, Ganruman." Mit kraftvollen Flügelschlägen beschleunigte Jasmin wieder. Aber der Magier wurde auch schneller.
Jasmin bekam einen Geruch in die Nase. "Benzin?," wunderte sie sich, "Motoren und Triebwerke sind doch beim Flugwettbewerb verboten. Man darf nur mit Magie, oder aus eigener Kraft fliegen."
Nun verlief die Rennstrecke über einer breiten Autobahn. "Der Geruch kann auch daher kommen."
Die Straße war für den Verkehr gesperrt, trotzdem war auf dem Asphalt viel los. Die vielen Zuschauer empfingen die Teilnehmer mit großem Jubel.
"So krieg ich ihn nich, ich muss meine Kräfte einteilen. Entweder ist er ein Meister im Flugzauber oder er hat eine enorme Manareserve. Vielleicht auch beides, dann hab ich ein Problem."
"Jasmin ist wieder schneller geworden, aber sie kann nicht richtig aufholen," stellte der Reporter fest. "Es sieht so aus, als würde der Titelverteidiger auch dieses Jahr wieder gewinnen. Das währe Ganrumans fünfter Sieg in Folge bei 'Über den Winden des Nordreiches.' Damit würde er den bisherigen Rekord einstellen. Aber die neue Teilnehmerin hält sich noch wacker. Vielleicht schafft sie es doch noch."
Die Harpyie erhöhte die Schlagfrequenz noch einmal leicht. "Wenn ich ihn nicht kriege, will ich aber wenigstens dranbleiben."
Sie näherten sich einem Autobahntunnel, die Straße durchquerte einen großen Hügel. Hier teilte sich die Rennstrecke, die Teilnehmer durften den Tunnel durchqueren, oder über den Hügel hinwegfliegen. Jasmin überlegte nicht lange, mit knapp zehn Metern Durchmesser waren die Röhren für sie zu schmal. Daher konnte sie nur die obere Route wählen.
Sie zog hoch. Mit wenigen, kräftigen Flügelschlägen kam sie über die Hügelkuppe. Auf der anderen Seite hielt sie sich nur wenige Meter über den Baumwipfeln. Sie beschleunigte weiter. Auch wenn sie es nicht sehen konnte, war es Jasmin klar, das ihre Windschleppe eine Menge Blätter von dem herbstlichen Wald aufwirbelte. Es war auch ihre Absicht, eventuellen Verfolgern die Sicht zu erschweren.
Ein gutes Stück vor ihr kam der Magier wieder aus dem Tunnel. "Mist, der Abstand ist nicht kleiner geworden. Na gut."
Wieder gab sie sich mit kräftigen Flügelschlägen einen Vorwärtsschub. "Wenn’s schief geht, brech ich mir sämtliche Knochen. Wenn's klappt hol ich auf, vielleicht krieg ich ihn sogar."
Sie nutzte den Schwung vom Abwärtsflug, erst einen knappen Meter über den Asphalt ging sie in die Waagerechte. Mit halb angelegten Flügeln glitt sie über die Autobahn. Vor ihren sah sie einen weiteren langgezogenen Schatten auf der Straße. 'Die Sonne kommt von hinten,' überlegte die Harpyie, 'das heißt, wenn ich den Schatten einhole, hab ich ihn überholt.'
So knapp über den Boden konnte sie nicht mit den Flügeln schlagen. Und da sie nicht wusste auf welcher Höhe ihr Konkurrent flog, wagte sie es nicht ihre Flughöhe zu ändern. Jasmin spürte, das der Schwung nachließ.
"Nicht doch." Sie biss die Zähne zusammen. Nur quälend langsam kam der Schatten des Magiers näher. Dann musste sie hochziehen, solange sie noch genug Geschwindigkeit dafür hatte. Knapp hinter sich hörte sie einen Schreckensruf.
"Was soll das du Suppenhuhn?," schimpfte der überraschte Ganruman, "du hättest mich fast gerammt. Pass auf wo du hinfliegst."
"Das war die Quittung dafür, das du mich vorher fast in die Bäume gedrängt hast."
Nun war Jasmin wieder hoch genug, um mit den Flügeln zu schlagen. Der Magier war durch ihr plötzliches Manöver und sein Ausweichen, nun hinter ihr.
"Oh, das währ fast schiefgegangen," stellte der Reporter fest, "Ganruman konnte eine Kollision nur knapp vermeiden. Durch ihr gewagtes Manöver ist Jasmin nun knapp in Führung. Es ist nicht mehr weit zum Ziel. Kann sie es nach Hause bringen?"
Das fragte Jasmin sich auch. Sie konnte spüren, das von ihren Reserven nicht mehr viel übrig war. Die Harpyie setzte alles auf eine Karte, sie beschleunigte noch einmal. Das Ziel war schon in Sicht. Auf einem Feld, waren zwischen zwei hohen Masten oben und unten jeweils ein breites Band gespannt. Für die Wertung musste man dieses Viereck durchfliegen.
Jasmin machte einen letzten kräftigen Schlag mit den Flügeln. In dem Moment, als sie das Ziel durchquerte legte sie die Schwingen an und drehte sich, mit den Rücken in Flugrichtung. Dadurch verlor sie sehr schnell an Höhe. Die Harpyie ging leicht in die Hocke, wobei sie ihre Füße anspannte. Ihre Krallen pflügten, durch ihre Geschwindigkeit, noch ein paar Meter durch den Boden, bevor sie zum Stillstand kam.
Die Zuschauer jubelten. Ganruman landete neben ihr. Seinen kurzen Zauberstab noch in der Hand, stützte er sich keuchend auf seine Knie. Er öffnete seinen Helm, um besser Luft zu bekommen.
Auch die Harpyie war außer Atem. Erst nachdem zwei weitere Teilnehmer in Ziel waren, hatten die beiden Führenden sich wieder einigermaßen erholt.
"Das war ein tolles Rennen, Mädchen," sagte der Magier. "So schwer wie du, hat es mir lange keiner mehr gemacht."