Mitglied
- Beitritt
- 27.12.2006
- Beiträge
- 1
Das Richtige
Es war draußen bereits dunkel, als Merle das Gebäude betrat. Sobald sie den Vorderraum verlassen hatte und in das Hauptgebäude kam, schlug ihr die warme, stickige Luft unangenehm entgegen, so dass sie sich wieder nach der kühlen frischen Luft des Abends sehnte. Lautes Stimmengewirr erfüllte die Halle, in der sie sich nun befand, und Merle ließ langsam ihren Blick über die Menschenansammlung schweifen. Auf den ersten Blick konnte sie den Treffpunkt nicht sofort erkennen, doch schließlich sah sie den Stand, zu dem sie nun hinlief. Ihr Ziel war ein Verkaufsstand für Babykleidung, wo eine ältere Frau stand und ihre selbstgestrickte Ware zum Verkauf anbot. Dort angekommen sah Merle auf die Uhr. Noch fünf Minuten. Äußerlich ruhig, so brodelte es in ihrem Inneren heftig. Sie wusste nicht, ob das, was sie tun würde, dass Richtige war. War es wirklich nötig? War es das Beste? Merle musste schlucken, und schnell strich sie eine kleine Träne weg, die nun ihre Wange hinunterlief. Sie wollte nicht, dass jemand sah, wie es in ihr vorging. Sie wollte ruhig und gefasst wirken. Entschlossen und sicher. So sicher, wie jemand in dieser Situation sein konnte. Nach einem weiteren Blick auf die Uhr überdachte Merle erneut ihre Situation, wie sie es bereits unzählige Male getan hatte. Tief atmete sie durch. Nein, sie war keineswegs sicher. Sie hatte unzählige Zweifel und wusste instinktiv, dass sie diese Entscheidung bis an ihr Lebensende begleiten würde. Die Verzweiflung, die sich in ihrem Herzen ausbreitete, würde immer ein Teil ihrer selbst sein. Heftige Gefühle überrannten sie, und sie musste kurz ihre Augen schließen. Aber hatte sie denn eine Wahl? Sie wusste nicht, was sie sonst tun sollte. Schließlich hatte Merle sich wieder einigermaßen beruhigt und sie öffnete wieder ihre Augen. Und blickte direkt in die einer jungen Frau. Ihre Schwester.
„Lisa“, sagte Merle erfreut, auch wenn es in ihrem Inneren ganz anders aussah. Traurig. Und qualvoll. Sie hoffte, dass ihrer Schwester die gemischten Gefühle nicht auffielen. Diese erwiderte ihr Lächeln. „Merle“, sagte Lisa. „Schön, dich zu sehen.“ Gleichzeitig fielen ihr die unpassend gewählten Worte auf und sie musste sich verlegen räuspern. „Ich meine...“ Sie rang nach Worten, doch sie wusste nicht, welche Worte die richtigen waren. Schließlich senkte sie die Augen und flüsterte leise. „Ich weiß, wie schwierig und schrecklich das für dich sein muss. Und du weißt, dass ich wünschte, du müsstest es nicht tun. Zu so etwas sollte niemand gezwungen sein. Aber ich verspreche dir“, sie schaute Merle in die Augen. „Ich verspreche, ich werde alles tun, was in meiner Macht steht. Wir werden alles tun. Alles, damit es ihr gut geht.“ Bei diesen Worten schaute sie zärtlich zu dem schlafenden Säugling, der in dem Arm von Merle eingewickelt in einer bunte Decke lag. Merle folgte ihrem Blick und sie strich zärtlich über die zarte, rosige Wange ihrer kleinen Tochter. Sie konnte nichts mehr sagen, so stark waren die Gefühle in ihr, als ihr klar wurde, dass es dass letzte Mal war, dass sie ihre Tochter sehen würde. Doch schließlich räusperte sie sich und sie sah Lisa an. „Ich- “ Doch ihre Stimme brach. Ihr fehlten die Worte, all die Dinge, die sie ihrer Schwester sagen und erklären wollte brachte sie nicht über die Lippen. Lisa verstand und wartete stumm ab. Sie wandte den Blick ab, um nicht sehen zu müssen, wie sich Merle von ihrer Tochter verabschieden musste. Dann war der Augenblick vorbei und Merle reichte ihr das Kind. Schwer wog das Mädchen in ihren Armen und sie hielt sie bedrückt fest. Ein letztes Mal sah Merle zu dem Säugling, dann schaute sie direkt in Lisas Augen. „Sie heißt Zoey“, sagte sie leise, dann drehte sie sich um und ging. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Pass gut auf sie auf“, flüsterte sie noch. Mit einer Hand strich sie sich die Tränen aus den Augen.
Sie war bei der Tür angekommen und drehte sich ein letztes Mal um. Sie konnte Lisa in dem Gewimmel nicht mehr entdecken. Ruhig streckte Merle ihre Hand nach der Türklinke aus. Äußerlich konnte man nichts von ihrem Leiden erkennen, ihr Gesicht war ernst und verschlossen. Schließlich holte sie tief Luft und trat nach draußen. Als sie auf der Straße stand, hörte sie aus der Ferne Sirenen. Jetzt würde es nicht mehr lange dauern. Einen Augenblick später kam der erste Polizeiwagen und bremste abrupt ab. Mehre Polizisten sprangen heraus und näherten sich ihr vorsichtig. Merle konnte die angespannte Haltung erkennen, und sah wie die Polizisten jederzeit bereit waren, zu ihren Waffen zu greifen. Doch sie machte keine Anstalten zu fliehen, sondern wartete nur. Dies bemerkten auch die Polizisten und einer von ihnen war nun direkt vor ihr. Er war noch sehr jung, etwa ihr Alter, und er sah nervös aus. Vermutlich war dies sein erster Einsatz und er war nicht sicher, wie er fortfahren sollte. Doch als er anfing, ihr ihre Rechte vorzulesen, klang seine Stimme fest und sicher. Merle hörte nicht zu. Sie wusste von ihren Rechten, und auch, dass sie im Grunde keine Chance hatte. Deswegen hatte sie sich auch entschieden, Zoey zu ihrer Schwester zu geben, damit ihre Tochter normal würde aufwachsen können. Normal und glücklich. Nicht mit dem Wissen, dass ihre Mutter eine Mörderin war. Die Mörderin von ihrem Vater.
Einige Minuten später saß Merle in dem Polizeiwagen, und lehnte ihren Kopf an das kühle Fenster. Die Augen geschlossen dachte sie an den Augenblick, als sie abgedrückt hatte. Mit der Waffe ihres Mannes, der sie hochschwanger fast zu Tode geprügelt hatte. Die Angst, die sie um ihr ungeborenes Kind gehabt hatte, fühlte sie noch immer. Kurz danach hatte sie ein entbunden, ein gesundes Kind, doch allen erzählt, es sei eine Fehlgeburt gewesen. Allen, bis auf Lisa. Als Merle den Leichnam ihres Mannes gesehen hatte, wusste sie sofort, dass sie lebenslang bekommen würde. Ihr Mann, ein angesehener Anwalt, hatte einen ebenso angesehenen und wichtigen Vater, der Richter war. Weder er noch seine Frau hätten es zugelassen, dass sie eine Form von Begnadigung erhielt.
Merle öffnete die Augen und schaute, wie die Straße vor ihren Augen verschwand.