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Das Schaf im Wolfspelz
Jeder Junge im Reich träumt davon, ein Mahartander zu sein. Diese rekrutieren sich aus den besten Kämpfern des kaiserlichen Heeres und sind mit dem besten erhältlichen Material ausgerüstet. Dennoch, oder vielleicht gerade weil sie die absolute kämpferische Elite darstellen und deshalb zu kostbar sind, werden sie kaum einmal in einer offenen Schlacht eingesetzt. Zu ihren Aufgaben zählen vielmehr die Bewachung des Kaisers und seiner Familie sowie der wichtigsten Gebäude in der Hauptstadt, die Übermittlung besonders vertraulicher und dringender Nachrichten und das Ausführen spezieller Aufträge im Feindesland. Erkennbar sind die Mahartander insbesondere an ihrem charakteristischen Helm mit dem roten Federbusch sowie dem rot-goldenen Armband am rechten Oberarm. Der Kriegerbrief mit dem persönlichen Siegel des Königs, den sie stets bei sich tragen, erlaubt ihnen ausdrücklich, in jeder Ortschaft und in jedem Gasthaus Verpflegung, Unterkunft und frische Pferde zu verlangen. Warum ich euch das alles erzähle? Nun, hört selbst, was mir wiederfahren ist.
Es war während den ersten Frühlingstagen jenes schicksalhaften Jahres, in dem Sultan Emred-ay-Ahmrad den Südosten des Kaiserreiches angriff. Der Krieg war noch jung, die Kammern noch voll, die Männer noch tapfer und noch ahnte niemand, wohin das alles führen sollte. Spätestens jedoch, als bekannt wurde, dass der Sultan auch nicht-menschliche Truppen mit sich führte, schlug die Stimmung radikal um, doch davon soll hier nicht die Rede sein. Einige waren damals der Meinung, das kaiserliche Heer sei dem des Sultans weit überlegen, und es sei daher notwendig, diesen baldmöglichst anzugreifen, aus unserem Land zu vertreiben und den Rest des Krieges auf feindlichem Territorium auszufechten; andere hielten es dagegen für klüger, sich auf die Festungen zurückzuziehen; wieder andere ahnten vielleicht etwas von dem kommenden Unheil und drängten auf einen baldigen Friedensschluss mit dem Sultan, auch unter schlechten Konditionen; die vierte Gruppe jedoch, die weitaus grösser war, als die übrigen drei zusammen, und zu der ich mich zählte, war die der Menschen, die versuchten aus dem ganzen Schlamassel den grösstmöglichen Nutzen für sich selbst zu ziehen. So kam es, dass ich mich bald einmal auf der Flucht vor den Landbütteln des Kaisers befand.
Ich sass also eines Abends in jenem Frühjahr an einen Baumstamm gelehnt und betrachtete die Landschaft, die sich vor mir ausbreitete. Hinter dem endlosen kargen und hügeligen Land, das irgendwie nach Langeweile roch, konnte man im Westen die Umrisse des Eisengebirges erahnen. Weiter südlich zeichnete sich ein kleines Dorf ab, das als einziges von allem Sichtbaren Menschenwerk war. Aus dem Südwesten schliesslich zogen wie als Vorboten des Krieges dunkle Gewitterwolken heran, um diejenigen abzulösen, vor denen ich Zuflucht in einer kleinen Baumgruppe gesucht hatte. Unter anderen Umständen hätte sich angesichts dieses Szenarios vielleicht der Dichter in mir gerührt, damals aber fluchte ich nur über den heftigen Regenfall, der mich zwang, meine Flucht zu unterbrechen. Ich konnte nur hoffen, dass es meinen Verfolgern ähnlich erging. Bald einmal begann ich zu frieren und mit mir zu ringen, ob ein Feuer, das sicher weithin sichtbar gewesen wäre, zu verantworten war. Schliesslich siegte – wie so oft – die Bequemlichkeit über die Vernunft, und bald schon prasselten wärmende Flammen am Rande der Baumgruppe.
Das Feuer musste tatsächlich weithin sichtbar gewesen sein, denn nach einer Weile sah ich einen einzelnen Reiter auf mich zukommen. Wenn das einer meiner Verfolger war, dann musste er entweder ziemlich von seinen Kampfkünsten überzeugt oder ziemlich dumm sein. Jedenfalls blieb mir nicht viel anderes übrig, als an meinem Feuer zu warten, denn die Baumgruppe war zu klein, um sich darin zu verstecken und fliehen konnte ich zu Fuss nicht. In einer Entfernung von etwa zehn Schritt vor mir, hielt er sein Pferd an. Es war ein prachtvolles Tier, ein Fuchs, dessen Oberfläche vor Nässe glänzte, was seiner Erscheinung etwas seltsam ästhetisches verlieh. Es war jedoch leicht erkennbar, dass das Reittier absolut erschöpft war, was zumindest hätte erklären können, weshalb der Reiter hierher kam, ohne dass man hätte annehmen müssen, dass es sich um einen Verfolger handelte. „Ho! Starrt mein Pferd nicht so an, sprechen könnt ihr nur mit mir.“, meinte mein Gegenüber schliesslich, grinste, und war auch schon von dem wie ich soeben erfahren hatte tauben Geschöpf heruntergestiegen. „Ein prächtiges Feuer habt ihr da, was dagegen, wenn ich mir ein bisschen die Füsse aufwärme?“ Er schien keine Antwort erwartet zu haben, sondern setzte sich nieder und liess mich verdutzt stehen. „Wer seid ihr?“, fragte ich ihn schliesslich „und was wollt ihr hier?“ „Mein Freund, ich bin nur ein einsamer Reisender, der wie ihr vom Regen überrascht wurde. Und wenn es euch nichts ausmacht, würde ich gerne mit euch speisen und hier bis Morgen rasten.“ Ich murmelte, immer noch ein wenig verwirrt, etwas von „inordnung“, setzte mich ebenfalls wieder an das Feuer und betrachtete meinen selbsternannten Freund zum ersten Mal genauer.
Besonders alt schien Andrej, so hatte ich beschlossen meinen Gegenüber zu nennen, nicht zu sein – zwei Dutzend Winter hatte er vielleicht schon gesehen, nicht mehr. Er war von ziemlich schmaler Gestalt und hatte ein fröhliches Gesicht, dem jedoch etwas dümmliches anhaftete. Das Auffälligste aber, was zu all dem im Widerspruch zu stehen schien, war die ausserordentlich gute Machart seiner Waffen und seiner Rüstung, welche er inzwischen abgelegt hatte. Allmählich begann die Dunkelheit hereinzubrechen und noch immer betrachtete ich Andrej. Ich fragte mich, wie wohl sein bisheriges Leben ausgesehen haben muss, um ihn in die gegenwärtige Situation zu bringen und welche seltsame Laune des Schicksals daran Schuld war, dass sich meine kurvenreiche Lebenslinie hier und jetzt mit der seinigen kreuzte, denn mir war inzwischen der Gedanke gekommen, dass...
„Besonders gesprächig scheint ihr ja nicht zu sein“, knurrte er und ich merkte, dass mein Magen ähnliche Geräusche von sich gab. „Kommt davon wenn man den ganzen Tag nichts gefressen hat“, gab ich zurück. Er grinste wieder auf die ihm eigene Art, zog zwei Stück Pökelfleisch, einen Laib Brot und eine Flasche irgendwas hervor. „Na daran soll’s nicht liegen mein Freund, greift ruhig zu.“ Mir müssen wohl beinahe die Augen aus dem Kopf gefallen sein und bevor ich mich bedanken konnte hatte ich mir schon ein Stück Brot in den Mund gestopft. Andrej schien sich nicht viel aus den Esswaren zu machen sondern eher dem Flüssigen ergeben zu sein.
Schluck um Schluck hatte er die Flasche inzwischen bis zur Hälfte geleert. Ihr Inhalt schien auf seinen nüchternen Magen seine Wirkung optimal zu entfalten. „Auch mal probieren?“ fragte er mit schon erkennbaren Sprechproblemen und fuchtelte mir mit der Flasche vor dem Gesicht herum. Ich sagte nicht nein und nahm einen kräftigen Schluck – den ich beinahe wieder ausgespieen hätte. Das Zeug brannte höllisch ein meinem Rachen. Andrej musste wahrlich trinkfest sein. Doch wie erwähnt, das Getränk zeigte auch bei ihm schon sichtbare Auswirkungen. Ich hielt das für den passenden Zeitpunkt um ihm ein paar Fragen zu stellen. „Weshalb reitet ihr eigentlich in Kriegszeiten alleine und in schwerer Rüstung durch dieses Land?“ Zunächst blickte er mich etwas schief an, als gezieme es sich nicht, solche Fragen zu stellen. Dann begann sich ein Lächeln auf seinem Gesicht abzuzeichnen, das allmählich breiter wurde. Er stand auf, torkelte etwas, fing sich wieder auf, schlug sich mit der Faust auf die Brust und rief dann laut aus: „Mein Freund, ich bin ein Mahartander des Kaisers!“ Darauf begann er lauthals loszulachen. Mein Interesse stieg schlagartig an. Ich wollte schon meiner Verwunderung Ausdruck geben, als er zu seinem Pferd ging, und aus der Satteltasche den unverkennbaren Mahartanderhelm hervorzog. Er setzte sich diesen auf den Kopf, nahm eine lächerlich stolze Pose ein, und begann dann abermals laut loszulachen. Er prustete regelrecht, hielt sich den Bauch vor lachen und die Tränen traten ihm in die Augen. „Hahaha, ich bin ein Mahartander des Kaisers, hahaha!“, wiederholte er. Er zog das zweite Attribut der Mahartander, die Armbinde, ebenfalls aus der Satteltasche und versuchte sie sich anzuziehen, doch sie fiel auf den Boden. Inzwischen wälzte er sich vor lachen in der nassen Erde und brachte nur noch einzelne Worte hervor. „Hahaha... Mahartander des Kaisers... Hahaha.“ Er setzte sich wieder neben das Feuer und gewann allmählich die Fassung wieder. „Und was ist denn euer Auftrag?“, wollte ich wissen. Er stand abermals auf und erklärte: „Mein Freund, ich habe eine persönliche Nachricht des Kaisers für den Oberbefehlshaber des Heeres. Ich bin auf dem Weg von Siebenstall...“, er zeigte mit dem Arm in eine Richtung (es war nicht die, in der Siebenstall lag), „...nach Holzstetten.“, und zeigte in eine andere Richtung (es war abermals nicht die, in der die erwähnte Ortschaft lag). Entweder war Andrej vom Weg abgekommen oder er wählte absichtlich nicht die direkte Route, denn von dieser war er mehrere Dutzend Meilen entfernt. In meinem Hirn begann es zu arbeiten. Wer mit einem kaiserlichen Mahartander unterwegs war, würde kaum für einen kleinen Verbrecher wie ich es war gehalten werden. „Würde es euch etwas ausmachen, wenn ich euch nach Holzstetten begleitete? Ich kenne mich in der Gegend ziemlich gut aus. Wenn ihr mich auf eurem Pferd mitreiten lässt, könnte ich euch eine grosse Hilfe sein“, bot ich ihm an. Die Heiterkeit in Andrejs Gesicht zerfloss augenblicklich, wie das Bild des Mondes, der sich in einem See spiegelt, wenn man einen Stein hineinwirft. Er musste wirklich äusserst trinkfest sein. „Verzeiht, meine Aufgabe bedingt es, dass ich alleine unterwegs bin. Ausserdem würde mein Pferd uns nicht beide tragen können.“ Letzteres war eine glatte Lüge.
Er war sofort tot. Mit einem Fetzen verhinderte ich, dass Blut aus der Schnittwunde am Hals auf die Kleidung tropfte. Andrejs Gesicht konnte man beinahe ansehen, dass er im Schlaf gestorben war. Ich war froh, im nicht die Augen zugedrückt haben zu müssen. Er hatte so laut geschnarcht, dass ich mir keine grosse Mühe zu geben brauchte, um wach zu bleiben. Nun war alles still. Beängstigend still. Es war das erste Mal, dass ich einen Menschen umgebracht hatte. Die Stille bedrückte mich, am liebsten hätte ich laut geschrieen, um sie zu vertreiben. Doch allmählich machte die Bedrückung ob der Stille einer tiefen Verachtung für den Gestorbenen Platz. Was für ein Narr! Wenn solche Männer inzwischen die Elite des kaiserlichen Heeres darstellten, würden die Truppen des Sultans leichtes Spiel haben. Ich zog Andrejs Bekleidung an und begrub ihn zusammen mit meinen alten Sachen in einer Grube, die ich mit seinem Schwert in dem steinigen Boden gegraben hatte. Diese mühsame Tätigkeit dauerte bis zum Sonnenaufgang.
Schliesslich schwang ich mich auf Andrejs stattliches Pferd und setzte es in die Richtung in Bewegung, in der Holzstetten tatsächlich lag. Wenn ich zügig ritt, sollte ich die Stadt vor Einbruch der Nacht erreichen. Natürlich hatte ich nicht vor, die Nachricht des Kaisers tatsächlich abzuliefern. Aber Holzstetten lag ungefähr in meiner Fluchtrichtung, ausserdem war es die einzige grössere Stadt in der Umgebung. Dort könnte ich mit Hilfe von Andrejs Kriegerbrief (den ich ebenfalls in der Satteltasche gefunden hatte) einige Tage bleiben, mir neue Kleider besorgen und damit meine Verfolger endgültig abschütteln. Ich kam früher in Holzstetten an, als ich gedacht hatte – Andrejs Fuchs hatte sich über die Nacht anscheinend gut erholt. Dennoch war ich nach der schlaflosen Nacht und dem langen Ritt todmüde, abgesehen davon, dass ich wieder den ganzen Tag nichts gegessen hatte. Ich begab mich in das erste Gasthaus („Zum wilden Bären“) das ich sah und setzte mich an einen Tisch. Den Helm und das Armband trug ich nicht offen, um nicht zu viel Aufsehen zu erregen, wie Andrej das ja ebenfalls getan hatte. Dennoch schien es mir, als würden mir viele misstrauische Blicke zugeworfen. Nachdem ich vorzüglich und vor allem reichlich gegessen hatte zeigte ich dem Wirt „meinen“ Kriegerbrief – er machte wahrlich grosse Augen – und verlangte dann ein Bett.
Die kräftige Hand, die sich um meine Schulter schloss, drückte so fest, dass es schmerzte. Ohne die Augen aufzuschlagen, überlegte ich mir, was in den letzten Tagen passiert war und wo ich mich befand, wofür ich einige Sekunden brauchte. Dann versuchte ich abzuschätzen, wie viele Personen neben mir in dem kleinen Raum waren – es waren mindestens drei. Schliesslich schlug ich die Augen auf. Es waren tatsächlich drei. Drei grossgewachsene Gardisten in schweren Rüstungen, natürlich hatte einer von ihnen schon mein Schwert an sich genommen. Der grösste, dessen Gesicht ein mächtiger Schnurrbart zierte, hielt mich fest und sagte schliesslich in einem Ton der keine Widerrede duldete: „Aufstehen, anziehen, mitkommen!“ Ich tat wie mir geheissen.
Einen Tag sitze ich nun schon in dieser stinkenden Zelle und warte auf – ja worauf eigentlich? Ich weiss es auch nicht. Soeben tritt der Gardist mit dem Schnurrbart in das Gefängnis. Er schaut mich an, schüttelt den Kopf, und sagt dann zu dem Wärter: „Ich musste ihn einfach noch mal sehen. Er ist ohne jeden Zweifel der dümmste Mörder, der mir je untergekommen ist. In Siebenstall brachte er einen Mahartander um und gab sich nicht einmal die Mühe, dessen Leiche zu verstecken. Dann ritt er, ganz wie es dem Auftrag des Mahartanders entsprach, hierher nach Holzstetten, wo wir nur auf ihn zu warten brauchten.“