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- 28.01.2007
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Das Schatzkästlein
Das Schatzkästlein
Wie soll ich es Ihnen sagen, mein Guter?
Zwanzig Jahre lang habe ich mich zweimal täglich gewaschen. Doch an meinem Geburtstag hatte ich einfach keine Lust mehr dazu. Wie aus heiterem Himmel. Die Waden habe ich mir aufgekratzt, um die vielen Stiche nicht mehr zu spüren. Wie gut das tat! Unzählige Male habe ich es getrieben, besonders in der Nacht …
Auch begann ich wieder zu trinken. Denn ich hatte dieses Gefühl, dieses gewisse, vielmehr ungewisse, dass die Chemie nicht mehr stimme, wenn Sie verstehen, was ich meine. Ich experimentierte sehr viel und schon bald hatte ich es, das ideale prozentuale Verhältnis zwischen Blut und Alkohol, den Saft, der mich das juckende Gift vergessen ließ.
Die Haut habe ich mir von meinen Händen reißen lassen. Übersät waren sie mit großen, wabernden Blasen. Halb so schlimm war dieses Missgeschick, vielmehr ein kurzer Moment, und er hatte beinahe etwas Erheiterndes. Der schwarze Hengst hat es getan, der ausgebrochen war, den ich einfing, wieder einsperrte, und der mir den Strick, mit dem ich ihn bändigte, durch die Hände brannte. Nur einen Hoden hat der Hengst. Der andere wurde amputiert. Doch der verbliebene, dieser war doppelt kraftvoll. Er mochte Stuten durchaus.
Meine Hände schmerzten, doch letztlich dankte ich dem Schwarzen sehr, denn all zu viel begreifen und tun wollte ich in dieser Zeit gewiss nicht. Meine Blasen blähten sich und platzten. Endlich entzündeten sie sich. Es wurde wirklich höchste Zeit …
Darf ich das Geständnis wagen?
Ich scharte Ratten, Spinnen und Fliegen um mich. Diese gaben mir ein Gefühl von Nähe, das ich ertrug. Sie erlaubten mir am Leben teilzunehmen, mich diesem sogar überlegen zu fühlen. Ich verdanke meinen kleinen Freunden sehr viel.
Stellen Sie sich bitte vor, mein Guter, all dies - mein Schmutz, meine Agonie, mein Nichtstun - weckte durchaus Sympathien! Sie glauben mir nicht? Doch, doch, ich traf mich mit einer feinen, äußerst gebildeten und geklärten Dame, mit der ich, seitdem ich mich nicht mehr wusch, regen Briefkontakt pflegte, über Gott, über Kunst und über die Welt. Seele habe ich, so sagte sie, auch wenn der Belzebub in mir tanze …
Wie bitte?
Verzeihen Sie, ich war in Gedanken woanders. Ja, ja, ich gebe zu, ich war heftig verliebt in diese lebendige, bemerkenswerte Frau, wenngleich mir die Liebe doch schon von jeher die einzige Freude war, in der ich mich als zuverlässig erwies und die ich in vollen Zügen, wenn nicht hemmungslos genoss. In der Tat, mein Lieber, die meisten Menschen mögen mich sehr.
Doch wie dem auch sei …
“Ich muss mich endlich waschen”, sagte ich zu meiner Frau, “ich beginne zu stinken. Seit meinem Geburtstag habe ich nur ein einziges Mal gebadet, und zwar nichts anderes als meine Füße und meine Waden. In einem Park habe ich das getan, in einem Ententeich zusammen mit einem dahergelaufenen, qualmenden Märchenerzähler, der sehr schön gesungen hat, weißt du?!” “Das interessiert mich nicht die Bohne”, sagte sie, “sieh lieber zu, dass wieder Geld in die Kasse kommt.”
Nun, ich verrate Ihnen auch dies, mein Guter …
Ich kenne einen Arzt. Er ist mein bester Freund. Ihm vertraut man die Sterbenden an. Denn sie fühlen sich bei ihm zu Hause, so wie er sich bei ihnen zu Hause fühlt. Die Sterbenden, so sagt er, lieben ihr Leben und auch ihren Tod auf eine ganz besondere Weise, auf eine unerklärlich, unbeschreiblich famose, freie Art, welche die Lebenden nicht im Geringsten imstande sind zu erahnen, geschweige denn zu erkennen. Mein Freund hat den Schlüssel zu diesem Schatzkästlein, wenn Sie verstehen, was ich damit meine. Ich wünsche mir das sehr, mein Guter, dass Sie mich verstehen. Meine Frau tut das leider nicht …