Das schwarze Taxi
Das schwarze Taxi
Das erste Mal geschah es im Dezember. Ich saß mit Frank, Dana und Desmond am Tisch und wir vergnügten uns mit dem Erzählen von Geschichten. Wir hatten viel Spaß an diesem Abend gehabt und die Stimmung war bestens. Das verkohlte Holz im Kamin glühte noch und draußen fielen die Schneeflocken vom Himmel, bedeckten die Straße mit einer glitzernden weißen Decke. Was an diesem Abend anders war, als an all den anderen, die wir gemeinsam verbracht hatten, war die Tatsache, dass es unser letzter sein sollte. Frank hatte beschlossen, mit seiner Frau Dana ein Haus in Florida zu kaufen, auch wegen der Kinder.
Desmond hingegen stand vor einer schwierigen Entscheidung: Entweder nahm er den Hausmeisterposten in einer dreihundert Meilen entfernten Kleinstadt an, oder es blieb wie es war. Eigentlich war es keine wirkliche Entscheidung, denn es war klar, was Desmond tun würde. Aber er würde viel aufgeben. Seine Heimat, seine Freunde. Mich. Wir hatten viel zusammen durchgestanden, er war ein guter Freund und ich bedauerte es, dass auch er die Stadt verlassen würde.
Frank und Dana kannte ich ein ganzes Stück länger als Desmond, was aber nicht heißt, dass ich sie auch besser kannte. Im Grunde kannte ich keinen von ihnen wirklich, was mir auch an jenem Abend erst richtig bewusst wurde.
Frank enttäuschte mich mit der Aussage, er habe unsere Abende nie wirklich genießen können, da angeblich eine gezwungene Atmosphäre herrschte. Dana stieß ihn zwar von der Seite an, gab ihm aber anscheinend recht, da sie den Teufel tat, ihm ins Wort zu fallen. Zudem gestand Frank, dass er mich nie besonders mochte, ich aber gute Kumpels hatte, mit denen er sich prächtigst verstand. Auch diesmal schwieg Dana und warf mir einen ängstlichen Blick zu, ein Blick der Dinge sagte wie ‚du darfst es ihm nicht übel nehmen, er hat ja irgendwie recht’ oder ‚du hättest merken müssen, dass du nicht sehr beliebt bist’. Wie auch immer:
Ich war vor den Kopf gestoßen, ließ mir aber nichts anmerken, denn die Situation allein war schon peinlich genug. Ich versuchte, mir nicht allzu viel Gedanken darüber zu machen und schob es teilweise auch auf den Alkohol, welcher an diesem Abend ungeniert eingeschenkt wurde. Ich ging kurz in die Küche und genehmigte auch mir ein Gläschen. Ich lehnte mich zurück und fragte mich, wie man sich nur so irren konnte. Ich meine, ich kannte Frank fast zwanzig Jahre, habe erlebt, wie er Dana kennen lernte, wie sie heirateten. Und sogar die Taufe ihrer Kinder. Das alles konnte ich nicht begreifen.
Desmond betrat die Küche und es schien so, als wollte er mit mir unter zwei Augen reden.
Er sagte: Ich kann Dir das Geld nicht mehr zurückzahlen.“ Ich sah ihn an und staunte.
Ich staunte über die Dreistigkeit, mit welcher er mir sprichwörtlich ins Gesicht spie.
Jahrelang hatte ich ihn unterstützt, ihn und seine Familie. Ich bezahlte die Hälfte der Beerdigung seiner Schwester, beteiligte mich an der Miete. Und das vielleicht auch in der Hoffnung, dass er auch mir einmal in einer Notlage helfen würde. Monat für Monat gab ich ihm Geld, um ihm ein besseres Leben zu ermöglichen. Vielleicht hielt ich mich für einen Wohltäter, aber es war ein gutes Gefühl und ich reichte ihm gern eine Hand zur Hilfe. In der Annahme, irgendwann wenigstens einen Teil davon wieder zu sehen, steckte ich mein Geld auch in sein Speditions-Unternehmen, welches aber wenige Monate später aufgrund mangelnder Aufträge bankrott ging. Ich schien daraus nichts gelernt zu haben und machte ihm Geschenke, ohne darüber nachzudenken, was er mir jemals geboten hat. Im Nachhinein musste ich mit Bedauern feststellen, dass da nichts war, was all das aufwiegen würde. Aber trotz alledem hoffte ich auf seine Ehrlichkeit und war mir sogar sicher, dass er mich nicht enttäuschen würde.
„Wir haben nie einen Vertrag abgeschlossen. Du...du hast mir quasi nie etwas gegeben, ich möchte einfach nur, dass wir die Sache vergessen.“ Er sagte es mir ins Gesicht und doch konnte ich es nicht glauben. Was er da sagte ließ in meinem Kopf sämtliche Alarmglocken ertönen. Ich erkannte die Wahrheit. Ich wurde benutzt. Und nicht nur von Desmond. Alle meine angeblichen Freunde, die an diesem Abend in meinem Wohnzimmer saßen, waren Schauspieler in einem schlechten Film, der mein Leben sein sollte.
„Ich nehm’ mir ein Taxi, mein Auto lass ich hier. Ich hol es morgen ab, wenn du nichts dagegen hast.“ Auf dem Weg zum Telefon drehte er sich noch einmal zu mir um und sagte:
„Hey, wir hatten doch eine schöne Zeit. War es das nicht wert?“
Ich sagte nichts und ich sah ihn noch nicht einmal an. Das war mehr, als ich hätte ertragen können.
Ich ging ins Wohnzimmer und verkündete:
„Frank, Dana...“ eine Pause „Desmond.“
Sie schauten mich an. Ich war wütend. Nein, ich war nicht nur wütend, ich war extrem gereizt und gleichzeitig wahnsinnig enttäuscht. Enttäuscht vor allem über mich selbst, jemals solchen Menschen mein Vertrauen geschenkt zu haben. Es war einfach nur bitter.
Desmond blickte zu mir rüber, ein Finger auf den Telefontasten den Hörer im Nacken und ein Ausdruck im Gesicht, den ich zu diesem Zeitpunkt als unbeschreiblich kalt empfand.
„Ihr alle, Du...“ ich zeigte auf Frank „...Du und Du..“ mein Finger wanderte von Dana auf Desmond „...ihr alle seid Feinde, ab heute. Verlasst mein Haus. Jetzt“
Desmond ließ sich davon anscheinend nicht beeindrucken und wählte schließlich die Nummer der Taxizentrale. Die andern beiden tranken ihr Gläser aus und erhoben sich.
„Desmond, wir nehmen EIN Taxi“ rief Frank zu ihm rüber. Desmond nickte kurz und drehte mir den Rücken zu. Ich ließ mich in den Sessel sinken und beobachtete. Ich beobachtete sie alle drei, ihre Gesichter. Ihre Bewegungen. Frank stand und rauchte seine Zigarette bis über den Filter, Dana saß inzwischen auf der Armlehne der Couch. Alle schwiegen. Außer Desmond, der noch immer telefonierte.
Ich war selbst kein reicher Mann. Vielleicht hatte ich auch viele Fehler. Große Fehler sogar. Aber Freundschaft hielt ich immer für wichtig. Ich dachte, dass ich Freunde hätte, nicht viele, aber einige wenige. Und ich dachte, dass man mit Freunden immer besser lebt. Wie sich aber herausstellte, hatte ich keine wirklichen Freunde. Keine Kumpels, alles billige Fassade. Nichts von alledem, auf das ich geschworen hätte, wäre es nur halbwegs wert gewesen. Alles fiel zusammen. Mein Vertrauen. Meine Ansicht, ich hätte eine gute Menschenkenntnis. Alles eine einzige große Einbildung von der in diesem Moment nichts als ein übeler Nachgeschmack übrig blieb.
„Lasst uns gehen, Freunde“ rief Desmond. Freunde? Ich hielt es für Wahnsinn, dieses Wort aus dem Mund dieses Mannes zu hören. Was wusste er schon davon. Er hatte keine Ahnung, was es wirklich bedeutete. Ich wusste, er würde als Verräter sterben.
Sie gingen. Sie verließen die Wohnung ohne Verabschiedung, ohne ein Wort auf den Lippen. Die Tür fiel ins Schloss und draußen begann das Getuschel. Ich hörte es nicht, aber ich konnte spüren, dass es so war. Ich sah aus dem Fenster und beobachtete sie. Desmond bewarf Frank und Dana mit Schnee. Gelächter. Sie hatten Spaß. Sie schienen mich schon vollkommen vergessen zu haben. Zwanzig Jahre dahin, wie von einem Windstoß weggefegt. Ohne jeder Erinnerung, ohne Trost. Nichts blieb mir, nur die pure Enttäuschung.
Sie lachten noch immer und machten Scherze, da draußen. Sie vergnügten sich im Schnee und einen Moment lang kam mir ein Verschwörungsgedanke in den Sinn. Doch ich verwarf es weil es unwichtig war. Ich versuchte, sie zu vergessen.
Das Taxi fuhr vor, ohne jedes Geräusch. Still wie die Schneeflocken, die vom Himmel schwebten. Kein Motor. Kein Bremsen. Nichts. Aber es war da.
In diesem Stadtteil gab es, soweit ich es zu diesem Zeitpunkt wusste, nur rote Taxen. Rot wie der Schal des Bürgermeisters. Rot wie das Wappen unserer Stadt. Ich wurde jedoch eines besseren belehrt: Dieses Taxi war schwarz. So schwarz, als dass es nicht schwärzer hätte sein können. Wie ein Symbol des Todes stand es dort unten im strahlendhellen Schnee. Umringt von Glanz erschien es wie ein schwarzes Loch im Weltall. Nur ein gelbes Taxi-Schild leuchtete auf dem Dach des Wagens und zeugte von einer gewissen irdischen Existenz.
Ich sah Desmond einsteigen, dann Dana. Frank sah noch einmal zu mir hinauf und folgte schließlich den Andern. Keiner der Dreien nahm auf dem Beifahrersitz Platz. Einen kurzen Moment war vollkommene Stille. Ich öffnete das Fenster einen Spalt weit um zu hören, ob der Motor überhaupt lief. Meinen Ohren nach zu urteilen tat er es nicht. Und dennoch setzte sich der Wagen in Bewegung und fuhr die Strasse entlang. Langsam und wie über dem Asphalt schwebend glitt er regelrecht dahin. Ich sah ihnen nach und konnte noch nicht einmal Rücklichter erkennen. Nichts. Nur das Licht des Taxi-Schildes auf dem Dach strahlte noch in der Ferne, bis auch dieses entgültig erlosch.
Die Strasse war leer. So leer wie Desmonds Blick, den er mir vom Telefon aus zugeworfen hatte. Leer wie die Hoffnung in mir, jemals wieder jemandem vertrauen zu können.
Ich machte das Licht aus und legte mich schlafen.
In den folgenden Tagen hatte ich das Bedürfnis, mit Desmond und den andern darüber zu reden, was geschehen war. Vielleicht war es wirklich nur der Alkohol an diesem Abend gewesen, der sie zu diesen Aussagen getrieben hatte. An diese Hoffnung klammernd suchte ich nach Desmonds Telefonnummer und fand sie schließlich in meiner Nachtischschublade. Ich begann zu wählen, während ich mir vorstellte, was er wohl sagen würde.
Gespinste wie ‚tut mir leid’ oder ‚es war nicht so gemeint’ schwirrten in meinem Kopf.
Vielleicht auch ‚wir haben beide Fehler gemacht’ oder ‚ich weiß nicht, was ich gestern alles gesagt habe’. Die letzte Variante hätte mir wahrscheinlich am besten gefallen, doch noch eh ich mir darüber Gedanken machen konnte, ertönte eine Frauenstimme am anderen Ende, die mir in einer monotonen Stimme mitteilte, dass diese Nummer gar nicht vergeben sei.
Ich wählte sie erneut um einen Irrtum auszuschließen, aber ich kam zum gleichen Ergebnis.
Es war seltsam. Noch gestern morgen hatte ich mit ihm telefoniert und ihm zu mir eingeladen. Ich hatte die gleiche Nummer gewählt und ER war am Apparat. Hatte er so kurzfristig die Stadt verlassen? Ich versuchte mit Frank zu reden, wählte seine Nummer und schließlich die Nummer seines Büros in Dellehay. Aber auch er war nicht mehr zu erreichen.
Ich rief bei Danas Mutter an, um mich bei ihr zu erkundigen. Vielleicht wusste sie etwas, was mir weiterhelfen könnte. Ich kannte sie ziemlich gut, hatte ihr oft bei diversen Renovierungsarbeiten geholfen. Eine nette Person. Sie würde mir helfen.
Dachte ich. Denn was ich zu hören bekam war mehr als schockierend:
„Tut mir leid, Mister. Ich kenne weder Sie noch eine Dana. Sie müssen sich verwählt haben“
Ich legte auf, und versuchte es erneut, doch ich kam zu keinem Ergebnis:
„Hören Sie, ich rufe die Polizei, wenn Sie mich weiter belästigen.“
„aber...Rita, was ist los..?“ stammelte ich
„Woher kennen Sie meinen Namen? Sie....das ist..“
Ich legte auf und habe seitdem diese Nummer nie wieder gewählt. Ich habe es unterlassen, jemals wieder einen Versuch zu unternehmen, mit einem meiner ehemaligen „Freunde“ Kontakt aufzunehmen. Ich sah Desmonds jüngere Schwester mit einem Kinderwagen, lächelnd und strahlend. Doch sie schien mich nicht zu kennen.
Auch Franks Cousin in der Gemüseabteilung im City-Store würdigte mich keines Blickes, behandelte mich an der Kasse wie jeden anderen Kunden.
Anfangs kam es mir seltsam vor, gerade zu unheimlich. Aber ich gewöhnte mich bald an den Gedanken, dass alles, was mit Desmond und den anderen zu tun hatte, völlig aus meinem Leben verschwunden war. Bis auf meine Erinnerungen war alles restlos gelöscht. Als hätten sie nie existiert.
Ich fand neue Freunde. Nicht viele, aber einige wenige. Manche davon sind noch heute bei mir, andere haben mich enttäuscht. Mal wieder. Sie baten mich um Gefallen, die ich ihnen nicht abschlagen konnte und ich stand am Ende wieder da wie ein Idiot. Aber auch daran habe ich mich gewöhnt. Ich quälte mich nicht lange damit. Ich warf sie auch nicht aus der Wohnung. Ich bat sie einfach, zu gehen. Dann lief es eigentlich immer gleich ab:
Sie riefen sich ein Taxi und fuhren, ohne mich eines weiteren Blickes zu würdigen, in die Nacht. Ich habe sie seitdem nie wieder gesehen und ich hätte den Teufel getan, mit ihnen Kontakt aufzunehmen, denn ich weiß, dass es eine Wiederkehr nicht geben kann.
Was auch immer an diesem Abend im Dezember geschehen ist, nichts davon tut mir heute leid. Vielleicht bin ich sogar froh darüber, was mir wiederfahren ist. Es hat mir gezeigt, dass meine wahren Freunde bei mir bleiben.
Die Falschen werden davonfahren...
...für immer.
ENDE