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Das Seeungeheuer
MANFRED, stand auf dem Schild hinter der Windschutzscheibe.
Eigentlich hieß er nur Fred. Die ersten Buchstaben standen für den Hersteller des LKWs.
Damals hatte Fred das lustig gefunden, heute war ihm das angerostete Schild nur noch peinlich. Zu dem wurde er von den unbekannten Truckerkollegen auf den Raststätten dieser Welt ständig mit falschem Namen angesprochen, wenn es darum ging über Gott und die Welt, meistens aber über Fußball und Frauen zu diskutieren. Man las die Schilder. Sie waren wie Visitenkarten. Mit der Zeit entwickelte sich hieraus sogar eine gewisse Menschenkenntnis. Waren die Buchstaben von bunten Glühbirnen umgeben, hatte man es stets mit einem Alteingesessenen zu tun, der sich die Fahrerkabine nicht bloß zum Wohnzimmer, sondern zum Abbild der eigenen Identität gemacht hatte. In diesen Fällen sah man von außen oft nicht in das Innere eines Mehrtonners, sondern betrachtete das Schaufenster eines Gemischtwarenladens. Unzählige Utensilien, von innen nach außen angeordnet.
Zuerst kam das Allmachtsgefühl; Trophäen, Dinge, auf die man besonders stolz war. Photographien von der Tochter, mit der Schultüte in der Hand, fast größer als sie selbst, oder ihr erster Freund, von dem sie einem am Telefon erzählt hat.
Dann folgte der Teil des Lebens, in dem man erkannt hatte, dass "King of the road" zu sein nicht spannend, und erst recht nicht lustig ist. Düstere Gegenstände, die irgendwann mal "aufgeschnappt" worden waren, und die man fürs Führerhaus ganz passend fand.
Gleich neben den Türen war das Armaturenbrett dann immer leer.
So weit kam keiner.
Die Kellnerin lud die Bestellung ab. Ein Glas Cola und das Tagesgericht. Spaghetti in Schinkensauce.
Dann ging sie, ein Schlachtfeld brutzelnder Mikrowellenmasse hinterlassend.
Fred griff nach der Cola. Wenigstens die konnten sie hier nicht versauen.
Einige Tische weiter saß ein dürrer Hering. Eingepackt in die blaue Jeansweste, mit der quadratischen Brille über dem Schneuzer, sah der Kerl aus, als sei er einem miesen Film entsprungen.
Potentieller Anfänger, ging es Fred durch den Kopf.
In der Kabine seines Trucks war fast nichts gewesen. Kein Namensschild, keine Familienbilder. Bloß ein rotes Stoffteufelchen, dem ein Arm fehlte.
Der Hering hatte Freds beiläufigen Blick bemerkt und winkte ihm zu, während er in sein Sandwich biss.
Fred rang sich zu einem Lächeln, und stand widerwillig auf.
Mit einer schnellen Armbewegung schleuderte er die Essensreste seines Vorgängers vom Tisch, und stellte Spaghetti und Cola ab.
Sein Gegenüber mampfte nur.
"Tach auch. Ist ja ein netter Lader, nur deinen Namen konnte ich nirgends entdecken."
"Robert."
Ein Krümel schoss durch eine Zahnlücke und landete auf Freds Oberarm.
Hätte ich doch bloß nicht hergesehen
"Wohin gehts denn?"
Der Hering legte das Sandwich auf den Teller, und spülte mit einem Schluck Bier nach.
"Südfrankreich. Ich fahre für Nestle. Sind aber keine Süßigkeiten drin. Die produzieren noch ´ne Menge anderer Sachen."
"Ich weiß", erwiderte Fred.
"Bin selbst mal für die gefahren."
Er sah auf seinen Teller. Die Nudeln erinnerten an Tentakel, und der Schinken wölbte sich wie verbranntes Blech.
Trotzdem hatte er Hunger.
"Die können hier nicht kochen", stellte Robert fest.
"Ich habe nichts anderes erwartet", sagte Fred, und stopfte sich eine Ladung von Tentakeln und Blech in den Mund.
Widererwarten schmeckte die Pampe ganz ordentlich.
In den nächsten zwei Minuten sprachen die Männer nicht mehr.
Fred ließ keinen Rest auf dem Teller über. Dann trank er sein Glas leer.
"Schon lange unterwegs?", fragte er sein Gegenüber anschließend.
"Seit zwei tagen."
"Nein, ich meine, wie lange machst du das schon, das Leben auf der Straße?"
Robert nickte.
"Oh, schon sehr lange. Eigentlich weiß ich gar nicht mehr, was davor gewesen ist. Der Asphalt verdrängt die Erinnerung an die Zeit zuvor. Es ist, als wäre man ein modernes Seeungeheuer. Man schwimmt mit dem Strom, achtet auf die Ladung, hat nie wirklich Pause, und die anderen Autos sind bloß Fische ohne Bedeutung, solange man ein Ziel vor Augen hat. Mir gefällt das."
Fred kramte nach seinen Zigaretten. Schmacht, und das Gefühl, sich zum ersten Mal seit langem keinen Reim auf einen Fahrer machen zu können, versetzten ihn in eine sonderbare Gleichgültigkeit. Er wusste eben doch nicht so viel, wie er dachte. Oder Robert log.
"Hier, nimm eine von meinen."
Ein Päckchen Marke roter Hand zitterte vor Fred nervös hin und her.
"Danke."
"Ich habe auch Feuer. Feuerzeuge habe ich immer."
Es klackte. Eine hohe Flamme, ein gesaugter Atemzug.
"Ich hätte nicht gedacht, dass du schon so lange fährst."
Wieder nickte Robert.
"Weshalb nicht?"
"Da sind keine Trophäen auf deinem Armaturenbrett. Keine Erinnerungsstücke. Nicht einmal ein Namensschild. Nur dieses rote Teufelchen, dem ein Arm fehlt."
"Oh, das meinst du."
Robert zündete sich selbst eine Kippe an.
"Verstehst du, ich bin kein Sammler. Immer nur eine Trophäe zur gleichen Zeit. Alles andere würde mir die Erinnerung zerdrücken, und dann gäbe es bloß noch einen Schwamm, aus dem vereinzelte Tropfen fallen, wenn man ihn quetscht. Keinen Zusammenhang mehr, weißt du? Ich will nur eine Sache zur gleichen Zeit haben, die dann aber vollständig."
"Hast du irgendwie mal Philosophie studiert, oder so? Ich meine, so eine Unterhaltung hatte ich lange nicht mehr. Stehst´ nicht auf Fußball?"
"Nein. Weder Philosophie, noch Fußball. Wie gesagt, ich bin ein Seeungeheuer, das ist meine Philosophie."
"Interessant."
"Ja. Doch nun muss ich los. Es war nett, dich kennenzulernen, Manfred."
Robert stand auf, ließ einen zehn Euroschein auf dem Tisch liegen, und verschwand.
Fred hatte nicht einmal noch die Zeit, ihm die Sache mit dem Schild zu erklären, dass er früher einmal lustig gefunden hatte.
Er grübelte.
War es das, was er war: Ein modernes Seeungeheuer?
Er ging zum Tresen.
Die Kellnerin warf ihm einen gleichgültigen Blick zu.
"Ja?"
"Einmal das Tagesgericht, und eine große Cola."
"Macht acht Euro."
Fred zog einen Fünferschein und drei Eurostücke aus seinem Portemonnaie.
"Stimmt so, für die nette Bedienung", sagte er und grinste.
Draußen hatte es zu regnen angefangen.
Fred musste dringend pinkeln. Nachdem er so großzügig Trinkgeld gegeben hatte, widerstrebte es ihm, in die Raststätte zurückzukehren, um nach dem Toilettenschlüssel zu fragen.
Fred hastete über den Parkplatz, den ewigen Lärm der Autobahn in den Ohren, und stellte sich vor einen Busch, hinter dem ein kleines Wäldchen lag.
Einige Meter weiter lag eine verkohlte Schaufensterpuppe, die irgendwer hierher geschmissen hatte.
Fred betrachtete sie, während er seiner Blase Erleichterung verschaffte.
War er das etwa auch, eine verbrannte Puppe?
Zur Tür hin blieb das Armaturenbrett leer. Weiter kam keiner.
Das Hupen eines LKWs erschrak ihn.
Fred drehte sich um, und sah gerade noch den Hänger mit der Lieferung für Nestle vorbeihuschen. Vielleicht hatte dieser Robert ihm wieder zugewunken, wie eben, am Tisch.
Doch Fred sah noch etwas anderes. Da lag ein auffälliger Gegenstand auf der nassen Erde.
Er hob ihn auf, und Fetzen des merkwürdigen Gespräches schossen durch seinen Kopf.
Es ist, als wäre man ein modernes Seeungeheuer.
Autos sind bloß Fische ohne Bedeutung.
Ich habe auch Feuer. Feuerzeuge habe ich immer.
Immer nur eine Trophäe zur gleichen Zeit.
Fred betrachte das rote Stoffärmchen in seiner Hand.
Sein Herz machte einen Sprung.
Dann wandte er sich wieder der verkohlten Puppe zu.
Sie trug einen Rucksack.