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Das Spiel des Lebens
Als Joshua erwacht, sitzt er auf einem Stuhl. Er hebt seinen Kopf vom Tisch, auf dem er eingeschlafen sein muss. Der Raum ist spartanisch eingerichtet. Ein schwarzer Tisch, zwei Stühle in derselben Farbe. Rings um ihn weiße Wände. »Wo zur Hölle bin ich?«
»Frag nicht.« Eine Frau tritt aus dem Schatten vor ihm. Mit jedem Schritt, den sie sich ihm nähert, wird ihr dunkles Kleid weißer. Graue Haare schlängeln sich wie Ranken um ihren schlanken Körper. Ihr Gesicht ist jugendlich.
»Bin ich tot?«
»Wieso solltest du tot sein? Sieht der Tod in deiner Vorstellung so aus?« Sie setzt sich ihm gegenüber an den Tisch.
»Ich habe mir nie große Gedanken über den Tod gemacht. Ich dachte, ich hätte mehr Zeit.« Joshua versucht, sich zu erinnern. Wieso bin ich hier? Was ist passiert?
»Du wurdest von einem Auto niedergefahren.«
Joshua sieht der Frau in die Augen. Ihre letzten Worte hallen in seinem Hirn wider. Er hat keine Erinnerungen an die letzten Minuten seines Lebens. Er kann sich nicht einmal daran erinnern, was er gestern oder vor einem Jahr getan hat. Ist das die Hölle oder …?
»Ich weiß es selbst nicht. Ich denke, es ist nichts von beidem.«
»Wie machst du das? Ich meine, ich habe das mit der Hölle nur gedacht, aber nicht …«
»Es gibt mehr als eine Art zu kommunizieren. Und nun lass uns spielen.«
Die Frau zieht eine Lade im Tisch auf und holt drei Bretter mit dazugehörigen Figuren heraus. Eines mit 32 Schachfiguren. Eines mit 181 schwarzen und 180 weißen kleinen, flachen Steinen und eines mit seltsamen hölzernen, geometrischen Formen.
»Wir spielen?«
»Ich erzähle dir alles, wenn das Spiel zu Ende ist.« Die Frau lächelt.
Joshuas Körper versteift sich. Er versucht, seine Gedanken in geordnete Bahnen zu lenken. Ich wurde überfahren. Ich bin an einem mir unbekannten Ort. Eine hübsche Frau will mit mir spielen. Sein früheres Ich hätte selbstbewusst gesagt: »Lass die Spiele beginnen. Oder mögen das Glück mit uns sein.« Jetzt weiß er nicht mehr, was er sagen soll.
»Welches Spiel wählst du?«
Joshua überlegt. Ein Spiel kennt er nicht. Die Chancen zu gewinnen, schätzt er als sehr gering ein. Schach kennt er zumindest in den Ansätzen. Er hat es als Kind ein paar Mal ausprobiert. Go schließt er aus. Er kennt es nur vom Namen her. Spiel der Götter. Wie passend.
»Wie nennst du dich?« Diese Frage brennt ihm schon seit Minuten auf der Zunge.
»Die meisten nennen mich Tod oder Sensenmann. Es stört mich nicht, wenn sie denken, ich wäre männlich.«
»Aber wie nennst du dich?«
»Ich habe keinen Namen. Aber du kannst dir einen geben, wenn du gewinnst.«
Wenn ich gewinne? Was, wenn nicht?
Die Sensenfrau blickt auf die drei Bretter auf dem Tisch. Joshua zeigt auf das Schachbrett.
Die Frau lächelt und fegt die anderen Spiele vom Tisch. »Gute Wahl.«
Joshua bereut seine Entscheidung. Sicher wählen die meisten Schach. Es ist das bekannteste Spiel auf dem Tisch. Sie muss viel Erfahrung mit dem Spiel haben. Er sieht auf die Spielsteine auf dem Boden. Dann blickt er der Frau ins Gesicht.
»Nun sieh mich nicht so an. Ich kann nichts dafür. Wir müssen beide da durch. Und bevor du fragst, das andere Spiel habe ich vor zweihundert Jahren aus Langeweile aus einem Stück Treibholz geschnitzt. Es hat wie ich keinen Namen. Hättest du es gewählt, hätte ich mir Regeln ausdenken müssen.«
Zweihundert Jahre? Dafür sieht sie noch verdammt gut aus. Der Tod sei friedlich, hat er einmal gelesen. Die Leute gehen gerne ins Licht. Viele sterben mit einem Lächeln auf den Lippen. Sie macht ihre Sache gut. All die Ruhe, die sie ausstrahlt.
»Danke und danke. Schwarz oder weiß?«
Joshua überlegt und wählt die Farbe am anderen Ende des Brettes. Die Sensenfrau dreht das Schachbrett um, wirft ihre Haare nach hinten und lässt ihre Finger knacken. Sie macht ihren ersten Zug und fährt mit einem weißen Bauer ein Feld nach vorne auf F3.
Das ist der dümmste Zug, den man machen kann. Man muss am Anfang die Mitte des Feldes besetzen. Er setzt seinen ersten Bauern auf E5 und wartet darauf, dass die Sensenfrau es ihm gleich macht.
Ihr nächster Zug verwirrt ihn noch mehr. Sie nimmt einen weiteren Bauern in die Hand und setzt ihn auf G4.
Joshuas Hände zittern, als er die Königin auf H4 ziehen lässt und den gegnerischen König mattsetzt. Ein Sterblicher hat den Tod besiegt. Er hat sie in nur zwei Zügen bezwungen. »Du hast mich gewinnen lassen, nicht wahr?«
»Ja.«
»Ich verstehe nicht.«
»Wenige verstehen das Leben und keiner den Tod. Mich hat jemand ermordet. Dann spielte ich mit einem alten Mann Schach und gewann. Er gab mir die Sense, sagte mir, ich müsse anderen den Lebensfaden durchtrennen. Dann verschwand er. Zeit für ein weiteres Spiel.«
Noch eines? Sagte sie nicht gerade, sie hätte mit einem alten Mann Schach gespielt und gewonnen? Wenn wir weiterspielen, dann … »Ich nehme das seltsame Spiel am Boden.«
Sie legt ihm drei Würfel vor die Nase und nickt ihm zu. Die Würfel haben keine Augen, sondern Zahlen. Joshuas linke Hand zittert, als er die Würfel in der Hand bewegt und dann auf den Tisch fallen lässt.
»Die Würfel haben entscheiden, wie viele Menschen du töten musst, um die Sense weiterzugeben.«
Joshua sieht auf das Ergebnis. Eine Sieben, eine Acht und eine Drei. Sieben und acht und drei sind 15. Das wird nicht genug sein. Wahrscheinlich muss man alles miteinander multiplizieren. Sieben mal acht mal drei ist 168.
»Du irrst dich.« Die Sensenfrau zeigt auf jeden Würfel und nennt die Zahl.
»783?«
»Es könnte schlimmer sein. Ich würfelte 918.«
Die Sensenfrau steht auf, verschwindet im Dunkel des Zimmers und tritt dann wieder aus dem Schatten. Die Sense in ihrer Hand sieht riesig aus. »Viel Glück. Und viel Spaß.«
In seiner Hand wiegt sie weniger, als er gedacht hat.
Das karge Zimmer verschwindet und er steht in einem anderen Raum. Eine Familie isst zu Abend. Joshua sieht ihnen kurz zu, dann entscheidet er sich.