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Das Spiel
Seine Füße wirbelten Asche auf, trieben Schutt und Geröll vor sich her. Er schlurfte, stolperte und taumelte, griff an seinen Mund, zerrte am Klebeband. Gebäude flankierten die Straße – ein mehrstöckiges Wohnhaus links, leere Fenster, rußumrandet; rechts nur noch Ruinen, eingestürzte Mauern, Stahlstreben in geschwärztem Beton.
Durchladen.
Er zog das Klebeband ab und schlurfte weiter, nach vorn gebeugt, die Arme an die nackte Brust gepresst. Links von ihm ein ausgebranntes Auto, halb auf dem Gehweg; Laternen auf beiden Seiten, rechts eine zur Straße hin umgeknickt. Er stieg darüber, trat in eine Glasscherbe, schrie auf und humpelte weiter. In seiner Spur verklumpten Asche und Blut. Links eine herausgebrochene Tür auf dem Gehweg, dahinter lehnte eine Straßenlaterne an der Fassade.
Anlegen.
Er zitterte im kühlen Wind, starrte zu Boden, wich Scherben und spitzen Trümmern aus. Seine verfilzten Haare hingen strähnig vor seinen Augen; er strich sie hastig zurück, verschmierte Dreck und kalten Schweiß auf seiner Stirn.
Zielen.
Rechts von ihm lag ein Kleinbus auf dem Dach, die Reifen zerfetzt, die Fenster auf dem Asphalt verteilt. Kurz dahinter endeten die Häuser, die Straße verschwand in einem Tunnel, darüber Bahngleise, zerrissene Hochspannungsleitungen. Er humpelte durch die Scherben, suchte auf Zehenspitzen nach freien Stellen.
Abdrücken.
Ein Schuss dröhnte, neben ihm zersplitterte Glas. Er erstarrte, sah sich hastig um, dann lief er. Ein zweiter Schuss ließ ihn aufschreien und zu Boden stürzen. Eine Kugel hatte seinen nackten Oberschenkel durchschlagen. Er wälzte sich auf der Straße, presste seine Hände auf die Wunde; Blut quoll zwischen seinen Fingern hindurch, Blut quoll aus unzähligen Schnittwunden. Ein weiterer Schuss traf ihn am Bauch. Er krümmte sich, schrie, spuckte Blut, hämmerte mit den Fäusten auf dem Asphalt.
Zwei Schüsse verfehlten ihr brüllendes Ziel, schlugen in den Kleinbus und in eine Straßenlaterne, ein dritter ließ die Schreie verstummen, der letzte verhallte im Schweigen.
„Er ist weit gekommen“, sagte Wilhelm und klopfte mit der Faust auf die Fensterbank. „Grade ein paar Stunden hier und schon das erste Mal gewonnen.“ Er warf Richard eine Schachtel Zigaretten zu. „Anfängerglück.“
„Ich ... ich rauche nicht“, log er. Der Anblick der Schachtel widerte ihn an.
Das ist unser tägliches Ritual. Unser Spiel. Wir wetten, wie weit ein Kandidat kommt, bis die ihn erwischen, hatte Wilhelm gesagt und was Wilhelm sagte, war Gesetz, das wusste er bereits.
Richard wurde übel. Der Mann lag da unten im Dreck, abgeknallt wie eine Tontaube.
„Mach damit, was du willst.“ Wilhelm zuckte mit den Schultern, schritt langsam durch den Raum und lehnte sich an die Wand gegenüber dem Fenster.
„Ich würde sie behalten. Wer weiß, vielleicht gewöhnst du dir das Rauchen ja wieder an“, flüsterte Karl.
Richard betrachtete ihn aus dem Augenwinkel.
Sie hatten gemeinsam ein MG-Geschütz bedient, hatten in dem Nest gehockt und Salve um Salve in die leere Nacht gejagt, wissend, dass der Feind nicht in Reichweite gewesen war, doch das Rattern war beruhigend gewesen, hatte die Schreie übertönt, die dröhnenden Einschläge der Artelleriegeschütze.
Wenn im Chaos der Nacht leere Uniformen durch Gräben huschten, Helme über Erdränder lugten, bei Explosionen abtauchten, wenn Stiefel durch den Matsch irrten, wenn Gebrüll, Gewimmer und Geheul Worte ersetzten, dann war der Abzug einer Waffe etwas, das einem Halt gab, etwas an das man sich klammern konnte, was Ordnung in die huschende, zuckende und sterbende Dunkelheit brachte. Das hypnotisierende Stakkato des Mündungsfeuers, der hämmernde Rückstoß ...
Doch als wenige Meter neben ihnen ein Artelleriegeschoss eingeschlagen war, sie die Druckwelle gespürt, die Hitze gefühlt hatten, als Erde auf ihre Helme und in ihre Münder geregnet war, hatte Karl die Nerven verloren, war aus dem Nest geklettert und gerannt. Richard war ihm gefolgt, war dicht hinter ihm durch die Nacht gehetzt, hatte irgendwo, irgendwie die Frontlinie durchbrochen, bis sie in einem Waldstück erschöpft gegen Bäume gestolpert und zu Boden gesunken waren. Am Tag darauf hatten sie die Stadt erreicht, waren durch die entvölkerten Straßen geirrt, zwischen Häusern entlang, deren Bewohner tot oder an der Front waren, unter den Trümmern verrotteten oder in Luftschutzbunkern hockten, bis Pfiffe und Rufe sie in das Schulgebäude gelockt hatten.
Jetzt hockten sie hier, während draußen, in der Ferne, die Schlacht tobte. Niemand wusste mehr, wer angefangen hatte, es spielte auch keine Rolle. Zwei Länder, die selbe Sprache, die selbe Kultur, der selbe Krieg.
Richard hielt die Schachtel hoch.
„Wer will“, fragte er.
„Immer her damit.“ Hans, der auf dem Boden gesessen hatte, erhob sich, klopfte den Staub von seiner Uniform, strich sie glatt, ging zu Richard und nahm ihm die Schachtel aus der Hand.
Er wischte das Mundstück einer Zigarette an seinem Ärmel ab, schob sie sich zwischen die Lippen und hielt die Schachtel erst Wilhelm hin, der den Kopf schüttelte, dann Roland, der mit zitternder Hand eine Kippe herauszog und in seine Brusttasche gleiten ließ.
Hans’ Sturmfeuerzeug flackerte auf. Er neigte den Kopf, hielt die Zigarette in die Flamme, nahm einen tiefen Zug, spitze seine dicken Lippen und blies Rauch in die Luft, während draußen die Artilleriegeschütze grollten; leise wie ein fernes Gewitter, das vor ein paar Tagen, vielleicht auch Wochen, noch über der Stadt getobt hatte. Der Krieg war durch die Straßen geschwappt, hatte Menschen mit sich gerissen, Gebäude zerstört, die Zivilisation wie Schmutz vom Asphalt gespült und rollte weiter ins Landesinnere, wo er sich irgendwann brechen würde.
Richard sah zum Fenster; die Welle hatte Treibgut zurückgelassen, feindliche Soldaten, die irgendwo in den Gebäuden hockten und auf die eigenen Männer schossen. Richard fragte sich, ob sie wussten, wen sie da mit ihren Kugeln durchsiebten. Vermutlich ahnten sie es, schließlich waren Männer in Unterhosen, die einmal täglich über die Straße stolperten etwas, über das man sich früher oder später Gedanken machte. Sogar im Krieg, sogar im Feindesland.
„Wie sieht’s an der Front aus?“ Wilhelm stieß sich von der Wand ab, legte den Kopf leicht in den Nacken und verschränkte die Arme hinter dem Rücken.
Richard erinnerte er an einen Anwalt oder Buchhalter, mit seiner ruhigen, sachlichen Stimme, dem schmalen, glattrasierten Gesicht, den kurzen Haaren und der steifen Ernsthaftigkeit, mit der er sprach, schwieg, sich bewegte oder regungslos an einer Wand stand und ins Nichts starrte. Ein Anwalt oder Buchhalter mit Tarnhose, T-Shirt und einer Vorliebe für sadistische Spiele.
Er war mit zwei ihm unterstehenden Männern von seiner Einheit geflohen, noch bevor man sie an die Front hätte schicken können, hatte in der Schule Unterschlupf gefunden - und einen feindlichen Spähtrupp; eine handvoll Soldaten, die von Wilhelm und seinen Männern überrascht worden waren.
Eine Wache. Neun Schlafende. Ein Schuss. Neun Wache. Ein Toter, hatte Wilhelm gesagt und dabei flüchtig gelächelt.
„Wie soll’s gewesen sein?“ Richard zuckte mit den Schultern. „Dreckig, chaotisch und laut. Feuer, Rauch und Tote ...“
„Wir verlieren, oder?“ Hans streckte den Arm aus, hielt die Zigarette weit weg von seiner Uniform und klopfte vorsichtig die Asche ab.
„Ja“, sagte Richard. „Sieht ganz so aus.“
„Und wenn schon. Mal gewinnt man. Mal verliert man. So ist das Leben. Der Krieg.“ Wilhelm deute zum Fenster. „Und das Spiel.“
„Ein großartiges ... Spiel.“ Erst als Richard die leise Stimme hörte, wurde ihm bewusst, dass Roland bisher noch kein Wort gesprochen hatte. Er hockte in der Ecke, den Kopf leicht gesenkt, das verschwitzte, bleiche Gesicht ausdruckslos wie das einer Puppe. „Großartig.“
Roland lehnte den Hinterkopf gegen die Wand und kniff die Augen zusammen. Als er sie wieder öffnete, schimmerten Tränen darin.
Wilhelm musterte ihn kopfschüttelnd, Hans zog schweigend an seiner Zigarette, klopfte die Asche ab und steckte sich die Kippe wieder zwischen seine grinsenden Lippen.
„Wirklich ganz toll.“ Roland rieb sich die Augen, sprang auf und stürmte aus dem kleinen Raum, den Wilhelm das Spielzimmer nannte. Richard vermutete, dass es sich vor dem Krieg um einen gewöhnlichen Unterrichtsraum gehandelt hatte. Jetzt war das Zimmer leer – schmutziges, stumpfes Parkett, Glassplitter vor dem Fenster, eine zerbrochene Neonbeleuchtung in der Ecke, Kabel an der Decke.
„Auf dieser Seite des Gebäudes sind die Fenster gefährlich“, sagte Wilhelm. „Die Aussicht könnte tödlich sein.“
Er nickte Richard zu, dann verließ er den Raum.
*
Richard konnte nicht schlafen. Er stand am Fenster, hörte den Wind, das ferne Grollen, Karls Schnarchen. Und die Schreie. Er hörte die Schreie des Mannes auf der Straße, sein Brüllen und Wimmern, hörte den letzten Schuss und die Stille, als sein Echo verhallt war. Stille, manchmal war Stille schrecklicher als Schreie. An der Front war das Gebrüll der Männer ein Zeichen von Leben gewesen, ein Zeichen dafür, dass es noch Männer gab, die Brüllen konnten. Wenn die Gewehre in Feuerpausen Stille zurück gelassen hatten, der träge Rauch schweigend über die Gräben gezogen war, wenn kein Verwundeter geschrieen, Gott verflucht oder nach seiner Mutter gebrüllt hatte, dann hatte er sein Gewehr gepackt, seine Pistole oder war ans MG-Geschütz gestürmt und hatte gefeuert, einfach gefeuert, gefeuert, gefeuert, bis ihm jemand von hinten an die Schultern gefasst und beruhigt hatte.
Richard stützte sich auf die Fensterbank. Er hatte gedacht, dem Grauen entkommen zu können, der gefrorenen Stille nach den Schüssen, war ihm jedoch direkt wieder in die Arme gelaufen.
Richard wandte sich vom Fenster ab. Er konnte den Anblick der toten Stadt nicht mehr ertragen, die von der Nacht geschwärzten Bäume des Parks, die Autowracks, das Geschäft in der ausgebombten Häuserfront, mit seiner zerrissenen Markise und der Schaufensterpuppe, die aus der geschmolzenen Masse ihrer Beine heraus auf den Gehweg kroch.
Richard hockte sich auf den Boden, betrachtete Karl, sah, wie er schlief, wie sich sein Brustkorb ruhig hob und senkte. Hörst du es nicht, wollte er ihn fragen, hörst du nicht die Schreie, das Brüllen? Er wollte ihn schütteln, sein Ohr an das von Karl pressen, so fest er konnte, solange, bis er es hören würde.
Richard sank zur Seite und rollte sich auf dem Boden zusammen. Wahrscheinlich würde Karl noch nicht einmal aufwachen.
Er schloss die Augen und wartete auf den Tag.
*
Richard und Karl folgten Hans durch die Gänge, vorbei an Türen, an rechteckig gerahmten Raumausschnitten - Holzböden, Stühle, kahle Wände, vereinzelte Tafeln, zerrissene Gardinen, zerbrochene Tische - vorbei an einem gläsernen Schaukasten, an Scherben, zerfetztem Papier, in ein Treppenhaus, die Stufen hinunter, in die flache Eingangshalle, links eine Glastür zum Innenhof, rechts die Eingangstür, vor der Hans stehen blieb.
„Hier schicken wir sie raus. Genau über uns befindet sich das Spielzimmer“, sagte er, klopfte gegen den Holzbalken, der hinter den Knäufen der Flügeltür eingeklemmt war und ging weiter. Sie betraten einen kleinen, backsteinummauerten Innenhof, der wirkte, als hätte man ihm aus dem Gebäude herausgestanzt. Der graue Himmel lag über ihnen wie eine undichte Plane, Wasser tropfte von Regenrinnen und Fensterbänken, von kahlen Büschen und Hecken auf den rissigen, laubbedeckten Boden.
„Warum ... warum folgt ihr Wilhelm eigentlich“, fragte Richard.
„Er ist der ranghöchste Offizier.“
„Aber ... ihr seid desertiert.“
Karl zupfte Richard am Ärmel und presste den Zeigefinger auf seinen Mund.
„Aber wir sind immer noch im Krieg.“
„Und was ist mit ... dem Spiel“, fragte Richard und streifte Karls Hand von seinem Arm.
„Was soll damit sein?“ Hans blieb stehen und drehte sich um.
Was damit sein sollte? Menschen wurden auf die Straße getrieben, abgeschlachtet wie Vieh.
„Es ... es ... ist ...“
„Gibt es damit ein Problem?“
„Nein ... nein, natürlich nicht“, rief Karl hastig. „Es ist großartig. Wirklich ... unterhaltsam.“
Hans grinste, nickte, wandte sich ab und ging weiter.
Richard wollte Karl seinen Ellenbogen in das Gesicht rammen, ihn treten, bis er Blut spuckte. Er wollte Hans das Barett vom Kopf reißen, das wie aufgeklebt auf seinem Schädel saß, wollte ihn am Kragen seiner Ausgehuniform packen und durch den Dreck schleifen, die Straße hinauf und seine Frage wiederholen: Was ist mit dem Spiel?
Stattdessen schwieg Richard und starrte auf Hans’ kahlen Hinterkopf, während sie einen Basketballkorb passierten, ein verrostetes Klettergerüst umkurvten, das Schulgebäude durch eine weitere Glastür wieder betraten und einen Gang entlang gingen, links Oberlichter zum Hof, rechts Klassenräume, eins, zwei, drei, vier. Vor dem fünften blieben sie stehen.
Mit der Geste eines Hotelportiers wies Hans Richard und Karl an, einzutreten und folgte ihnen dann in den Raum.
Das kleine Zimmer glich einem Lebensmittelladen - an der Fensterseite waren Konserven aufgestapelt, auf einem Tisch lag ein Haufen in Plastik eingeschweißtes Dörrobst, daneben standen etliche Gläser mit eingemachten Früchten, und, ordentlich über die gesamte Länge des Raumes aufgereiht, große Plastikkanister, gefüllt mit Wasser.
„Unsere Vorratskammer“, sagte Hans, fasste mit beiden Händen unter einen der Behälter, blähte die Backen und hob ihn ächzend an.
Richard fischte wahllos ein Obstglas vom Stapel und stopfte es zusammen mit zwei Packungen getrockneter Apfelringe in die weiten Taschen seiner Armeehose.
„Woher habt ihr das ganze Zeug eigentlich“, fragte er.
„Unterschätze nie die Fülle einer leeren Stadt.“ Hans lächelte gequält, stützte den Kanister mit dem Oberschenkel ab, suchte mit seinen Händen nach Halt und watschelte aus dem Raum.
Richard und Karl folgten ihm eine enge Treppe hinab in den Keller. Das schwache Licht, das von oben hereinfiel, schälte die Konturen von gestapelten Stühlen, Kartenständern und Büchern aus der Dunkelheit.
Hans stellte den Kanister ab, knipste seine Taschenlampe an und richtete den Strahl auf eine Stahltür.
„Heizungskeller“, sagte er und kramte mit der freien Hand in seiner Tasche.
Richard hörte ein Klimpern, dann, wie sich ein Schlüssel im Schloss drehte.
„Wie unvorsichtig die Leute werden, wenn ein paar Schüsse fallen. Lassen einfach die Schlüssel liegen.“ Hans stopfte das Bund in seine Tasche. „Und da wundert man sich, wenn ständig irgendwo eingebrochen wird.“ Er lachte hustend, drückte die Klinke herunter und zog die Tür auf.
Richard hielt den Atem an. Beißender Fäkaliengestank quoll aus der warmfeuchten Dunkelheit.
Hans klopfte ihm auf die Schulter.
„Richt übel, was? Und die da drinnen müssen das ständig aushalten.“
Hans leuchtete in den Raum. Körper - zusammengekauert, aneinandergepresst, an den Kessel gelehnt oder an die Wand, auf dem Boden sitzend, auf den Knien, auf den Hintern, manche liegend, gefesselte Hände, verklebte Münder, zusammengekniffene Augen, schlammiges Braun auf dem Boden, verschmiert auf den Körpern, Rutschen und Robben, dreckige Tränen.
Der Lichtkegel wanderte langsam durch den Raum, von links nach rechts, von rechts nach links, verharrte schließlich auf dem Gesicht eines Mannes, der in der Ecke hockte und mit aufgerissenen, feuchtschimmernden Augen in das Licht starrte.
„Sieht so aus, als hätten wir unseren ... Kandidaten“, rief Hans mit der gespielten Fröhlichkeit eines Fernsehmoderators.
„Halt mal.“ Er drückte Richard die Taschenlampe in die Hand und hob den Kanister an.
Richard wandte den Blick vom Heizungsraum ab und sah zu Karl, der an einer Wand lehnte, die Hände in den Hosentaschen und auf den Boden starrte. Vollkommen regungslos stand er da, so als würde ihn das alles nichts angehen, als würde auf den Bus warten oder die Straßenbahn.
Richard fing an zu Pfeifen, nur, um die hektisch schnaufenden Atemzüge zu übertönen, die aus dem Raum drangen, die erstickten Laute verklebter Münder.
Hans schleppte sich an ihm vorbei. Richard hörte, wie er den Kanister abstellte.
„Leucht’ mal her“, rief er.
Richard richtete den Strahl der Lampe in den Raum, ohne seinen Blick von Karl abzuwenden.
„Steh auf“, hörte er Hans sagen; dann lauter: „Steh auf.“ Ein Klatschen, ersticktes Keuchen, ein Brüllen: „Aufstehen.“, wieder ein Klatschen, ein erstickter Schrei, kurz darauf stolperte der Gefangene aus dem Raum, taumelte und stürzte auf die Knie.
Hans’ Kopf schob sich in Richards Blickfeld.
„Der Kerl soll schon mal zur Haupttür. Ich komm’ gleich nach. Muss unseren Gästen vorher noch ´ne Runde ausgeben. Verdursten soll ja keiner“, sagte er und versuchte dabei wohl wieder, fröhlich zu klingen, doch seine Stimme war zu hoch und zu schrill.
Er drückte Richard weg von der Tür und zog sie langsam zu. Das Schloss klickte, eine Umdrehung, zwei Umdrehungen, dann war es still.
Karl klebte wie ein Schatten an der Wand, der Gefangene kniete auf dem Boden, ein Umriss in der trüben Dunkelheit, den Oberkörper nach vorn gebeugt, die Stirn fast auf dem Boden.
Richard räusperte sich. Sein Hals fühlte sich an, als ob jemand eine Socke hineingestopft hätte.
„Dann wollen wir mal“, sagte Karl und stieß sich von der Wand ab.
„Wir können ihn doch nicht einfach ...“
„Was können wir nicht?“ Karl ging neben dem Mann in die Hocke. „Jetzt komm und hilf mir.“
„Aber ...“
„Wir bringen ihn erst mal zur Tür.“
Richards Körper fühlte sich taub an, als er wie ferngesteuert neben den Mann trat, sich einen seiner Arme wie ein Joch in den Nacken legte, ihn gemeinsam mit Karl auf die Beine hievte, die Treppe hinauf, durch den Gang und auf den Innenhof schleppte.
Er wehrte sich nicht, hing schlaff zwischen ihnen wie eine Puppe, seine Füße stolperten und schleiften über den Boden.
Mühelos zerrten sie den Mann über den Hof. Der ausgemergelte Körper war leicht, wog vermutlich nicht viel mehr als einer der Wasserkanister.
Sie näherten sich der Glastür. Richard sah zu Boden, als er merkte, dass der Mann ihn mit feuchten Augen anstarrte. Ob er ahnte, was mit ihm geschehen würde?
Richard drückte mit der freien Hand die Tür auf, dann betraten sie die Eingangshalle.
Ob er wusste, wohin ihn die Straße führen würde?
Richard zwang sich, den Kopf zu heben, quälte seinen Blick in das schmutzige Gesicht. Der Mann war nicht viel älter als er; vielleicht Anfang dreißig, soweit der Dreck, die rotquellenden Augen und der struppige Bart eine Schätzung zuließen.
Sie erreichten die Haupttür, gingen in die Hocke und ließen den Mann auf den Boden sinken. Er rückte nach hinten, lehnte sich gegen die Wand.
„Das können wir nicht tun“, flüsterte Richard.
„Was können wir nicht tun?“
„Den Mann auf die Straße ... er wird erschossen, verdammt. Die knallen ihn einfach ab. Das ... das können wir nicht ...“
Karl schlenderte im Kreis um eine der Säulen, die die Decke der Halle abstützten.
„Hörst du mir überhaupt zu?“ Richard erschrak über seine eigene Stimme. Sie klang schrill und war viel lauter, als er beabsichtigt hatte.
„Ja.“
„Das ... das können wir nicht zulassen.“
„Was willst du tun?“ Karl blieb stehen und lehnte sich an die Säule. „Hans kann jeden Augenblick auftauchen, die Anderen sind über uns.“ Er deutete mit dem Daumen zur Decke. „Am Fenster.“
Richards Kopf dröhnte, glühte; kalter Schweiß stand auf seiner Stirn. Er wischte sich mit den Händen über das Gesicht, biss auf seine Unterlippe.
„Wir ... wir ...“, stotterte er.
„Wir können nichts für ihn tun.“ Karl war vor Richard getreten, so dicht, dass sich ihre Nasenspitzen fast berührten. „Du weißt nicht, was die mit uns machen, wenn wir ihm helfen. Wir müssen mitspielen, einfach nur mitspielen.“
Richard packte Karl am Kragen und drückte ihn gegen die Säule.
„Das ist kein Spiel, verdammt. Hörst du? Kein Spiel.“ Er schüttelte ihn. „Wir müssen das verhindern. Wir ...“ Er stockte, als Karl grinsend mit dem Kopf zur Glastür deutete.
Richard löste die Finger von seinem Kragen. Hans hatte den Innenhof überquert und die Tür erreicht.
„Wie es aussieht, haben wir wohl keine andere Wahl. Wir müssen mitspielen.“
Richard wusste, dass Karl Recht hatte. Was sollte er jetzt auch noch tun? Hans eilte durch die Halle, auf sie zu, an ihnen vorbei, zur Tür und zerrte am Holzbalken. Es war zu spät.
Richard suchte den Blick des Gefangenen, wollte ihm zu verstehen geben, dass es ihm leid tat, doch der Mann hatte das Kinn auf die Brust gelegt.
„Es geht los“, sagte Hans, lehnte den Balken gegen die Wand, zerrte den Gefangenen auf die Beine, schubste ihn vor die Tür, löste seine Fesseln und zog eine Pistole.
Richard drehte sich um. Die Socke in seinem Hals war zu einem Pullover gewachsen. Er spürte einen Luftzug im Nacken; Hans hatte die Tür geöffnet. Er hörte seine Stimme: „Geh’ langsam. Immer geradeaus. Lauf’ und wir erschießen dich. Geh von der Straße und wir erschießen dich. Bleib stehen und wir erschießen dich.“
Halte dich an alles, was ich gesagt habe, und die erschießen dich, hätte er hinzufügen sollen.
„Und jetzt raus“, sagte Hans stattdessen. Dann knallte die Tür zu.
Richard drehte sich um. Hans klemmte den Balken wieder hinter die Knäufe und eilte dann in Richtung Treppe.
„Na los“, rief er. „Wir wollen doch nichts verpassen.“
Richard und Karl folgten ihm, die Treppe hinauf, durch den Gang und in das Spielzimmer.
„Eure Wetten. Schnell.“ Wilhelm stand in der Mitte des Raumes und blickte aus dem Fenster.
„Schätze bis zum Auto“, sagte Hans.
„Um ... umgeknickte ... Laterne.“ Roland hockte im Schneidersitz auf dem Boden und spielte mit seiner Zigarette.
Richard näherte sich geduckt dem Fenster. Der Mann hatte den Mittelstreifen der Straße überquert, die an der Schule vorbei führte, stolperte weiter, passierte die Ampel, schlurfte durch den Schutt, immer geradeaus, die Straße entlang, auf den Tunnel zu.
„Deine Wette“, sagte Wilhelm.
Richard zuckte zusammen.
„Muss ich denn?“
„Es wäre wünschenswert.“
„Aber ...“
Karl stieß ihn mit dem Ellenbogen an. „Mach keinen Scheiß“, flüsterte er.
„Also?“
„Van. Wieder bis zum ...“ Ein Schuss unterbrach ihn.
Richard schloss die Augen. Ein zweiter Schuss, ein dritter, Schreie, nah und laut. Das Dröhnen des vierten Schusses verhallte, die Schreie blieben.
Richard öffnete die Augen und blickte über seine Schulter. Roland hatte die Hände auf die Ohren gepresst, wippte mit dem Oberkörper vor und zurück, brüllte.
Wilhelm stieß ihn mit dem Fuß an. Roland verstummte, schloss langsam den Mund und ließ die Hände sinken.
„Probleme“, fragte Wilhelm, obwohl es klang wie eine Feststellung. Alle seine Fragen klangen wie Feststellungen, so, als wären sie gleichzeitig die Antworten, die er erwartete.
Roland wischte sich mit dem Handrücken über seinen Mund und schüttelte den Kopf.
Wilhelm starrte ihn schweigend an, dann kramte er in seiner Tasche, zog eine Schachtel Zigaretten heraus und warf sie Hans zu.
„Glückwunsch“, sagte er. „Kurz vor dem Auto erwischt. Warst nah dran.“
Hans reckte den Arm in die Luft und wedelte mit der Schachtel, dann riss er hastig die Plastikfolie ab und stopfte sich eine Zigarette zwischen die Lippen.
Richard trat neben das Fenster, beugte sich vorsichtig zur Seite und blickte an der Wand vorbei nach draußen. Der Mann lag ausgestreckt auf dem Rücken, eine Hand auf der blutverschmierten Brust. Morgen, pünktlich zum nächsten Spiel, würde er verschwunden sein. Wohin auch immer. Wahrscheinlich verscharrten sie die Leichen irgendwo oder lagerten sie im Keller. Die Schützen räumten das Spielfeld auf. Sie spielten mit. Eindeutig, sie ...
Richard zuckte zusammen, als sich eine Hand auf seine Schulter legte, zog, ihn leicht drehte. Ein Kopf schob sich dicht an den seinen. Es war Roland.
„Er spielt dir etwas vor“, flüsterte er. „Verstehst du? Er ...“
Roland keuchte und stolperte nach hinten. Richard fuhr herum. Wilhelm hatte Roland am Nacken gepackt und zerrte ihn zur Tür.
„Am Fenster ist es gefährlich“, sagte er. „Man könnte euch erschießen.“ Er stieß Roland von sich. „Raus hier.“
Wilhelm verließ den Raum und alle folgten ihm.
*
Ein trüber Tag hatte mit einer trüben Abenddämmerung geendet, das rötliche Licht der Sonne war in der Wolkenschicht verlaufen wie Kirschsaft in einem Glas Milch, dann war die Nacht gekommen. Und mit ihr die Schlaflosigkeit.
Richard schlich durch die dunklen Gänge, folgte dem Kegel seiner Taschenlampe, der ihm hüpfend vorauseilte, über den Boden, über Wände und Türen huschte.
Es war seine zweite Nacht in der Schule, aber er hatte das Gefühl, bereits zwei Wochen hier verbracht zu haben. Oder zwei Monate, zwei Jahre.
Der Tag sickerte zäh in die Nacht, die Nacht zäh in den Tag; Wecken um sechs, Spiel um zwölf, essen um eins und um sieben, schlafen um zehn, wecken um sechs – dazwischen immergleiche Wege durch immergleiche Gänge, leere Räume, vereinzelte Schritte, irgendwo, von irgendwem, das Grollen der Front. Tag und Nacht, von sechs bis zehn, von zehn bis sechs. Wilhelm hatte die Zeiten festgelegt und hielt sich penibel daran. Er war der einzige, der eine funktionierende Uhr besaß und machte ausgiebig Gebrauch davon. Wilhelm sagte, wann es Zeit zum Essen war, wann zum Schlafen und wann zum Spielen. Morgens um sechs betrat er den Innenhof und schoss in die Luft. Ein Hahn, der mit der Pistole krähte. Sechs Schüsse und das rauschende Kreischen aufgeschreckter Vögel. Danach schoss er zu jeder vollen Stunde ein Mal, bis das Dröhnen um zehn den Tag beendete.
Siehst du das, hatte Wilhelm gefragt und dabei auf einen Kirchturm gezeigt, der, rußgeschwärzt und ohne Dach, mehr wie ein Schornstein aussah. Die Glocke läutet nicht mehr. Jetzt bin ich der Turm. Jetzt bin ich die Glocke.
So absurd die Situation auch war, Richard empfand die donnernden Glockenschläge fast als angenehm. Sie waren etwas Regelmäßiges, etwas, auf das man sich verlassen konnte; Bojen in einem trübgrauen Meer ohne Horizont.
Richard stolperte die Treppe hinunter in den ersten Stock. Er fühlte sich furchtbar – Augenbrennen, Kopfbrummen, Bleiarme, Bleibeine; erschöpft, aber nicht erschöpft genug, um zu schlafen.
Richard stieg über eine Tür, die auf dem Boden lag und folgte dem Gang, bog mit ihm nach links ab.
Er wünschte sich, wie Karl auf Knopfdruck schlafen zu können, sobald es dunkel wurde. Doch er konnte es nicht, konnte keine Ruhe finden. Nicht hier, nicht bei allem, was hier geschah, geschehen würde.
Die Zeit an der Front war schrecklich gewesen, aber das hier war schlimmer. Er hatte viel Leid gesehen, Tod und Grausamkeit, zerfetzte Körper, Blut, Kameraden, die durch ihre Eingeweide gerobbt waren. Er hatte wenig Zeit gehabt, darüber nachzudenken. Die Angst, der verzweifelte Wille, am Leben zu bleiben, das Donnern, Rattern, Schreien, Kreischen, der Regen aus Erde, der Regen aus Blut, regennasse Erde, der Schlamm, die warmglitschigen Innereien – das alles war in seinen Verstand gedrungen, hatte ihn gefüllt, zum Überlaufen gebracht und leer gespült. Aber hier war das Grauen kühl und kalkuliert. Und er hatte Zeit darüber nachzudenken, obwohl er krampfhaft versuchte, es nicht zu tun.
Früher oder später würde er es nicht mehr ertragen können, würde er zusammenbrechen, wie Roland die Hände auf die Ohren pressen und einfach nur schreien.
Er spielt dir etwas vor. Rolands Worte gingen Richard nicht aus dem Kopf. Was wollte er ihm damit sagen? Wollte er damit überhaupt etwas sagen oder ...
Ein Taschenlampenkegel schoss aus einem der Räume, zog eine Gestalt hinter sich her, huschte über den Boden, auf Richard zu, kletterte an ihm hoch und verharrte in seinem Gesicht. Er blinzelte und schirmte seine Augen mit der freien Hand ab. Der Lichtkegel rutschte zurück auf den Boden.
„So spät noch unterwegs?“
Richard erkannte Wilhelms Stimme.
„Ja ... ich ... konnte nicht schlafen.“
„So?“ Wilhelm kam langsam auf ihn zu..
„Ja ...“ Richard räusperte sich und widerstand dem Drang zurückzuweichen. „Ich ... ich komm’ einfach nicht zur Ruhe und ...“
Er stockte, als Wilhelm die Taschenlampe hob, ihm wieder ins Gesicht leuchtete.
„Es ist das Spiel. Oder?“
„Nein ... nein ... es ...“ Richard kniff die Augen zusammen und senkte den Kopf.
„Du hast ...“ Wilhelm hatte Richard erreicht, setzte ihm die Taschenlampe unter das Kinn und drückte seinen Kopf hoch. „... moralische Bedenken.“
Richard schüttelte den Kopf. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Sein Herz raste, die Gedanken folgten ihm.
Willhelm trat einen Schritt zur Seite und lehnte sich gegen die Wand.
„Du warst an der Front. Du hast gekämpft.“
„Ja.“ Richard strich sich die Haare aus dem Gesicht.
„Du hast getötet. Du hast das Töten gesehen.“
Richard atmete tief durch und versuchte, sich zu beruhigen. Er ahnte, worauf das Gespräch hinauslaufen würde – Rechtfertigung.
„Du hast gegen den Feind gekämpft. Du hast gesehen, was er anrichten kann. Und trotzdem zerbrichst du dir den Kopf wegen ein paar gegnerischen Soldaten?“
Es waren Menschen, verdammt, einfach nur Menschen.
„Im Krieg wird gestorben“, fuhr Wilhelm fort, ruhig und sachlich, ohne erkennbare Emotion. „Außerdem erschießen wir sie nicht. Die tun es.“
Machte das einen Unterschied? War es wirklich entscheidend, wer abdrückte?
Beide schwiegen. Richard malte mit dem Kegel der Taschenlampe Kreise auf den Boden und lauschte den Klängen der Artillerie; wie Paukenschläge, dumpf und regelmäßig.
„Macht es dir eigentlich Spaß?“ Richard erschrak über seine eigenen Worte.
„Das Spiel? Nein. Ich habe aber auch kein Problem damit. Ich habe die Regeln aufgestellt. Ich halte mich daran. Ich sorge dafür, dass sich alle daran halten. Es muss einfach sein.“ Wilhelm leuchtete auf seine Armbanduhr. „Und jetzt leg’ dich hin. Nur noch drei Stunden bis sechs.“
Er stieß sich von der Wand ab und ging zurück in den Raum, aus dem er gekommen war.
Richard schlurfte ins Treppenhaus, setzte sich auf die unterste Stufe und schaltete seine Taschenlampe aus.
Es muss einfach sein. Wilhelm war wahnsinnig, auf eine kalte, berechnende Art und Weise wahnsinnig. Er war kein cholerischer Irrer, kein sabbernder Psychopath; und genau das machte Richard nervös – Wilhelm war verrückt, aber es hatte den Anschein, als wüsste er, was er tat.
Es muss einfach sein. Richard wusste, dass es nur eins musste: aufhören.
*
„Lasst mich rein, verdammt. Lasst mich rein.“ Jemand hämmerte brüllend gegen die Tür.
„Das ist ... Roland.“ Die Erkenntnis traf Richard wie ein Schlag ins Gesicht. Er blickte zu Karl, der nur mit den Schultern zuckte, dann in das grinsende Gesicht von Hans. „Was ... was soll ...“
„Eure Wetten.“ Wilhelm eilte in das Spielzimmer.
Richard stand umständlich auf.
„Das könnt ihr nicht ...“
Karl zupfte ihm am Hosenbein, wollte ihn zurück auf den Boden ziehen.
„Wetten?“ Hans deutete zum Fenster. „Vielleicht sollte er erst mal loslaufen.“
„Macht die Tür auf. Bitte. Lasst mich ...“ Rolands Stimme versank im Schluchzen.
Wilhelm trat ans Fenster und blickte nach unten.
„Lauf“, sagte er und zog seine Pistole.
„Ihr ... du kannst doch nicht einfach ...“
Karl war aufgestanden und hielt Richard den Mund zu.
Wilhelm spannte den Hahn und hielt die Pistole über die Fensterbank.
„Wer wettet auf die Tür“, fragte er.
Richard stürmte aus dem Spielzimmer, rannte den Gang entlang, presste seine Hände auf die Ohren. Den Schuss hörte er trotzdem.
Richard taumelte, stieß mit dem Rücken gegen eine Wand und sank zu Boden. Das war ein Albtraum, ein beschissener Albtraum. Er begrub sein Gesicht zwischen den Händen. Aufwachen. Aufwachen.
„Beruhige dich.“ Karls Stimme neben ihm.
Richard zog seine Hände über das Gesicht, runter zum Kinn und ließ sie schlaff fallen.
„Wir müssen hier weg, Karl. Wir müssen weg“, sagte er leise.
„Wo willst du hin? Sieh dich um. Überall nur Chaos, Tod, Zerstörung.“
„Ich weiß es nicht.“ Überall war es besser als hier. „Einfach weg.“
„Da draußen gibt es nichts mehr. Und außerdem hast du gesehen, wozu Wilhelm fähig ist. Was ist, wenn die uns erwischen?“
„Und wenn wir hier bleiben? Was denkst du, wird mit uns geschehen, wenn wir hier bleiben?“
„Nichts.“ Karl ging neben Richard in die Hocke. „Wenn wir einfach mitspielen.“
„Die schlachten diese ... diese Männer einfach ab, Karl, die ...“
„Lassen sie abschlachten.“
„Was?
„Sie schießen nicht selber.“
„Das ist doch ...“ Richard winkte ab.
„Was?“
„Vergiss es.“ Es war sinnlos, mit Karl zu reden, noch sinnloser, an sein Gewissen zu appellieren.
„Du willst also hier weg?“
Richard schwieg. Sinnlos.
„Wahrscheinlich willst du den Feinden auch noch helfen, sie befreien. Das willst du doch, oder?“ Karl schnaufte verächtlich.
„Und du? Alles, was du willst, ist deinen eignen Arsch retten. Auch wenn du dafür in andere Ärsche kriechen und Scheiße fressen musst.“
„Na und? Was ist an Anpassung falsch?“
„Du bist ein Heuchler.“
Karl rückte näher an Richard heran und legte ihm seinen Arm um die Schulter.
„Du etwa nicht?“
Richard streifte den Arm ab und stand auf.
„Alles in Ordnung?“ Wilhelm war aus dem Spielzimmer getreten.
„Ja“, sagte Karl. „Alles bestens.“
*
Richard betrachtete den Lichtkegel, der auf der Tür zum Heizungskeller ruhte. Das Schlüsselbund lag warm und feucht in seiner verkrampften Hand, drückte in die Haut.
Jeder muss irgendwann in den Keller. Jeder muss einen Kandidaten holen, hatte Wilhelm gesagt.
Richard wusste nicht, was er davon halten sollte. Vertraute Wilhelm ihnen? War es ein Test?
Egal, was dahinter steckte – er konnte ihnen nicht einen dieser Männer einfach ausliefern. Und wenn sie ihn beobachteten?
Richard verscheuchte den Gedanken. Karl dachte so, nicht er.
Der Lichtkegel wanderte zum Schloss und schrumpfte, als Richard an die Tür heran trat. Der Schlüssel zitterte und schabte neben dem Loch entlang. Richard schloss die Augen und atmete tief durch. Er klemmte sich die Taschenlampe zwischen die Beine, führte den Schlüssel mit beiden Händen zum Schloss und ließ ihn hinein gleiten. Eine Umdrehung, zwei Umdrehungen. Er zog ihn heraus und stopfte sich das Bund in die Hosentasche, griff langsam nach der Klinke.
Richard konnte den Gestank fühlen, bevor er ihn roch, unterdrückte den Würgreiz.
„Nun mach schon“, sagte Karl.
Richard spürte seinen Atem im Nacken.
Er drückte die Klinke herunter und zog die Tür auf
Unerträglicher Gestank, feuchtes Patschen, Keuchen und Wimmern.
„Na los.“ Karl ging vor, Richard folgte ihm.
„Leuchten.“
Richard hob die Taschenlampe. Köpfe sanken auf knochige Brüste, Augen wurden zusammen gekniffen. Ein dürrer Körper lag bewegungslos mit dem Gesicht im Dreck, die anderen sahen so aus, als würden sie ihm bald folgen.
„Wir müssen ihnen ...“
„Helfen? Immer noch die selbe Leier, was?“ Karl kicherte. „Glaubst du wirklich, sie würden uns hier einfach so mit den Gefangenen herausspazieren lassen? Glaubst du etwa, sie trauen uns?“
Nein, das glaubte er nicht, aber ...
„Den hier.“
Karl zeigte auf einen Mann, der im Schneidersitz auf dem Boden hockte.
Richard leuchtete ihm in das Gesicht, eine verfilzte, eingefallene Maske aus Dreck und Haaren, scheckig verkrustet, eine ausdruckslose, wie aus Schlamm gehauene Skulptur.
„Hoch mit ihm“, sagte Karl.
Richard fasste dem Mann unter die Arme und achtete darauf, nur durch den Mund zu atmen.
„Eins ... zwei ... drei“, zählte Karl, dann hievten sie den Mann auf die Beine und schleppten ihn aus dem Raum.
Richard verschloss die Tür.
Der Gefangene lehnte sich mit einer Schulter gegen die Wand, schwankte, konnte aber stehen.
Als Richard zu ihm ging, fiel das Licht seiner Taschenlampe auf etwas Weißes, das am Treppenabsatz lag. Eine Zigarette.
Ob Roland sie verloren hatte?
Richard bückte sich, hob die Zigarette auf und rollte sie zwischen seinen Fingern, dann wandte er sich dem Gefangenen zu und hielt ihm die Kippe unter die Nase, doch dieser schien ihn nicht zu bemerken. Erst als Richard ihn antippte und mit dem Glimmstängel wedelte, nickte der Mann schwach.
„Was hast du vor“, fragte Karl.
„Ihm eine Zigarette geben.“ Er brauchte Zeit, musste darüber nachdenken, was zu tun war.
„Wenn uns dabei jemand erwischt ...“
„Kommt schon keiner“, sagte Richard und fingerte am Knoten der Fessel herum.
Der Mann streifte das Seil ab, massierte seine Handgelenke und begann, das Klebeband von seinem Mund zu lösen.
„Verdammt, und was, wenn doch jemand kommt?“ Karl klang gehetzt.
Richard kramte mit zitternder Hand ein Sturmfeuerzeug aus seiner Tasche und lauschte nach Geräuschen. Keine Schritte, kein Rascheln oben im Gang, nichts, was auf Wilhelm oder Hans hindeuten würde.
Der Gefangene hatte das Klebeband halb gelöst, zerrte mit beiden Händen daran, zitterte, schwitze, atmete schwer.
„Lass ihn uns zur Tür bringen.“ Karl heulte fast.
Richard schnippte die Kappe des Feuerzeugs mit dem Daumen nach oben, schloss sie wieder, schnippte sie hoch, schloss sie, auf, zu, auf, zu, auf, zu.
Mit einem Reißen löste sich das letzte Stück des Klebebands. Der Gefangene versuchte vergeblich, es von seiner Hand zu schütteln und streifte es schließlich an der Wand ab.
Richard reichte ihm die Zigarette.
„Danke.“ Der Mann hustete das Wort mehr hervor, als das er Sprach.
Richard drehte das Zündrädchen und führte die Flamme zur Zigarettenspitze.
„Wir müssen weiter. Na los“, drängelte Karl.
Richard schloss die Kappe des Feuerzeugs und betrachtete den Gefangenen, wie er an der Wand lehnte, die Glut vor dem Mund, wie er gierig an der Zigarette zog, am Filter kaute, wie seine Wangen bei jedem Zug einfielen, sich kaum blähten, als er den Qualm in die Luft blies, wie seine dürren Finger die Asche abklopften, die Glut, wie sie fiel, glimmend sank und erlosch.
„Warum seid ihr hier“, fragte Richard. „Ich meine, warum seid ihr hier geblieben, mitten im Feindesland? Seid ihr ... Besatzungstruppen?“
„Feindesland?“ Der Gefangene blickte ihn an und kaute an seiner Zigarette. Ein Stirnrunzeln brach helle Rillen in die Dreckschicht.
„Ja ...“ Er stutzte. „Ihr ... ihr seid doch feindliche Soldaten ...“
„Das ist doch völlig egal. Fessel ihn wieder und ...“
„Nein ...“ Der Mann unterbrach Karl. „Keine Feinde ... haben uns hier ... versteckt, als ... als die Stadt ...überrannt wurde.“
„Ihr seid ... Deserteure?“ Das war unmöglich, ausgeschlossen. „Welche von uns?“
Der Mann nickte.
Er spielt dir etwas vor. Rolands Worte schossen ihm durch den Kopf. Er spielt dir etwas vor.
„Du ... du gehörst nicht zu ... denen“, stammelte der Gefangene und zog an seiner Zigarette.
„Zu Wilhelm? Nein ... nein, ich gehör nicht zu ihm.“
„Sie ... sie sind zu uns gestoßen ... kamen in die Schule.“ Er schloss die Augen. Die Glut zitterte und tanzte vor seinem Kopf. „Sieben oder acht ... haben uns in der Nacht überwältigt ... Streit wegen Vorräten ... und Zigaretten.“
Sieben oder acht? Wilhelm, Roland, Hans. Aber wo steckte der Rest?
„Bist du sicher, dass es so viele ...“
Schritte.
„Hörst du das?“ Karl hob die Hand.
Näher.
Richard hielt den Atem an und lauschte. Jemand ging den Gang entlang, kam auf den Keller zu.
Näher.
Der Gefangene klopfte Asche von der Zigarette.
Näher.
„Wir müssen etwas unternehmen“ Karl flüsterte.
Näher.
Richards Herz pochte, das Blut rauschte.
Näher.
Der Gefangene hustete röchelnd.
Näher.
„Schnell.“ Karl zischte.
Näher.
Hitze stieg in Richard auf. Was, verdammt? Was sollten sie tun?
Näher.
Karl drehte sich ruckartig um und rammte dem Gefangenen seine Faust ins Gesicht. Der Mann sackte in sich zusammen wie ein Streichholzmännchen.
Hans erschien oben in der Tür.
„Alles in Ordnung“, fragte er, während er die Treppe hinunter eilte.
„Ja ... er ... er wollte fliehen und ... und da hab ich ihn ...“ Karl stupste den regungslosen Körper mit dem Schuh an und trat dabei die Zigarette aus.
„Warum ist er nicht gefesselt und geknebelt?“
„Er ... er muss sich befreit haben. Als die Tür offen war, ist er .. ist er einfach rausgestürmt.“
Hans kratzte sich am Kopf, sog geräuschvoll Luft durch die Nase ein, dann zuckte er mit den Schultern.
„Tragen wir ihn zu Tür und warten, bis er aufwacht“, sagte er. „Wenn er überhaupt aufwacht.“
Richard hoffte, dass er es nicht tun würde.
*
Richard lief auf und ab, von einer Wand zur anderen, dann zum Fenster, sah hinaus in die Nacht, ging weiter, stieg über Karl, lief im Kreis, setzte sich, stand wieder auf, strich sich durch das Haar, pulte an seinen Fingern, kaute die Nägel.
Er musste etwas unternehmen. Jetzt oder nie. Ohne noch länger darüber nachzudenken, ging Richard zur Tür.
„Wo willst du hin?“ Karl war aufgewacht.
„Du weißt, wohin.“
Er durfte nicht auf Karl hören, durfte sich von ihm nicht beeinflussen lassen. Nicht mehr.
„Du gehst nirgendwo hin.“
„Halt die Klappe.“
„Nein, du hältst die Klappe“, fauchte Karl und packte Richard von hinten an die Schultern.
„Nimm deine Pfoten weg“, sagte er, riss sich los und fuhr herum.
Karl taumelte zurück, Richard setzte nach, drückte ihn gegen die Wand und schlug zu, hämmerte mit der Faust auf sein Gesicht ein, bis Erschöpfung die Wut verdrängte, seine Hand sinken ließ.
Karl sackte zu Boden, als Richard zurückwich, sich umdrehte und aus dem Raum stürmte.
Die Schlüssel, er brauchte die Schlüssel.
Er löste die Taschenlampe von seinem Gürtel, schaltete sie ein und schlich durch den Gang. Ein kühler Wind wehte durch die glaslosen Fenster herein, und mit ihm die Geräusche der Nacht – Knistern wie von Plastiktüten, die durch die leeren Straßen trieben, die Rufe der Käuzchen, das leise Grollen der Artillerie. Richard schloss zitternd den Reißverschluss seiner Armeejacke, vorsichtig, Stück für Stück.
Wenige Meter vor Hans’ Raum schaltete er die Taschenlampe aus und tastete sich zur Tür. Leises Schnarchen. Hans schlief.
Richard schlich sich in den Raum, setzte langsam einen Fuß vor den anderen, wagte kaum zu atmen, linker Fuß, lauschte angestrengt nach Geräuschen, rechter Fuß, sah Hans an der Wand liegen, linker Fuß, in seiner Uniform, rechter Fuß, sein Barett neben ihm, linker Fuß, darin matt schimmernd eine Pistole, rechter Fuß, Hans bewegte sich, stopp, nicht atmen, still, nicht bewegen, ruhig, er drehte sich im Schlaf, weiter, lag auf der Seite, linker Fuß, Hans schnarchte leise, rechter Fuß, ganz nah, linker Fuß, bücken, Hand ausstrecken, langsam, nach der Pistole, leise, Hans schnaufte, tiefer, den Griff umfassen, Hans hustete, aufrichten, Finger auf den Abzug, zielen.
„Aufwachen.“ Richard trat gegen Hans’ Bein.
Er zuckte, stöhnte, drehte den Kopf und setzte sich ruckartig auf.
„Wer ... was ... was willst du?“ Hans rieb sich die Augen, dann das Bein.
„Die Schlüssel. Ich will die Schlüssel.“
Hans versuchte schwerfällig, aufzustehen.
„Hinsetzten.“
„Is’ ja gut. Ganz ruhig.“ Hans hob kurz die Hände und setzte sich im Schneidersitz auf den Boden.
„Mach schon.“ Richard spannte den Hahn.
„Du drückst nicht ab.“
„Ach, und warum nicht?“
„Weißt du, das Ding macht Lärm.“ Er tippte sich gegen die Ohren.
„Und?“
„Na ja, Wilhelm wird den Schuss hören und seine Männer ...“ Hans stockte.
„Du meinst die angeblichen ... Feinde. Die Schützen.“
„Du weißt also Bescheid.“ Hans tastete patschend nach seinem Barett, zog es heran und stülpte es hastig auf seinen Kopf.
„Warum?“
„Warum was?“
„Warum das ... alles? Das Spiel ... die Lügen?“
„Die Wahrheit ist manchmal schwer zu ertragen. Für dich war die Lüge doch schon schlimm genug. Wir wollen unsere Gäste ja nicht gleich wieder vergraulen.“ Er rückte sein Barett zurecht und zwinkerte Richard zu. „Was das Spiel betrifft – das ist Wilhelms Sache. Ich, für meinen Teil, rauche einfach gern.“ Hans grinste.
Wut und Verachtung stiegen in Richard hoch. Für einen Augenblick wollte er nichts lieber, als abzudrücken, ihm mit der Pistole ins Gesicht zu spucken, doch er musste sich beherrschen. Wilhelms Aufmerksamkeit war das letzte, was er jetzt gebrauchen konnte.
„Die Schlüssel. Na los.“
„Du willst sie also wirklich befreien.“
„Sieht so aus. Und jetzt her damit.“
„Wärst du auch so weit gegangen, wenn du die Wahrheit nicht gewusst hättest?“
„Es macht keinen Unterschied. Menschen sind Menschen.“
„Bist du dir sicher?“ Hans steckte seine Hand in die Hosentasche. Die Schlüssel klimperten rhythmisch.
„Raus damit.“
„Hättest du wirklich so viel riskiert für ... Feinde?“
„Die Schlüssel.“
„Würdest du wirklich hier stehen und mich bedrohen, wenn ...“
„Die Schlüssel, verdammt.“ Richard presste den Pistolenlauf gegen Hans’ Stirn. Nicht abdrücken. Ruhig. Atmen.
„Hier.“ Hans zog das Bund heraus und warf es Richard vor die Füße. „Aber lass’ uns noch ein paar Kandidaten übrig, ja?“
Richard bückte sich nach den Schlüsseln. Als er sich wieder aufrichtete, rammte er Hans den Pistolengriff gegen das Kinn, dann stopfte er sich das Bund in die Hosentasche, eilte aus dem Raum, ins Treppenhaus, stürmte die Stufen hinunter, stolperte, klammerte sich am Geländer fest, lief weiter, rannte am Keller vorbei, lief zurück, die Treppe hinab, wühlte in der Schlüsselmasse, nahm den Falschen, kramte weiter, versuchte den Nächsten und ließ ihn ins Schloss gleiten.
Richard legte seine Stirn gegen die Tür, spürte das kühle Metall und schloss die Augen, dann drehte er den Schlüssel und drückte die Klinke.
Er hielt den Atem an, rutschte durch den Fäkalienschlamm zu einem Mann, der am Heizkessel hockte, bückte sich, löste die Fessel und zog das Klebeband von seinem Mund.
„Ich hol’ euch hier raus.“
Der Mann wickelte das Seil um seinen Zeigefinger, löste es, in dem er es straff zog und begann dann von vorne.
„Hey“, rief Richard und leuchtete dem Gefangenen ins Gesicht.
Der Mann zuckte zusammen und blinzelte in das Licht. Richard senkte die Taschenlampe.
“Wie heißt du?“ Er schlug mit der Handfläche sanft gegen seine Wange. „Wie heißt du?“
Der Mann murmelte etwas, dass sich wie Heinrich anhörte.
„Heinrich?“
Der Mann nickte.
„In Ordnung, Heinrich. Bleib ruhig. Es ist bald vorbei. Ich bin hier, um euch zu helfen “
Richard stieg über die Leiche, die immer noch auf dem Bauch im Schlamm lag, ging neben einem Gefangen in die Hocke, der schwach zitternd in der Ecke kauerte.
„Ihr seid hier bald raus“, sagte er und versuchte, dabei beruhigend zu klingen. „Raus aus ... aus dieser ... Scheiße.“
Richard beugte sich herunter, zog den Mann vorsichtig ein Stück von der Wand weg und löste erst die Fessel, dann das Klebeband.
Als er das Seil zerknüllte und sich aufrichtete, sah er Heinrich schwankend am Kessel stehen.
„Geh’ schon mal raus und warte da.“ Richard deutete mit dem Lichtkegel zur Tür, dann begann er, die letzten beiden Gefangenen zu befreien.
Wie sollte er mit den Männern entkommen? Einer war aus dem Raum gewackelt, geschlichen, aufrecht gekrochen, der Rest hockte apathisch an der Wand oder lag auf dem Boden, sah so aus, als würde er noch nicht einmal zur Tür kommen, geschweige denn aus dem Keller, aus der Schule.
Richard wischte sich den Schweiß von der Stirn, pulte mit der anderen Hand die Reste der Klebestreifen ab, die dabei an seinem Kopf und in den Haaren hängen geblieben waren.
„Wer ... wer von euch kann gehen“, fragte er.
Schnaufen, Keuchen, Stöhnen.
„Könnt ihr ... könnt ihr aufstehen? Versucht wenigstens ...“
„Wasser“, keuchte jemand.
„In ... in Ordnung. Ich hol’ euch Wasser. Vielleicht könnt ihr inzwischen versuchen ... versuchen aufzustehen und vor der Tür warten, ja?“
Richard drehte sich um, verließ den Heizungskeller, blieb neben Heinrich stehen, der am Türrahmen lehnte.
„Versuch, ihnen zu helfen ... bitte ... sie müssen irgendwie auf die Beine kommen ... irgendwie ... irgendwie hier raus.“ Er wollte ihm auf die Schulter klopfen, zog seine Hand aber zurück, da er für einen Augenblick ernsthaft befürchtete, Heinrich könnte unter der Berührung zusammenbrechen. „Versuch es einfach. Wenn es ... irgendwie geht.“
Richard sprang die Stufen hinauf, überlegte kurz, in welche Richtung er gehen musste, eilte an Räumen vorbei, sah in jeden hinein, bis er die Vorratskammer gefunden hatte. Er stopfte sich hastig einige Packungen Dörrobst in die Taschen, klemmte die Lampe zwischen seine Zähne und hievte einen Wasserkanister hoch, dann schleppte er ihn aus dem Raum, ächzte und schnaufte in Richtung Keller.
Als Richard die Treppe fast erreicht hatte, plötzlich ein Schuss, ein Pfeifen, wieder ein Schuss. Er biss auf die Taschenlampe und ließ den Kanister fallen.
Hans musste aufgewacht sein. Oder Wilhelm hatte ihn gefunden.
Richard nahm die Lampe aus seinem Mund, ignorierte die schmerzenden Zähne und stürmte die Treppe hinunter. Im hektischen Licht erkannte er drei Männer im Keller, einer gestützt von Heinrich.
„Wo ist der Vierte?“
„Noch ... drin ... kann ... kann ... nicht laufen“, stammelte jemand.
Richard stürzte in den Heizungskeller, sah den Mann auf dem Boden liegen, kniete sich neben ihm hin. Er hatte die Augen halb geschlossen, atmete keuchend.
„Hey.“ Richard schlug ihm gegen die Backe. „Kannst du mich hören?“
Der Mann röchelte, seine Lider zuckten schwach.
„Tut mir leid“, flüsterte Richard, stand auf und eilte zurück zu den Männern. Wenigstens hatten es drei zur Tür geschafft. Mehr, als er erwartet hatte.
„Schnell, wir müssen weg.“
„Wasser.“
„Dafür ist jetzt keine Zeit. Wilhelm ...“
„Bitte.“ Jemand hustete trocken.
„Scheiße“, fluchte Richard. „Ok, ok, ihr bekommt Wasser.“
Er rannte die Treppe hoch und fasste unter den Kanister.
Jemand brüllte. Wilhelm rief seine Männer. Ein leiseres Brüllen antwortete.
Richard stieg die Stufen hinab, so schnell, wie es das Gewicht des Kanisters erlaubte. Unten schraubte er den Verschluss ab, goss den Männer Wasser in die hohlen Hände, hörte sie gierig schlürfen.
„Das reicht. Los jetzt.“
Richard setzte den Kanister ab und stellte sich auf die erste Treppenstufe. Vor irgendwo hörte er leise Rufe. Heißkalte Schauer jagten durch seinen Körper. Sie mussten weg, hier raus, so schnell wie möglich.
„Macht schon“, zischte er und stieg die Stufen hinauf.
Heinrich folgte ihm, schleppte sich und einen anderen Mann langsam, Schritt für Schritt, nach oben. Dahinter kroch einer auf allen Vieren, zog sich die Steinstufen hinauf wie an Klippenrändern; der letzte, stolperte, stürzte, kniete auf der Treppe, schüttelte den Kopf.
Richard drängte sich an Heinrich und seinem Anhängsel vorbei, die oben angekommen waren, half dem Kriechenden auf die Beine, schleppte ihn die Stufen hinauf, eilte dann wieder nach unten, zum letzten Mann, zerrte, drückte und trug ihn zum Treppenabsatz.
Richard wischte sich den Schweiß aus den Augen und lauschte angestrengt, hörte aber nur sein hämmerndes Herz und das Keuchen, Japsen und Stöhnen der Männer.
„Weiter“, sagte er, griff in seine Tasche, zog die Pistole heraus.
Die Gruppe stolperte, schlich und wankte durch den Gang, jemand fiel, Richard half ihm auf die Beine, schleppte ihn weiter; ein anderer hatte die Schulter gegen die Wand gelegt, ging nach rechts gebeugt als hätte das Gebäude Schräglage, die Oberlichter zum Hof über ihm.
Wieder Rufe; laute, leise, jemand pfiff.
Heinrich stolperte, taumelte nach vorne. Der Mann, den er gestützt hatte, krachte der Länge nach auf den Steinboden, blieb wimmernd und blutend liegen.
Richard lehnte den Gefangenen, der an seiner Schulter hing, gegen die Wand und kniete sich neben den Gestürzten.
„Steh auf.“ Er legte seine Hand auf den Rücken des Mannes und rüttelte. „Na los.“
Der Gefangene hob langsam den Kopf, berührte seine blutende Nase und stöhnte.
Rufe, hämmernde Schläge gegen eine Tür.
Der Mann stemmte seinen Oberkörper in die Höhe, versuchte, auf die Knie zu kommen. Richard packte ihm unter die Arme und zog ihn auf die Füße.
„Wartet hier“, sagte er, schaltete, die Taschenlampe aus und ging gebückt zur Glastür, die zum Hof führte.
Gegenüber schwirrten Lichter durch die Haupthalle wie Glühwürmchen; Wilhelms Männer waren im Gebäude. Die Seitentür, sie mussten zur Seitentür.
„Weiter.“
Sie schleppten sich an der Glastür vorbei, folgten dem Gang nach rechts. Richard ging voran, den Taschenlampenkegel dicht vor seinen Füßen. Jemand stolperte krachend gegen einen Spind, fluchte leise. Von irgendwo her Rufe, die Geräusche schwerer Stiefel. Weiter, an der Spindreihe vorbei. Links die Tür.
Richard griff nach der Klinke, zog, drückte, rüttelte, zerrte, warf sich gegen das Metall.
„Verfluchte Scheiße“, zischte er, wühlte in seinen Taschen nach den Schlüsseln, warf das Dörrobst auf dem Boden und zog das nervös klimpernde Bund heraus.
Richard probierte hastig den ersten Schlüssel aus, den er in die Finger bekam, dann den nächsten.
Die schweren Stiefelschritte kamen näher.
Er steckte einen anderen Schlüssel in das Schloss, versuchte, ihn zu drehen, zog ihn wieder heraus.
„Zum Keller“, rief jemand.
Das Bund rutschte aus Richards feuchten Händen, fiel zu Boden.
„Sie ... sie ... kommen.“ Heinrich krächzte.
Richard bückte sich. Das Blut rauschte in seinem Kopf wie ein Wasserfall. Er versuchte erfolglos, den nächsten Schlüssel ins Schloss zu stopfen.
Jemand neben ihm weinte.
Dann den nächsten.
Stiefelgetrappel wie unzählige Trommeln.
Den nächsten.
Die Taschenlampe rutschte zwischen Richards Beinen heraus, flackerte kurz.
Nächsten.
„Beeil ... dich.“
Der Schlüssel glitt hinein, ließ sich drehen. Ein Klicken.
Taschenlampenlicht im Augenwinkel.
Richard riss die Tür auf, stürzte hinaus und lief, rannte, Schritte dicht hinter ihm, die Nacht vor ihm. Weiter. In die Dunkelheit. Laufen, einfach nur laufen. Schritte, Schritte, Schritte ...
*
Die Nacht war glühend rot zu einem dunstigen Tag verbrannt, graue Wolken hingen wie Asche am Himmel über einer aschgrauen Stadt.
Richard war blind durch die Dunkelheit gelaufen, war gerannt, bis Angst die Panik ersetzt hatte, Erschöpfung die Angst. Er war geflohen, doch die Schritte waren ihm gefolgt.
Richard hörte sie dicht hinter sich, spürte warmen Atemhauch im Nacken.
Es war Karl. Er folgte ihm, war ihm immer gefolgt, würde ihm immer folgen, solange er lebte. Solange sie beide lebten. Es gab Momente, in denen Richard froh darüber war, denn vermutlich hatte er es ihm zu verdanken, dass er noch nicht tot war. Dass sie noch nicht tot waren. Und so sollte es bleiben.
Also lief er, liefen beide, durch die Ruinen, bis die Entfernung sie zu einem Punkt verschmolz, der irgendwann in den grauen Straßen der Stadt versank.