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Das Spiel
Das letzte Mal als sie ihn gesehen hatte, war er sehr wütend gewesen. Er stand vor Ihrer Wohnungstür und gab ein Päckchen ab.
„Das ist für Kevin“, sagte er barsch. „Das kannst du ihm von mir geben.“
„Willst du nicht reinkommen, Papa?“ fragte Karin betont freundlich, um ihre Versöhnungsbereitschaft zu zeigen. „Dann kannst du es ihm selbst geben. Er würde sich sehr freuen, an seinem Geburtstag.“
„Nein, ich gehe gleich wieder. Ich habe hier nichts mehr zu suchen“. Dann ging er.
Karin sah ihn Treppe herunterhetzen und versuchte seinen Blick aufzufangen, was ihr aber nicht gelang. Sie zuckte resigniert mit den Schultern und schloss die Tür. Es war immer dasselbe mit ihm: Bekam er seinen Willen nicht oder kritisierte man ihn, zog er sich vollkommen zurück, sprach kaum noch, moralisierte und drohte. Seine Familie war müde geworden, darauf zu reagieren. Daher wurde er theatralisch bis zur Lächerlichkeit. Wenn es nicht so traurig gewesen wäre, hätte Karin gelacht.
Seit sie eine erwachsene Frau war, waren die Streitigkeiten immer häufer und heftiger geworden.
Das war vor vier Wochen gewesen. Jetzt saß sie an dem Bett, in dem er lag und sich nicht mehr bewegte.
Unwillkürlich kamen ihr Gedanken an ihre Kindheit. Wenn ihr Papa Mittagschicht hatte, war er noch da, wenn sie morgens die Augen aufmachte. Manchmal war er vor ihr wach geworden und rief dann immer ganz leise: „Karin ..., Katrinchen ..., komm in mein Bett! Wir machen es uns gemütlich und ich erzähle dir eine schöne Geschichte. Eine neue, die du noch nicht kennst.“
Karin ließ sich gern locken, krabbelte in Papas Bett und er begann zu erzählen. Meist erzählte er die Geschichte von dem sprechenden Bären in Dülmen, den er bei seinen Fahrten als Zugbegleiter kennen gelernt hatte. Ihr Papa machte dort immer seine Frühstückspause. Der Bär wusste das. Er wartete schon auf ihn. Kaum hatte ihr Papa sein Butterbrot ausgepackt und die Thermoskanne aus seiner Tasche geholt, kam er angetrottet. Nicht, dass sie daran glaubte, dass ein Bär sprechen konnte. Natürlich konnten Tiere nicht sprechen. Das wusste sie, denn sie war bereits vier Jahre alt und da weiß man so etwas.
Aber wenn sie morgens in Papas wohlduftender, weicher Armbeuge lag. Wenn sie ihre kleinen Beine auf seinen warmen Oberschenkel legte, er ihr übers Haar strich und sagte: „Meine Kleine-Kleine“, dann vergaß sie, was sie bereits wusste, nuckelte an ihren beiden Fingern, die sie immer in den Mund steckte, wenn sie sehr aufgeregt war und fragte: „Und … Papa, was hat der Bär noch gesagt?“ „Dann“, sagte ihr Papa, als wäre es das Wichtigste von der ganzen Welt: „Dann hat der Bär gesagt: ‚Grüß die Karin von mir. Aber nicht vergessen’. Und wie du siehst: Ich habe es nicht vergessen.“ Da hatte sie sich vorgestellt, wie ihr Papa und der große Bär sich gegenüberstanden und miteinander über sie und die anderen die wichtigen Dinge in dieser Welt sprachen.
Wenn er die Geschichte mit dem Bären zu Ende erzählt hatte, zauberte ihr Papa eine neue Spiel-Idee aus dem Hut. Er schlug vor: „Komm, wir spielen Bude“. Er hievte im Liegen die Bettdecke mit Händen und Füßen hoch, sodass ein Dach entstand. Sie nahm dann auf seinem Bauch platz und verwandelte sich in eine Verkäuferin. Sie verkaufte ihm Bonbons, Limo und Zigaretten. „Das kostet dreiundfünfzig hundert Mark“, sagte sie ernsthaft und streckte ihm ihre kleine Kinderhand fordernd hin.
Manchmal war sie auch beleidigt, wenn ihrem dann Papa vor lauter Lachen die Tränen aus den Augenwinkeln liefen. Sie zog gekonnt eine Schnute. Aber er nahm sie in den Arm und sagte tröstend. „Nein, nein, der Papa lacht dich nicht aus, meine Kleine-Kleine. Es ist einfach nur so schön. Wenn du groß bist, und selbst Kinder hast, wirst du mich verstehen.“
Für Karin war die Krönung das „Zirkus-Spiel“. Auch hierbei streckte er seine Füße Richtung Decke, nachdem er sie aufgefordert hatte, auf seinen Fußsohlen Platz zu nehmen. Wenn sie ihre Beine hängen ließ, reichte ihr großer Zeh gerade bis zu seinen Knien. „Papa, wir machen Kunst“, kreischte Karin dann so laut, dass Karins Mutter meinte, Karin hätte sich wehgetan. Meist kam sie sofort angelaufen. Aber Karins Papa sagte: „Wir spielen doch nur“. Und dann lachten sie beide. Der Papa und sie.
Manchmal schaukelte es bedenklich, wenn ihr Papa seine Füße im Uhrzeigersinn kreisen ließ und sie hatte ein wenig Angst, herunterzufallen, aber nach einem kurzen Moment quietschte sie wieder vor Vergnügen. Denn der Papa, der hielt sie immer mit beiden Händen ganz fest. Es konnte gar nichts Schlimmes geschehen. Das wusste sie mit vier Jahren.
Wenn sie alle Geschichten gehört und genügend rumgealbert hatten, wollte Karin aufstehen. Denn ihre Freundinnen und ihre Puppen warteten bereits.
Aber dann passierte etwas Merkwürdiges. Ihr Papa, wahrscheinlich vom Spiel müde geworden, schlief ein. Anfangs hatte sie sich erschrocken und dachte, er wäre vielleicht tot. Sie zog zuerst an seiner Nase, schob anschließend seine Augenlider hoch und rief seinen Namen. Er bewegte sich nicht. Da rief sie die Mama, die seinen Zustand ignorierte und mit ihm schimpfte: „Mach dem Kind keine Angst!“, schalt sie ihn ärgerlich.
Jetzt wusste sie also, dass er nicht tot war. Daher machte sie sich ganz vorsichtig daran, das Bett zu verlassen. Aber kaum dass sie auf dem Boden stand, schnellte er hoch, ergriff ihren Arm und sagte laut lachend: „Ha. Jetzt habe ich dich gekriegt.“
Nun saß sie an seinem Bett. Seine Augen waren geschlossen wie damals. Aber seine Brust bewegte sich nicht mehr.
Der letzte, heftige Streit kam ihr ins Gedächtnis. Aber auch die Versöhnung mit diesem liebevollen, kautzigen, widersprüchlichen Menschen, der ihr Papa war. "Du weißt doch, wie ich bin, Katrinchen ... " hatte er gegrummelt und sie in die Arme genommen.
Fassungslos sah sie, dass sich auf seinen Beinen bereits Flecken bildeten. Seine Haut war von entsetzlichem kohlegrau und kühlte bereits ab. Seine Lippen begannen sich blau zu verfärben. Hinterwandinfarkt hatte der Arzt gesagt.
Sie stand auf. In kindlichem Glauben, jetzt müsse er kommen, dieser Satz: „Ha, Jetzt habe ich dich gekriegt“.
Er blieb stumm.