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Das System versagt
Nur kurz schob sich eine kleine Wolke vor die Sonne und legte ein schattiges Tuch über das grüne Land. Einen Augenblick später verschwand der transparente Stoff und der warme Wind zerriss ihn in kleine Streifen und ließ den weiten Himmel in einem hellen Blau erstrahlen. Durch dieses Blau schob sich langsam und ruhig ein geschmeidiger Körper, dessen Federn eng an seinen Leib gepresst wurden. Er zog weite Kreise und beobachtete mit seinen runden, schwarzen Augen den Wald, der sich unter ihm ausbreitete. Immer wieder änderte der Vogel seine Höhe und hielt Ausschau nach kleinen Insekten, die seinen leeren Magen füllen konnten. Zweimal, dreimal schlug er mit den Flügeln und die Welt unter ihm wurde wieder ein Stück kleiner. Die Wipfel der Bäume, die zart im Wind tanzten, waren nun nicht viel mehr als grüne Grashalme, die schon bald ein großes, ebenso grünes Loch zeigten. Der Vogel flog auf dieses Loch zu und der Wind umfing ihn bei fallender Höhe wie seichtes Wasser. Die Bäume wuchsen wieder und das Loch wandelte sich zu einer Lichtung, auf der unzählige Büsche wuchsen. Je näher der Vogel kam, desto genauer schälten sich Formen und Schatten heraus und zeigten ein Bild, dass dem Tier einen hellen Schrei entlockte. Der kurze, laute Ruf durchdrang die warme Sommerluft und verhallte erst einige Zeit später im Dickicht des Waldes. Ein Teil der Lichtung war übersäht mit schwarzen Punkten und einige davon schienen sich von den niedrigen Gräsern zu erheben, um einen Teil des Himmels zu erobern. Der Vogel legte sich zur Seite und ein Sonnenstrahl traf genau in eines seiner schwarzen Augen, das kurz aufflackerte. Das Tier stürzte nun herab und umflog dabei geschickt die letzten Äste des begrenzenden Waldes. Es befand sich genau in der Mitte der Lichtung, als es seinen Schnabel nur einen Spalt breit öffnete und einen ersten, der schwarzen, fliegenden Punkte aus der Luft pflückte. Der Vogel spürte, wie etwas auf seiner Zunge lag und mit dieser drückte er es gegen den Innenraum seines Schnabels. Unter einem leisen Knirschen zerbrach der kleine Gegenstand und der Vogel erfreute sich an dem süßen Geschmack, der sich nun in seinem Mund verbreitete. Bevor er diesen ersten Bissen herunterschluckte, drehte er bereits wieder bei und faste eine zweite Ameise in seine Augen. Wieder und wieder fing er die schwarzen Tiere aus der Luft und flog dabei knapp über ein kugelförmiges Gebilde, aus dessen Inneren sich lange, schwarze Ströme ergossen, hinweg. Wie Wasser schienen sie aus der Entfernung aus einem Erdhaufen herauszufließen, der sich um einen alten Baumstamm angehäuft hatte. Den Hügel hinab und noch eine kurze Strecke durch die Gräser hindurch blieben es schwarze Bäche, doch dann brachen sie auseinander und die Ameisen versammelten sich auf einer weiten Fläche um von dort in die Luft emporzusteigen. Aber es brachen nur einige in die Höhe auf. Die anderen blieben am Boden und betrachteten den Flug.
Der Vogel beobachtete dieses Schauspiel fasziniert und so bemerkte er nicht, dass er sich zu weit hinab gewagt hatte. Einige der Ameisen, die er nun deutlich erkennen konnte, streckten ihre Hinterleiber in seine Richtung und feuerten kleine Tropfen auf ihn ab, die jedoch ohne Wirkung an seinem Federkleid abperlten. Er gewann wieder an Höhe und dabei fiel sein Blick nochmals auf die große Stadt der Ameisen und in ein schwarzes Loch, aus dem sich in diesem Augenblick keines der Tiere hervorwagte. Darin verlor sich sein Blick, als er wieder abdrehte und weiter aufstieg.
In diesem Loch verebbte langsam das Sonnenlicht und bildete nichts weiter als einen hellen, gelben Ring, der sich um den Eingang legte. Und auch dieser verschwand nach einiger Zeit, als der Gang weiter in die Tiefe führte und sich teilte. Jeder Gabelung folgte eine weitere und nichts außer Dunkelheit war zu sehen. Die Erde war trocken und glatt, so dass die kleinen Gliederfüße der Ameisen einen guten Halt fanden und sich auch an der Decke, kopfüber, bewegen konnten.
419 streckte ihren linken, einzig noch verbliebenen Fühler, in die Dunkelheit und ließ alle elf Segmente schnell vibrieren. Das Gemisch aus Düften entschlüsselte sich langsam zu einer genauen Karte der Stadt. 419 folgte diesen unsichtbaren Straßen weiter in das Innere der Stadt, dort wo der Bau auf das Zentrum traf; auf den alten Baumstumpf, dessen Gänge und Kammern die Königin und die Weibchen beherbergten. Immer wieder traf 419 auf andere Arbeiterinnen, welche die Weibchen aus ihren Kammern holten und sie auf die große Wiese führten. Dort begegneten sie den kleineren, aber ebenfalls geflügelten Männchen und zusammen flogen sie in den blauen Himmel, den man in diesem Teil der Stadt nur erahnen konnte.
In den dunklen Gänge lagen die unterschiedlichsten Pheromonspuren, aber alle trugen die Signatur ihres Volkes und nun, da sich 419 immer weiter dem Zentrum näherte, lag auch der Geruch der Königin selbst in der Luft. Er war stärker und überlagerte die anderen Düfte zum Teil, so dass jeder Befehl das Kollektiv sofort erreichen konnte. 419 tastete sich vor, wobei sie ihren Fühler ständig in einer gewissen Frequenz vibrieren ließ. Seitdem sie ihren rechten verloren hatte, fiel es ihr immer schwerer alle Duftstoffe zu entziffern, oder wahrzunehmen. Im letzten Sommer hatte sich 419 bei der großen Raupenjagd zu nahe an eines der Tiere herangewagt und sein gefräßiger Schlund hatte den Fühler einfach am Ansatz abgetrennt. Es geschah seitdem sogar, dass 419 für den Bruchteil einer Sekunde den Kontakt zum Kollektiv verlor und alle Aufgaben und Ziele büßten in diesem einem Moment jedwede Bedeutung ein. Das Individuum stellte sich vor die Masse und nichts war wichtiger, als wieder den Zugang zu dieser zu finden. Geschah es, war das eigene Bedürfnis vergessen und 419 sorgte sich wieder um das Wohlergehen aller.
Die Luft begann sich langsam zu verändern. Sie wurde wärmer und feuchter und auch der Boden änderte seine Konsistenz. 419 konnte nun deutlich erkennen, dass sie nur noch wenige Zentimeter von den Eingängen zum Inneren des Nestes entfernt war und als sie direkt davor stand, sah sie sich einer Ameise gegenüber, deren Hinterleib etwa die fünffache Größe des ihren besaß. Er versiegelte als lebendige Tür den Eingang zum zentralen Bereich. Das mittlere Segment des Tieres war verkümmert und kaum zu sehen hinter einem massiven Kopf, der mit zwei großen Mandibeln bestückt war. Ebenso wie das mittlere Segment, passten auch die Beine nicht zum Rest des Tieres, denn es bewegte sich kaum und über Generationen hinweg hatte sich so eine Kaste der Wächter entwickelt, die nur für die Ein- und Ausgänge des inneren Nestes zuständig waren. 419 streckte ihren Fühler aus und berührte die andere Ameise mit diesen an den ihren. In diesem Bruchteil einer Sekunde übertrugen sich alle Informationen der Tiere aufeinander. Sie erkannten sich, teilten ihre Aufgabe mit und sprachen sich gegenseitig ab. Mehr gab es in den Gesprächen untereinander nicht zu sagen. Die Wächterameise machte ein paar schwerfällige Schritte nach hinten und schob ihren dicken Hinterleib zur Seite. 419 passierte den Durchgang und drang in das Zentrum vor. Die Gänge im Holz waren über Jahre hinweg geschaffen worden und jedes Mal vermittelten sie Stolz und glorifizierten damit gleichzeitig das gesamte Kollektiv. Die Arbeiterin bog nach links ab und wandte sich so von der Kammer der Königin ab. Ihr Ziel war eine jener Kammern, in denen die Weibchen auf den Hochzeitsflug warteten. Sie lief schnell durch die hölzernen Schächte und begegnete immer wieder anderen Ameisen. Sie alle berührten sich kurz an ihren Fühlern. Die meisten waren Arbeiterinnen mit besonders kleinen und stumpfen Mandibeln, die sich besonders für die Aufzucht und Pflege der Burt eigneten. Einige von ihnen sahen während ihres gesamten Lebens nie die Außenwelt.
419 hatte einen Teil des äußeren Rundes hinter sich gebracht und stand nun vor den Kammern der Weibchen. Systematisch tastete sie die kleinen Räume ab, bis sie auf einen traf, indem noch eine Ameise wartete. Vorsichtig schob 419 ihren Kopf in die kleine Nische und ließ ihren Fühler kreisen. In der hinteren Ecke entdeckte sie eine große Ameise, die ihre Flügel behutsam durch ihre Kiefer gleiten ließ. 419 schlüpfte hinein und richtete sich auf den hinteren vier Beinen auf, um die Antennen ihres Gegenübers zu berühren. Das Weibchen hielt den Kontakt jedoch länger als gewöhnlich und 419 erfuhr, dass die zukünftige Königin das Nest nicht verlassen wollte. Es war keine Angst oder etwas vergleichbares, sonders das Weibchen suchte nach sozialen Kontakten und versuchte gleichzeitig seinen Hunger zu stillen. Die potentiellen Königinnen verbrachten ihr gesamtes frühes Leben in den Kammern und trafen lediglich auf Arbeiterinnen, die ihnen zugeteilt waren. Der soziale Kontakt war auf ein Minimum begrenzt, war aber notwendig um die Verbindung zum Kollektiv aufrecht zu erhalten. 419 schob sich dichter an das Weibchen heran und beide legten ihre Münder aufeinander, die Verbindung ihrer Antennen aufrecht erhaltend. Die Arbeiterin würgte einen Tropfen Honigtau aus ihrem Kropf hervor und übergab ihn an das Weibchen, das daraufhin ihre Fühler sofort zurückzog und somit signalisierte, das sie bereit sei der Arbeiterin zu folgen. 419 drehte sich auf der Stelle und folgte dem Weg, den sie gekommen war zurück. Sie folgte dabei nur ihrer eigenen Pheromonspur, die sie noch schwach in der brutfreundlichen Luft ausmachen konnte. Die beiden Ameisen ließen das Zentrum hinter sich und stiegen durch die äußeren, erdigen Gänge langsam auf, bis 419 plötzlich stoppte. Ein einzelnes Pheromon hatte ihre Aufmerksamkeit erregt, ein Pheromon, welches auf eine ganz bestimmte Stelle verwies. 419 trippelte darauf zu und fühlte mit ihren Antennen die Umgebung ab. Sie berührte die Seiten der Wände und den Boden und dort traf sie auf einen toten Körper. Die Ameise trug einen Duft, der sie als tot auszeichnete. Eine andere Ameise hatte den fremden, nicht lebensfähigen Körper gefunden und ihn mit einem solchen Duft gezeichnet. Es würde nicht lange dauern, bis man den toten Körper aus dem Nest geschafft hatte. Im unteren Teil der Stadt, der kaum noch genutzt wurde und zu den meisten Zeiten völlig leer stand, gab es einen speziellen Ort, an den man die toten Ameisen brachte, damit sie das Nest nicht beschmutzten. 419 eilte weiter und kümmerte sich nicht weiter um den toten Artgenossen. Ihre Aufgabe war es, das Weibchen 278 auf direktem Weg nach draußen zu begleiten.
In einiger Entfernung zeichnete sich ein gelber Ring ab, der bald zu einer hellen Scheibe heranwuchs. 419 und 278 näherten sich dem Ausgang. Die Dunkelheit verschwand langsam und die kleinen, schwarzen Körper begannen leicht zu funkeln. Die Sonne verwandelte ihre harte Chitinhaut in ein Spiel aus Licht und Schatten und als 419 als erste ins Freie trat, wandelte sich dieses Spiel in eine einzige, glänzende Fläche. Die Arbeiterin stand am Ausgang des Nestes und ihre Augen übernahmen einen Teil der Geruchsinnsfunktion. Die Welt um sie herum erstreckte sich fast bis in die Unendlichkeit, als sie von der Spitze der Stadt, die von unzähligen kleinen Zweigen und Tannennadeln bedeckt war, auf sie herunter sah. Direkt am Fuße des Nestes sah sie die grüne Halme der Gräser, aber je weiter ihr Blick in die Ferne schweifte, desto mehr verschwamm alles zu einem grünen, moosgleichen Teppich. Drohnen und Weibchen kletterten auf die Halmspitzen und flogen empor. Die Männchen zuerst, da sie ihre Flügel bereits in der Vergangenheit benutzt hatten. Die Weibchen warteten noch etwas und amten die Bewegungen der Drohnen nach. Erst als sie ihre Flügel als Teil von sich selbst erkannt hatten, erhöhten sie die Schlagfrequenz und flogen den Männchen hinterher. Die Luft war erfüllt von einem leisen Summen und überall in ihr waren die kleinen schwarzen Körper zu entdecken. Im Flug hefteten sich die kleineren Männchen an die Weibchen und befruchteten sie. Ein einziges Mal geschah dies im Leben der Königinnen und es genügte um Millionen Nachkommen zu zeugen. 419 beobachtete, während eine große Soldatenameise 278 abholte und auf die Wiese führte, die sich umkreisenden schwarzen Punkte. Einige wurden im Wind abgetrieben, andere verschwanden im Schlund riesiger Vögel, die durch die schwarzen Wolken flogen. Nach der Befruchtung schließlich starben die Drohnen und fielen einfach wie Regen aus dem Himmel. Schwarze Tropfen auf grünem Grund.
419 drehte sich um und verschwand wieder in dem dunklen Loch. Noch ein- oder zweimal musste sie zu den Kammern hinabsteigen und die Prinzessinnen nach oben holen, damit sie neue Nester gründen konnten. Das Licht blieb hinter der Arbeiterin zurück, als sie einige Zentimeter vor sich eine Gruppe Blattläuse, geführt von einer Hirtenameise, entdeckte. 419 spürte ihren leeren Kropf und genauso spürte sie das Verlangen nach dem süßen, klebrigen Tau der Tiere. Sie beschleunigte ihre Schritte und eilte der Gruppe nach. Als sie sie eingeholt hatte, berührte sie die Führerin kurz an ihren Fühlern, so dass die Informationen zwischen den Tieren fließen konnten. Die Gruppe blieb stehen und 419 umpackte das Hinterteil eines der grünen, großäugigen Tiere und massierte es sanft mit ihren Kauwerkzeugen. Der Hinterleib begann zu zucken und sonderte daraufhin einen einzigen Tropfen ab, den 419 gierig in sich hineinsog. Einen Teil führte sie in ihren Kropf, den anderen gönnte sie sich selbst und sie spürte, wie die Energie zurück in ihren Körper floss.
Eine zweite Gruppe Blattläuse und Ameisen kam ihr entgegen, wesentlich größer als die erste und als beide aufeinander trafen, versagte die Infrastruktur. Der Tag war schon weit fortgeschritten und 419 musste mindestens noch zwei Weibchen aus ihren Kammern holen. Sie musste sich beieilen, damit das System seine Wirksamkeit nicht verlor. 419 drehte um und nahm einen anderen Weg. Sie bog links ab und folgte einem Parallelgang, der an den Soldatenunterkünften vorbeiführte. Die meisten standen leer, da sich die Kriegsameisen mit säuregefüllten Hinterleibern auf der Wiese befanden und nach Vögeln schossen, die sich zu tief hinabwagten. Als die Arbeiterin an einer dieser Unterkünfte vorbeikam, traf sie auf eine andere Ameise ihrer Kaste, die einen breiten Kratzer auf der Brust trug. Sie berührten sich nur kurz, aber es genügte um den unverwechselbaren Geruch des Staates zu erkennen. Die andere Ameise eilte weiter, aber 419 blieb verwirrt stehen. Unter der eigenen Signatur hatte sie noch etwas anderes wahrgenommen, einen Geruch, den sie nicht kannte. Er war schwach und kaum zu erkennen, aber 419 war er aufgefallen und noch immer schien sie dieses Fremde auf ihrem Fühler zu spüren. Sie säuberte ihn und ließ ihn schnell vibrieren, um die Duftspur der Ameise wiederzufinden. Die kleine Antenne auf ihrem Kopf summte leicht und als sie schon im Begriff war die Suche aufzugeben, nahm sie das Pheromon wieder wahr. Es lag unter den bekannten Düften, bildete dort eine Art Untergrund, auf denen die normalen Gerüche schwammen. Wahrscheinlich hätte es keine andere Ameise bemerkt, aber 419 hatte durch den Verlust einer ihrer Fühler eine Sensibilität entwickelt, welche die anderen nicht besaßen. Sie hatte Schwierigkeiten einen Vielzahl von Düften zu entschlüsseln, aber eine einzige Duftspur konnte sie noch nach Tagen identifizieren und zuordnen.
Die merkwürdige Ameise war aus einer Soldatenkammer gekommen und nun streckte 419 ihren Kopf vorsichtig in diese hinein. Dort roch es nach Tod. Sie sah einen schwarzen Körper, bewehrt mit riesigen Mandibeln, der bewegungslos in einer Ecke lag. Er trug die Zeichnung einer toten Ameise. Der Geruch verteilte sich langsam in dem Raum und in den Gängen davor und wenige Sekunden später kam eine zweite Ameise in die Kammer. Sie packte sich den Soldaten und zog ihn hinaus, um ihn in den unteren Teil der Stadt zu bringen, aber in diesem Augenblick geschah etwas. Der Soldat bewegte sich und sein großer Kopf schwenkte hin und her. Seine Fühler kreisten und als sie sich selbst berührten, hielt der Körper wieder still, so als wäre er wirklich tot. Die Soldatenameise hielt sich aufgrund des Geruchs, der an ihr haftete selbst für tot und wehrte sich nicht gegen den Abtransport, obwohl sie noch so lebendig war, wie 419 selbst.
Nicht wissend was sie tun sollte, lief 419 aus der Kammer. Sie wollte nur weg von diesem Ort, denn was dort geschehen war durfte nicht sein. Innerhalb des Kollektivs gab es keine Vorgehensweise, keine Antwort, die sich darauf bezog. Die Arbeiterin lief ein Stück den Gang hinunter in eine der anderen Kammern, doch dort lag der gleiche Geruch in der Luft und dort lag auch eine tote Soldatenameise. 419 ließ ihren Fühler vibrieren und sie erkannte auch hier diesen unterschwelligen fremden Duft. Sie machte ein paar vorsichtige Schritte auf den bewegungslosen Körper zu und stieß eine ihrer Mandibel in dessen Seite. Nur leicht und ganz vorsichtig. Nichts geschah. Noch einmal stieß sie zu, diesmal fester und in Höhe des Kopfes und nun zuckte der Soldat zusammen; mehr nicht. Als 419 zurückwich stieß sie gegen einen weiteren toten Körper, der den selben Duft trug.
Elektrische Blitze zuckten durch das Nervensystem der kleinen Ameise. Sie wusste nicht, was los war, aber sie wusste, das etwas nicht stimmte und sie war wahrscheinlich die einzige im ganzen Nest, die davon wusste. Das Wort Einzige traf sie wie ein Schlag. Es machte die Arbeiterin zu einem Teil außerhalb des Systems, etwas, das sie von dem Rest trennte. Unfähig den Umfang dessen zu begreifen roch sie wieder dieses merkwürdige Pheromon und instinktiv folgte sie der für andere unsichtbaren Spur. Der Geruch zog sie tiefer in den Bau, vorbei an den Kammern der Arbeiter- und Hirtinnen, bis kurz vor das hölzerne Zentrum. Dort blieb sie stehen und sah entsetzt, wie einige Schwarze den dicken Körper eines Wächters aus seinem Loch zogen. Auch auf ihm lag der Geruch des Todes. Als sich der massige Hinterleib durch das Loch nach außen quetschte schlüpfte eine Ameise hinein. Sie rannte weiter in das Innere der Stadt, direkt auf die Kammer der Königin zu und in diesem Augenblick stand das Nervensystem von 419 unter solch einer Spannung, dass sich zwischen den Anhäufungen von angeborenen und geprägten Verhaltensweisen ein Gedanke kristallisierte, der die Sicherheit des Systems gefährdete. 419 sollte nicht in der Lage sein eigenständige Einfälle zu entwickeln. Ein solches Verhalten würde in der Masse einen Bruch hervorrufen, der das Funktionieren des Staates unmöglich machen würde. Aber schlimmer als das war die Konsequenz des Gedankens. Wenn es diesen Ameisen möglich war, ihre Artgenossen als tot zu kennzeichnen, obwohl sie es gar nicht waren, dann war es ihnen auch möglich die Königin zu zeichnen und sie so für ihre eigenen Dienerinnen als tot darzustellen. Selbst wenn sie sich wehren würde, könnte sie den hunderten Ameisen im Zentrum nicht entgegentreten. Sie würden der Erkenntnis, dass ihre Königin noch lebte keine Bedeutung beimessen. Aber warum hatten sie es auch auf die Soldaten abgesehen?
419 wusste, dass sie etwas tun musste. Sie hatte eine Aufgabe außerhalb des Systems. Die Arbeiterin rannte durch den offenstehenden Eingang und folgte der Spur. Sie umrundete geschickt ihr entgegenkommenden Körper, in dem sie die Seiten und die Decke des Ganges nutzte. Das sie keinen Kontakt zu ihren Artgenossen suchte, schien niemandem aufzufallen. In der Nähe der Geburtenkammer sollte die Anzahl der Wachen steigen, doch weit und breit entdeckte sie keine Spur eines Wächters oder eines Soldaten. Sie traf nur auf die zierlichen Dienerinnen.
Der schmale Gang verwandelte sich langsam in eine große Höhle und die Nähe ihrer Königin beunruhigte 419, aber solange sie diesen Duft noch wahrnahm, musste sie für alle noch leben. Noch nie zuvor war 419 so tief im Nest gewesen. An die Zeit als Larve hatte sie keine Erinnerungen. Sowieso reichte das Gedächtnis der Ameise nicht vielmehr als einen Tag zurück. Nur die festen Gefüge ihres Handelns blieben zurück. Nun stand sie in dieser Halle, dem Ursprung ihres ganzen Volkes und überall wimmelte es von kleinen schwarzen, teilweise durchsichtigen Körper. Sie transportierten Eier und Nahrung und zwischen all den eifrigen Tieren stand eine einzelne Ameise, die genauso wenig wie sie selber hierher gehörte. 419 rannte auf das Tier zu, das sich völlig ruhig verhielt, und berührte ihre Antennen. Da war kein fremder Geruch und so sehr sich 419 auch anstrengte, sie konnte nichts eigenartiges entdecken. Zitternd wich sie zurück. Hatte sie sich geirrt? Hatte ihr Drang eigenständiger Entscheidungen ihre Handlungen beeinflusst? Ohne das System hatte ihr Handeln keinen Sinn. Ohne die Masse war alles was sie tat falsch. Das waren die Grundsätze, die fest in ihr verankert sein sollten, doch seit dem Verlust eines Fühlers und dem immer wieder abbrechenden Kontakt zum Kollektiv, waren diese Grundsätze langsam im Dunkeln ihrer Nerven verschwunden. 419 hatte nicht gemerkt, wie sie sich verändert hatte. Immer häufiger hatte sie über ihre Handlungen nachgedacht. Gedanken, die sich erst mit der Zeit gesteigert hatten, so dass die Veränderungen nicht aufgefallen waren. Nun begriff sie das ganze Ausmaß und schon alleine der Umstand, dass sie Begriff bestätigte das Problem. Sie war nicht mehr fähig ein Teil des Systems zu sein und sie wusste einmal mehr nicht, wie sie auf dieses Problem reagieren sollte.
In diesem Augenblick schritt die andere Ameise auf die Königin zu und 419 dachte für eine Sekunde, dass sie diesen fremden Geruch wieder wahrnehmen würde. Alle Segmente ihrer Antenne nahmen ihn nun wahr. Die dominierenden, königlichen Pheromone musste den ohnehin schwachen, fremden Duft überlagert haben. 419 hatte recht. Sie sprengte auf das fremde Tier zu und während sie mit ihren Mandibeln eins der Beine umfasste, wusste sie den Grund, warum dieses Tier die Signatur des Volkes trug. Das fremde Pheromon nahm Gestalt an. Sie hatte es schon einmal gerochen. Es war der Duft der Roten. Die roten Ameisen, welche im Innern des Waldes lebten hatten immer wieder versucht die Stadt der Schwarzen anzugreifen, denn die Schwarzen herrschten über die großen Weidegründe auf den Büschen. Dort saßen Millionen Blattläuse, die den gesamten Erfolg und Reichtum der Stadt bildeten. Die Roten waren auch dafür bekannt, dass sie andere Arten versklavten. Sie stahlen Larven oder Eier aus den Nestern und zogen sie bei sich auf. So behielten sie ihre ursprüngliche Signatur, waren aber Teil eines fremden, feindlichen Systems. Eines Systems, das sich nun diesem bemächtigte. Ohne Königin und ohne Soldaten war die Stadt nahezu nutzlos und die Roten könnten innerhalb eines Tages, alle Gänge und Kammern übernehmen und ihnen gehörte dann der Reichtum der Weidegründe.
419 riss an dem Bein, das sich knackend aus dem Körper löste. Die Antennen der fremden schlugen um sich und die knotenartige Verdickung an ihrem oberen Ende traf 419 direkt am Kopf, so dass sie taumelnd zurückstolperte. Wäre die andere Ameise in diesem Augenblick schnell genug gewesen, hätte 419 nicht mehr lange gelebt, doch durch das verlorene Bein humpelte sie umständlich auf ihren Feind zu und verfehlte sie mit einem weit ausgeholten Mandibelschlag. 419 setzte wiederum ihre Kiefer genau um das mittlere Segment der Ameise an und drückte mit aller Kraft zu. Der Chitinpanzer knackte bedrohlich und die Ameise bäumte sich auf. Durch den Ruck ließ 419 ihre Kiefer kurz lockerer und rutschte direkt hinter den Kopf. Dort drückte sie wieder zu und eine schwarze Kugel, der Kopf, trennte sich vom Körper und rollte direkt auf die Königin zu, die nun genau zu sehen war. Ihr geschwollener Leib lag auf einer Schicht alten, zerschnittenen Laubs und er roch nach Tot. Auf dem aufgedunsenen Hinterleib stand eine weitere schwarze Ameise, die Fühler wie zum Triumph weit erhoben und ihren Körper zeichnete ein langer Kratzer, als hätte sie schon viele Kriege und Überfälle er- und überlebt. Überall im Raum tauchten nun die fremden Ameisen auf. 419 hatte keine Chance mehr und als sie sich umdrehte und die Kammer rennend verließ, begannen die Dienerinnen bereits den schweren Körper der Königin hinauszutragen, wobei sie ihn langsam in kleinere Teile zerschnitten, um ihn durch die äußeren, engeren Öffnungen zu bekommen. Die Königin wehrte sich dabei nicht.
419 musste schnell hinaus, denn im Freien flogen alle potentiellen Nachfolgerinnen. Aber keine von ihnen wusste, dass sie sich zurück zum eigentlichen Nest begeben sollte und so verschwanden nach und nach alle in der Weite. Für die Fremden war dies eine Information, welche das gesamte Vorhaben zerstören konnte und diese Information musste vernichtet werden. Das Interesse konzentrierte sich nun auf 419, die fast am Ausgang der einstigen Königinnenkammer angekommen war, doch bevor sie hinausschlüpfen konnte, tauchte eine der fremden Ameisen auf und blockierte den Ausgang. 419 kam abrupt zum stehen und schaute sich in der Dunkelheit um. Sie wurde umzingelt und unter den Angreifern war auch jene Ameise, die zuvor noch auf der Königin gestanden hatte. Vielleicht hätte die Arbeiterin gegen eine weitere Ameise siegen können, aber es waren zu viele und sie wusste nicht wo sich weitere Feinde verbargen.
419 machte auf der Stelle kehrt, gehorchte den Instinkten, den Willen zu überlegen und floh. Sie lief auf die begrenzenden Wände zu und erkletterte diese geschickt. Ihre Beine hakten sich in das trockene Holz und bewegten sich so schnell wie nie zuvor. Ihre Tritte waren sicher und überlegt, so dass sie nach wenigen Sekunden kopfüber in der Mitte des Raumes hing, genau über den größeren Resten der toten Königin. Ihre Verfolger waren stehen geblieben und beobachteten, was sie tat. 419 ließ sich einfach fallen und verschwand in dem Gewimmel der Dienerinnen, die sich in einer unüberschaubaren Masse um ihre Herrscherin gesammelt hatten. Sie alle schoben sich unter den geteilten Körper und trugen ihn hinaus. Die Fremden stocherten mit ihren Antennen in der Masse, doch jede der Ameisen roch gleich und ein einziges Individuum zu finden war unmöglich. Wie Keulen schlugen die Fühler nach den Dienerinnen. Sie versuchten die Masse auseinander zutreiben, doch wenn sich ein Teil daraus löste, waren auch das mitunter sechs oder sieben Körper; nicht weniger. Kurz vor dem Ausgang, an der Stelle, wo sich die Dienerinnen zwangsläufig trennen mussten, sprang 419 aus dem Gewimmel hervor und landete direkt auf dem Körper der Ameise, die den Durchgang blockierte. 419 bohrte ihre Mandibeln in den fremden Hinterleib, bis eine säuerliche Flüssigkeit hervortrat. Dann sprang sie wieder ab und verschwand in dem Labyrinth an Gängen.
Sie lief so schnell sie konnte, denn hinter sich nahm sie den verräterischen Geruch wahr, den sie nun so scharf roch, wie den des eigenen Volkes. Jedes Mal, wenn sie versuchte eine Pheromonspur in den Gängen zu hinterlassen, die auf Gefahr hinwies, wurde sie sofort von dem fremden Geruch überlagert. Die anderen Ameisen schienen sich nicht daran zu stören. Sie hielten nur kurz inne, ließen ihre Fühler vibrieren und gingen dann weiter ihrer Arbeit nach. 419 wusste, dass sie untertauchen musste, denn hier würden die Fremden sie erkennen. Sie würden ihren einzelnen Fühler finden und sie dann ausschalten. Ihre einzige Chance war es, ihren Sinnen zu entgehen, um schließlich im Verborgenen nach draußen zu gelangen. Sie musste einen Weg einschlagen, den sonst keine Ameise nehmen würde. Sie musste in die Tiefen der Stadt. Sie musste in den Teil, der schon lange aufgegeben worden war. Und so bog 419 ein weiteres Mal an diesem Tag in einen Gang, der eigentlich nicht vorhergesehen war. Es war ein Gang der nach unten führte und nur noch einen Hauch an Pheromonen trug.
Auf direktem Wege nach draußen, wäre 419 wahrscheinlich auf weitere fremde Ameisen gestoßen, aber hier unten begegnete sie überhaupt nur noch selten ihren Artgenossen und es war kaum möglich, dass sie auf ihre Verfolger traf. Die waren immer noch hinter ihr her, doch sie hatte es geschafft die Distanz zwischen sich und ihnen zu vergrößern. Die Fremden folgten nur einer schwachen Spur, die jede Ameise hinterließ.
419 musste an einen Ort, an dem diese Spur verlief und an dem sie nicht auszumachen war. Je tiefer sie hinunterkam, desto mehr veränderte sich die Substanz der Erde. Sie wurde körniger und feuchter, denn dies war ein Grund, warum man den unteren Teil der Stadt aufgegeben hatte. Unter dem Nest hatte sich Wasser befunden und als die Ameisen begannen immer tiefer in das Erdreich vorzudringen, stach man auch diese Wasseradern an. Die Feuchtigkeit zog in die Gänge und Kammern und machte sie unbewohnbar. Die Ameisen wurden daraufhin zurückgetrieben und gruben immer weitere Gänge auf der gleichen Ebene, so dass die Erde einem einzigen Stollenwerk glich. Immer wieder brachen Decken ein und machten so Teile der Stadt unzugänglich, bis das Leben sich nur noch in geringen Tiefen abspielte und die Stadt an der Oberfläche wuchs.
Plötzlich nahm ihr Fühler einen sauren Geruch war. Es war erneut der Geruch des Todes, aber hier war er so beißend, dass er alle anderen Düfte überdeckte. Das Pheromongemisch stand wie Wasser in den Gängen und bildete eine Grenze und als 419 diese überschritten hatte, war ihre Spur verschwunden. Dennoch drang sie weiter vor und näherte sich der eigentlichen Quelle. In einigen Kammern, die sie passierte, sah sie schon alte und längst vergessene Körper liegen. Es waren leere Hüllen, von denen kaum noch ein Geruch ausging. Aber weiter hinten, dort wo die Dunkelheit fast undurchdringlich war und auch die Augen der Ameise nichts weiter als schwache Konturen wahrnahmen, war der Ausgangspunkt. Hier häuften sich die Toten in den Gängen und Kammern. Hunderte und tausende waren übereinandergestapelt und als 419 die neusten erkannte, begriff sie erst das gesamte Ausmaß des hinterhältigen Angriffes. Es waren alles Soldaten. Ihre riesigen Kiefer standen weitgeöffnet und entstellt in ihren Gesichtern und nur 419 wusste, dass darunter noch Leben lag. Ein Leben, dass für die betroffenen Ameisen selbst schon gar nicht mehr existierte. Ohne es zu merken, hatte die Arbeiterin inne gehalten. Sie stand dort einfach in den feuchten, schlecht riechenden Gängen und überdachte die Konsequenzen des heutigen Tages. Würde nun ein Angriff der Roten erfolgen, gäbe es weder ein Königin, noch genügend Soldaten, um das Nest zu schützen. Bereits jetzt, war es hoffnungslos und die einzige Chance, die das Volk noch hatte, war rechtzeitig eine Verteidigung aufzubauen. In diesem Augenblick würden die Roten eine Wiese voller verstreuter Schwarzer auffinden, die nicht in der Lage waren, sich zu verteidigen.
Ihre Fühler zitterten. Sie waren dicht hinter ihr.
419 sprang zwischen die Toten und ihre Signatur verschwand mit ihrem Körper in der leblosen Masse. Die Fremden blieben direkt vor dem Haufen toter Ameisen stehen, in dem sich auch die Arbeiterin befand. Ihre Antennen vibrierten schnell und tasteten sich durch den Raum. Es summte und dieses Geräusch hallte durch die Tiefen der Stadt. Vorsichtig streckte 419 ihren Fühler nach draußen, nur die Spitze, und suchte nach den roten Pheromonen. Trotz des alles überlagernden sauren Luft, konnte sie die Fremden ausmachen. Es mussten circa zehn Ameisen sein, die sie verfolgten. Zehn Ameisen, die sich nun langsam wieder entfernten und als 419 aus ihrem Versteck hinaus keinen mehr von ihnen entdecken konnte, grub sie sich aus den Toten heraus und wendete sich wieder dem Weg zu, der sie an die Oberfläche brachte. Es war ein Weg, der nur in diese eine Richtung führte und der den ersten Quergang erst wieder ein ganzes Stück weiter schnitt. Die Arbeiterin hieb mit ihren Mandibeln in die brüchige Decke, bis sich ein wenig Dreck löste. Kleine Steine kullerten herab und es war ein leises Krachen zu hören. Nach dem vierten Hieb, gab die Konstruktion nach und für einen Augenblick schien sich das komplette Erdreich in den Gang zu graben. 419 floh vor der Lawine, aber es gelang ihr nicht, sich schnell genug in Deckung zu bringen. Die Erde schwappte wie Wasser über ihren Körper und vergrub sie unter sich. Sie musste sich schnell befreien, denn die Fremden durften ihren Trick mittlerweile bemerkt haben. Das Graben kostete 419 wertvolle Zeit. Zeit, die sie vielleicht nicht hatte.
Das Schwarz ihres Chitinpanzers funkelte nicht mehr, als 419 dem Licht entgegenstrebte. Sie hatte sich schnell befreien können, doch die feuchte Erde haftete an ihr, wie ein schmieriger Pilz. Wie ein Pilz, der die Kolonie schon oft befallen hatte. Er setzte sich auf die Körper der Ameisen und grub langsam kleine Löcher in sie hinein, bis sich die Sporen in ihnen verbreiteten. 419 hoffte, dass es wirklich nur Dreck war, der da auf ihr haftete und als sie das tat, wurde ihr bewusst, dass sie hoffte. Sie verstand nicht, was sie tat, aber sie wusste, dass sie es zuvor noch nie getan hatte. Sie dachte an sich und nicht an das Kollektiv. Es war ein Gefühl, das sich in ihr ausbreitete, ein Gefühl, das ihr zugleich Angst machte, und sie so völlig verstörte. Vor ihr zeichnete sich der gelbe Ring eines Ausgangs ab und das Licht schien ihre geschundenen Sinne zu überlasten. Ihr Nervensystem stand unter solch einer Spannung, dass ihr Körper schmerzte, aber trotzdem lief sie weiter. Nur noch wenige Schritte und sie war draußen. Sie würde sich an die nächste Ameise wenden und das Pheromon der Warnung direkt dort übergeben, wo es hingehörte. Innerhalb von Sekunden würde es sich unter den Soldaten verbreiten.
Licht, blendendes Licht strahlte ihr entgegen und vor ihren Augen breitete sich erneut das wunderschöne Tal aus. Die weite Grasebene, der angrenzende Wald und die schicksalbehafteten Büsche. 419 stand direkt auf der Spitze der Stadt und neben ihr stand ein einzelner Soldat, der seinen geschwollenen Hinterleib in den Himmel richtete und auf Vögel schoss. Sie eilte zu ihm und berührte ihn an seinen Fühlern. Die Informationen fluteten auf die Ameise ein. Informationen, die sie zunächst nicht verarbeiten konnte und nicht verstand. Der Soldat taumelte benommen rückwärts und blickte sich irritiert um. Dann drehte er sich um hundertachzig Grad und richtete seinen Hinterleib auf die Arbeiterin. 419 schüttete immer wieder Warnpheromone aus, doch niemand schien sie zu verstehen, oder wollte sie verstehen. In diesem Moment schoss der Soldat. Ein Tropfen Ameisensäure löste sich aus seinem Hinterleib und flog an der erschrockenen 419 vorbei. Hastig drehte sie sich um und verfolgte die Flugbahn. Hinter ihr war noch eine Ameise aufgetaucht, die einen langen Kratzer auf der Brust trug und die einen eigenartigen Geruch verströmte. Der Soldat musste also doch verstanden haben und nun zerflossen die Fühler der Fremden wie der dickflüssige Tau der Blattläuse. Sie schüttelte sich, ging aber dann direkt auf 419 los, aber der Soldat hatte sich schon zwischen sie gedrängt und hieb mit seinen mächtigen Kiefern auf den Eindringling ein. Die vernarbte Ameise hatte keine Chance. Der Soldat riss ihr die Beine aus und schließlich den Kopf, bis der Körper verkrümmt und bewegungslos auf dem Boden lag.
Die Fremde war aber nicht allein. Aus dem Ausgang, aus dem zuvor auch 419 die Außenwelt erreicht hatte, strömten nun die anderen Angreifer. Und sie alle stürzten sich auf den Soldaten. Nur eine einzige rannte an ihm vorbei und attackierte die Arbeiterin. 419 tauchte geschickt unter der scharfen Mandibel ihres Feindes weg und schlug ihrerseits auf ihn ein. Auch sie verfehlte, aber ihr Fühler zog einen Augenblick später nach und erwischte ihre Gegnerin am Kopf. Schließlich kreuzten sich die Mandibeln und die beiden Ameisen fochten miteinander. Keine von beiden wollte nachgeben, aber dann unterlief 419 ein großer Fehler. In einer Parade drehte sie kurz ihren Kopf und sah zu dem Soldaten herüber, der sich unter einer Gruppe von Fremden wand. Er war hoffnungslos verloren und mit dieser Erkenntnis packte die Fremde den übrigen Fühler von 419 und riss ihn einfach aus. Die Welt um die Ameise herum schwand und verblasste zu einem leblosen Bild. Es gab keinen Kontakt mehr zum Kollektiv und alle Ziele und Aufgaben, die sich in ihr vereinten wurden belanglos. Ihr Körper erstarrte, wusste er doch nicht mehr was er tun sollte. Sie bemerkte nur noch, wie die Fremde auf sie zu trat und dann wurde es dunkel um sie herum. Es war warm und feucht und sie spürte, wie sich noch etwas veränderte. 419 entfernte sich von der Erde. Ein Vogel hatte sich nach Verschwinden des Soldaten die Ameise geschnappt und flog wieder empor. Er kreuzte die letzten schwarzen Punkte, die sich in der Luft befanden und beobachtete mit seinen runden Augen die Lichtung unter ihm. Auf ihr tummelten sich, weit zerstreut, die schwarzen Ameisen. Sie schienen nichts von der roten Masse zu bemerken, die sich aus dem Wald auf sie zu bewegte. Der Vogel kümmerte sich nicht weiter darum, drehte ab und verschwand über den im Wind tanzenden Gipfeln der Bäume in der Ferne. Zwischen seiner Zunge und seinem Gaumen knackte es kurz, als sich eine zweite Wolke an diesem Tag vor die Sonne schob und ein schattiges Tuch auf das Land legte.