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Das Treffen

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13.01.2005
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Das Treffen

Ich bemerkte sie zunächst nicht. Ich weiss auch nicht, wo sie herkam. Sie war plötzlich da, einfach in mein Leben geknallt. Ich hatte gerade andere Dinge im Kopf. Schliesslich mussten html-Kurs und Webseiten-Konzeption noch ausgearbeitet werden.
Zuerst ärgerte ich mich, denn die hellblauen Haftnotizen an meinem Monitor fielen mal wieder herunter. Kurz nach dem Zettel "Wen soll meine Webseite erreichen?" löste sich auch die Frage "Was ist Corporate-Design?" von ihrem zugewiesenen Platz am Rande des 17-Zöllers und taumelte in kleinen Kreisen auf die lackierte Oberfläche meines Holzschreibtisches zu. Ein wenig verärgert suchte ich zunächst Ablenkung bei ein paar trockenen Keksen und einer großen Tasse Café au lait.
Nach dem auch kurz darauf der dritte Zettel sich nicht mehr einsichtig zeigte, seinen Daseinszweck pflichtbewusst zu erfüllen, verlagerte sich der Hauptteil meiner Konzentrationskapazität auf die unschuldig dreinblickenden Zettelchen.
Dann bemerkte ich den Grund für die unerwartete Störung. Irgendetwas flatterte vor dem Monitor herum und es schien, als ob kleine Hände an den Haftnotitzen zerrten, um sie von der computergrauen Oberfläche gewaltsam zu lösen. Ich fokussierte meine Blick auf das Wesentliche und erkannte ein feenartiges kleines Wesen. "Hey!", sagte ich erstaunt.

"Ah, endlich. Hallo", sagte sie freudig mit flüsterheller Stimme, "da bin ich." Die kaum eine Handspanne grosse Figur setzte sich auf meinen Monitor und wickelte ihre zarten, hellblauen Flügelchen um ihren schlanken Feenkörper. Sie war ein wenig durchsichtig, fast wie ein Geist und sie sah mich erwartungsvoll an, während sie mit ihren Beinen baumelte.
Dieser Blick machte mich stutzig. Sie schien auf irgendeine Reaktion von mir zu warten.
Mir war allerdings bisher noch nie ein derartiges Wesen begegnet und so sah ich sie einfach nur schweigend und fassungslos an.
Nach einer Weile begann sie gelangweilt mit ihren kleinen Fingern auf dem Monitorgehäuse herumzutrommeln. Ihre Flügel entfalteten sich ein wenig und wippten ungeduldig in der Luft. Sie zog die Augenbrauen hoch und fragte gedehnt "Also?"
"Was also?", sagte ich immer noch ein wenig perplex.
Sie seufzte leise. "Du wolltest mich treffen. Hier bin ich." Ihre Flügel bewegten sich dabei vor und zurück.
"Ich wollte dich treffen?", wiederholte ich überrascht ihre Frage.
"Naja", sie druckste kurz herum, "eigentlich wolltest du mich nicht treffen."
"Du bist also hier um mich zu treffen, obwohl ich dich nicht treffen will?", fasst ich ihre Aussage zusammen.
Sie nickte. "Genau."
Der Sachzusammenhang fing an mich zu interessieren. "Wolltest du mich denn treffen? Bist du eine Fee?", fragte ich weiter.
Das kleine Wesen besann sich kurz und nickte dann. "Wenn du so willst, bin ich eine Fee. Ob ich dich treffen wollte, hmmm ... " Sie nahm eine nachdenkliche Haltung ein und schien intensiv zu grübeln. Während sie überlegte kräuselten sich gedankenverloren ihre Flügelspitzen. Schliesslich sagte sie: "Ich weiss nicht, ob ich dich treffen wollte. Wichtig ist eigentlich nur, dass du mich treffen musst."
"Okay", sagte ich. Die kleine Fee warf mehr Fragen auf, als sie beantwortete. "Warum muss ich dich treffen?"
Sie zuckte mit den Schultern und ihre Flügel wellten sich ratlos. "Das musst du wissen."
"Hmmm", sagte ich. "Das hilft mir nicht viel."
Die Fee lachte ihr helles Lachen. "Das kann ich mir vorstellen. Aber ich bin nicht hier, um dir zu helfen." Sie dachte wieder nach. "Aber eigentlich auch doch."
Irgendwie schien die Diskussion nicht sonderlich fruchtbar zu enden. Abgesehen davon, dass die kleine Fee selbst nicht genau zu wissen schien, was sie eigentlich wollte, erschien sie mir sehr rätselhaft. Kurz entschlossen wechselte ich das Thema. "Wie heisst du?", fragte ich.
"Ich habe alle möglichen Namen, aber letztendlich gibst du mir einen", sagte sie.
Ich sah sie fragend an.
"Du verstehst es immer noch nicht", sagte sie resigniert und liess ihre Flügel ein wenig hängen.
Ich schüttelte den Kopf.
"Dabei ist es doch so wichtig, dass du mich triffst", begann sie eindringlich zu erzählen. Ich war kurz von ihren schillernden Flügelchen abgelenkt, mit denen sie gestikulierte. "Hey!", sie schnippte mit den Fingern, "hör mir zu!" In ihrer Stimme schwang ein leicht verärgerter Unterton mit. "Also, es ist wichtig, dass du mich triffst. Du befindest dich zwar in guter Gesellschaft, denn die wenigsten Menschen wollen mich treffen, weil sie Angst vor mir haben." Sie sah ein wenig bekümmert aus.
"Angst vor dir?", fragte ich verwundert.
"Ja, sie lassen sich alles Mögliche einfallen, um mir aus dem Weg zu gehen. Plötzlich ist alles andere wichtiger. Du kannst dir gar nicht vorstellen, zu welchen Verdrängungsmechanismen die Menschen fähig sind. Sie unternehmen alles nur Erdenkliche, nur damit sie mir nicht begegnen. Abwasch, Hausputz, Kino, Kneipe, manche fangen sogar an zu saufen."
"Bist du ein böser Geist?" Plötzlich war mir ihre Gegenwart unangenehm.
"Nur wenn du mich dazu machst", sagte sie, aber es klang nicht wie eine Drohung. "Dann kann ich dich jagen und verfolgen und dir schlaflose Nächte bereiten."
"Wie geht das?"
"Wenn du mich nicht treffen willst", sagte sie mit unschuldiger Miene. Sie schien meine Gedanken erraten zu haben, denn sie lachte wieder. "Nein", nahm sie die Antwort auf meine Frage vorweg, "ich bin auch nicht der Tod oder sowas. Den musst du zwar auch treffen, aber auf eine andere Art. Wobei der eigentlich dich trifft und nicht anders herum." Sie schien sich kurz in philosophischen Gedanken zu verlieren. "Na, egal. Ich bin hier, weil du mich jetzt treffen musst."
"Kann ich das nicht selbst entscheiden, ob ich dich treffen will?", fragte ich.
Die Fee lachte glockenhell. Fast wäre sie vor Lachen nach hinten umgekippt. Es dauerte etwas, bis sie wieder bei Atem war.
"Was ist daran so lustig", fragte ich sie.
"Du bist goldig", sagte sie noch etwas außer Puste. "Das ist ein lustiges Wortspielchen. Wenn ich zu dir komme, kannst du dich nicht mehr entscheiden, ob ich kommen soll oder nicht, denn ich bin deine Entscheidung. Die Entscheidung, die du treffen musst."
"Nicht jede Entscheidung, die ich treffen muss ist so sympathisch wie du", sagte ich.
"Kleiner Charmeur", lachte sie wieder. "Je länger du wartest, desto hässlicher kann ich werden. Und wenn du zu lange wartest, dann sterbe ich. Aber, du hast mich getroffen, dann kann ich jetzt gehen." Ohne weiteres Zögern flog sie auf, hauchte mir einen Kuss auf die Nasenspitze und bevor ich etwas sagen konnte flog sie mit einem "bis bald!" davon.

 

Kommentar des Autors:

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Hi ihr Kurzgeschicht'ler,

meine Geschichte zum Einstieg. Ich hoffe sie gefällt euch.

LG Gonmag


Hallo Gonmag,

beachte bitte, dass Geschichtentexte und Kommentare hier immer getrennt aufgeführt werden.


philo

 

Hallo Gonmag,

herzlich Willkommen hier bei uns :)
Dein Einstieg hier hat mir gut gefallen. Schöne Idee, so von der Entscheidung heimgesucht zu werden. So wird das "du musst mich treffen" zu einem lustigen Wortspiel. Ich hätte mir nur gewünscht, dass du uns die Lösung nicht so eindeutig präsentierst, sondern statt dessen Hinweise einbaust, so dass der Leser selber darauf kommt. Bevor die Auflösung kam, hab ich übrigens in Richtung "Sinn" gedacht.

Kleinigkeiten

"Hey!", sagte ich erstaunt.
Das Erstaunen kommt mir in deinem Text ein wenig zu kurz. Mal ehrlich: würdest du so gefasst reagieren, wenn dieses Wesen plötzlich an deinem Monitor auftaucht? ;)
Sie war ein wenig durchsichtig, fast wie ein Geist, und sie sah mich erwartungsvoll an, während sie mit ihren Beinen baumelte.
oder du lässt das "sie" nach dem "und" weg, was ich noch besser fände als das Komma.
"Du bist also hier um mich zu treffen, obwohl ich dich nicht treffen will?", fasste ich ihre Aussage zusammen.

Liebe Grüße
Juschi

 

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