Das Treffen
Eines Tages kam ich auf den Gedanken - ich weiß auch nicht mehr genau wann und warum - dass sich die ganze Menschheit doch einmal gleichzeitig an einem Ort treffen sollte.
In diesem Moment fand ich die Idee gar nicht so abwegig, ich war begeistert von der Schönheit dieser Vorstellung: "Alle Menschen kommen zusammen, um sich zu treffen und kennen zu lernen." – welch' wunderschöner Gedanke.
Also begann ich allen meinen Bekannten von meiner Idee zu erzählen. Sie waren sofort begeistert. Gemeinsam suchten wir nach einem geeigneten Datum und Ort für diese
Veranstaltung. Sehr schnell merkten wir jedoch, dass es schwer ist einen Tag zu finden an dem jeder Zeit hat. Also beschlossen wir, ich sollte in den nächsten Tagen einfach irgendein Datum bestimmen, und es den andern bekannt geben.
Bereits wenige Tage später hat sich meine Idee wie ein Lauffeuer verbreitet. Ich war überrascht, als erste Berichte in Zeitungen und im Fernsehen auftauchten. Alle schienen schon wie gebannt auf die Bekanntgabe von Ort und Zeit des Treffens zu warten. Meine Worte wurden gleichzeitig auf allen Fernsehkanälen der Welt übertragen: "Das Treffen findet am 22.11. genau über dem 10. Längen-, und 48. Breitengrad statt." Kaum hatte ich diese Worte gesprochen, schien eine riesige Panik auf der ganzen Welt auszubrechen. Jeder ließ alles liegen und stehen und machte sich auf den Weg. Wer will denn schon als einziger bei diesem Treffen fehlen?
Die ersten Leute trafen schon nach wenigen Minuten am vereinbarten Treffpunkt ein, obwohl es noch mehr als ein Monat bis zum offiziellen Start des Treffens dauerte. Sie wollten sich wohl schon die besten Plätze genau in der Mitte der Veranstaltung sichern, und stellten dort ihre Zelte auf. Die Häuser, die sie nicht mehr bewohnten überließen sie ihren Bekannten, die von weiter her anreisen mussten.
Jeder setzte sich zuerst mit seinen Bekannten in Verbindung, um näher an den Treffpunkt heranzukommen, und sei es nur um auf den richtigen Kontinent zu gelangen. Wissenschaftler sprachen erste Bedenken aus, manche warten davor, dass die Erde aus dem Gleichgewicht geraten könnte, wenn sich eine so große Masse auf einen Punkt konzentriere. Andere sprachen von lokalem Sauerstoffmangel oder von einer verheerenden Grippewelle. Aber diese Warnungen wurden von allen in den Wind geschlagen, insgeheim glaubte jeder, dass sich die Wissenschaftler dadurch nur selber eine bessere Ausgangsposition im Rennen um die besten Plätze schaffen wollten. Und tatsächlich machten sich auch die schärfsten Kritiker und Schwarzseher sofort nachdem sie ihren Artikel für die Zeitung oder das Fernsehen verfasst hatten auf den Weg zum
Treffpunkt.
Es wurden bereits gratis Flug- und Schiffsreisen von allen Orten der Welt angeboten. Die Flughäfen wurden zu richtigen Ballungszentren. Der Ansturm konnte einfach nicht sofort bewältigt werden, auch nicht indem man die Flieger bis oben hin voll mit Menschen anfüllte, bevor man sie starten lies.
Am Treffpunkt selber wurde es bereits ziemlich eng. Man stand dort bereits sehr dicht an einander und konnte kaum mehr atmen, geschweige denn sich bewegen. Und der Druck schien von Stunde zu Stunde immer größer zu werden. Trotzdem blieb man ruhig, es brach keine Panik aus. Man wollte das große Treffen doch nicht zum Scheitern bringen. Also ließ man sich beharrlich ausquetschen, ohne einen laut von sich zu geben. Das Wissen im Mittelpunkt des Treffens zu sein ließ sie alle Qualen ertragen.
Sieben Tage vor dem vereinbarten Datum war es schließlich so weit. Der letzte Mensch war auf dem richtigen Kontinent eingetroffen. Alle anderen Kontinente waren leer, ohne eine Menschenseele.
Rund um den Treffpunkt waren die Menschen bereits Tage lang damit beschäftigt, alles was Platz beanspruchte aus dem Weg zu schaffen. Häuser wurden einfach abgetragen und Bäume ausgerissen.
Es wurden sogar ganze Hügel abgetragen und ganze Landstriche geebnet. Man stellte Berechnungen auf, wonach eine Fläche von der Größe Luxemburgs für die gesamte Menschheit ausreichen sollte, wenn sich jeweils drei Personen einen Quadratmeter teilten. Eine relativ kleine Fläche, wenn man bedenkt, dass sich darauf die gesamte Menschheit versammeln soll.
Ich selber versuchte natürlich auch in Bewegung zu bleiben. Zwischendurch packte mich manchmal die Angst es nicht mehr rechtzeitig zu schaffen, und ich wollte das schreiben lassen – "Wen sollten den diese Aufzeichnungen schon interessieren, wenn ja eh jeder selbst an Ort und Stelle dabei war!?". Trotzdem hielt ich bis zu letzt daran fest, auch wenn es immer schwieriger wurde, in den überfüllten Zügen zu schreiben.
Die letzten Kilometer konnten nur noch zu Fuß bewältigt werden. Der Raum um einen herum wurde immer enger und die Luft schien auch immer schlechter zu werden. Bald konnte man sich kaum mehr bewegen ohne andauernd jemanden anderen anzurempeln. Plötzlich ging nichts mehr. Man konnte keinen Millimeter mehr nach vor, und von hinten spürte man bereits den Druck der nachströmenden Menschenmassen. Ich schaffte es gerade noch in dem unerträglichen Gedränge einen Blick auf meine Uhr zu werfen. 23:50:08, 21.11. "Gerade noch rechtzeitig.", dachte ich. Dann verlor ich mein Bewusstsein.