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Das Ungetier
Eines Nachts bist du aufgewacht und dein Gesicht hing in Fetzen von deinem Schädel.
Du hast lange vor dem Spiegel gestanden und ungläubig mit dem Zeigefinger in der roten Masse herumgerührt, die einst dein größter Stolz gewesen war. Wahrscheinlich hast du auch geweint, das weiß ich nicht mehr. Hast du geweint? Tut es weh, wenn sich das Salz der eigenen Tränen in dein Fleisch brennt?
Mir ging es in dieser Nacht auf jeden Fall so gut, wie nie zuvor. Es hat mir dermaßen gut getan, dass ich beschlossen habe, bei dir zu bleiben.
Natürlich war es nur ein Traum. Ich habe dich aufgeweckt und dann habe ich deine Erleichterung gespürt. Das war ein kleiner Rückschlag für mich. Aber als du auf dem Weg zur Arbeit dein Gesicht in jedem Schaufenster und in jeder Pfütze überprüft hast, da wusste ich, dass ich gewonnen hatte.
Zwei Tage lang hast du mir gehört. Zwei Tage lang hast du an nichts anderes denken können, hast jeden unbeobachteten Moment genutzt, mit deinen Fingern dein Gesicht zu berühren, hast das beruhigende Gefühl der weichen Haut gebraucht. Du hast dich nicht getraut, deine Augen zu schließen, aus Angst, die Bilder der letzten Nacht könnten wieder auftauchen. Eine kleine Narbe auf deiner Seele, ein kleiner Sieg für mich. Ein Gefühl, das süchtig macht.
Weißt du noch, als du dir ein paar Tage danach den Arm aufgeschürft hast? Ein dummer Unfall, du bist gestürzt und unglücklich gefallen. Um es klarzustellen, das war nicht mein Werk, mit deinem Körper habe ich nichts zu tun. Weißt du noch, dass die Wunde an deinem Arm nicht heilen wollte? Du hast viel Zeit damit verbracht, auf den roten Fleck zu starren, hast am Schorf herumgespielt.
Erinnerst du dich, wie verlockend es war, am Schorf zu kratzen? Wie du vorsichtig Stück für Stück deinen Fingernagel unter das tote Gewebe geschoben hast? Ich glaube, es hat dir gefallen, den leisen Schmerz zu spüren, wenn du ein Stück zu weit gegangen bist und es wieder zu bluten begonnen hat. Ja, das mochtest du. Ich habe es gespürt und das hat mir gut getan.
In jener Nacht habe ich dir einen Traum geschenkt.
Du lagst wach in deinem Bett und konntest dich nicht bewegen, konntest deine Augen nicht schließen. Ich habe dir die Lider genommen. Du hast dieser Spinne zugesehen, wie sie an der Decke ihr Nest gewoben hat. Faden um Faden wuchs die Struktur und je größer das Netz wurde, desto mehr wuchs auch das Tier.
Hattest du Angst? Natürlich hattest du Angst. Du wolltest schreien, aber ich ließ es nicht zu. Die Spinne drehte ihren Kopf, er hatte inzwischen die Größe eines Tischtennisballs. Deutlich hast du den gierigen Blick der flammend roten Augen in deiner Seele gespürt. Warst von der hypnotischen Wirkung der mahlenden Kieferscheren gefangen. Als sie sich dann Millimeter um Millimeter an einem fein gewobenen Faden auf dich zu bewegte, hast du nicht mehr zu schreien versucht. Als sie sich daran machte, sich in deinen Hals zu fressen, hättest du es nicht mehr gekonnt.
Du bist aufgewacht und hast noch in derselben Nacht Insektenspray überall in deiner Wohnung versprüht. Ich habe deinen schnellen Atem gespürt, jeder Herzschlag war ein Energieschub für mich, jeder Schweißtropfen mein Lebenselixier. Natürlich hast du in dieser Nacht nicht mehr geschlafen. Hattest Angst, die Augen zu schließen.
Weißt du, wie viele Eier eine Spinne in einer Nacht legen kann? Es war nur ein Traum, aber diese Frage hat dich gequält, hat dich verfolgt, tagelang. Du hast ständig nach deinem Hals gefühlt, um zu sehen, ob er anschwillt. Es war nur ein Gedanke, ein kleiner Splitter irgendwo in deinem Kopf. Aber du warst dir nicht sicher. Das war eine schöne Zeit für mich. Vielleicht hätte ich dich dazu bringen können, ein Messer zu nehmen und nachzusehen. Aber dafür war es zu früh. Ich wollte es langsam angehen lassen. Es genießen.
Nachdem du zwei Nächte hintereinander denselben Traum hattest, habe ich dich die Spinne in der dritten Nacht töten lassen. Ich habe dir einen Schraubenzieher gegeben. Du bist aufgestanden und hast das Tier aufgeschlitzt, hast die Spitze deiner Waffe tief in die Weichteile der Spinne gestoßen. Es hat dir gefallen, wie sie geschrien hat, wie sie ihre Beinchen vor Schmerz von sich gestreckt hat, als du den Schraubenzieher gedreht hast. Ihr Körper platzte auf und das Innere quoll hervor. Du hast gelacht, ich habe es gehört.
Die Gedärme der Spinne rannen an einem zähen roten Faden aus ihren Körper, landeten auf deinem Arm. Du bist aufgewacht und hast im Halblicht des Mondes den roten Fleck auf deiner Haut gesehen. Hast die Wunde von letzter Woche aufgekratzt. Es war eine Freude, dir zuzusehen, wie du mit schreckgeweiteten Augen versucht hast, die Überreste deines Traumes von dir zu wischen. Je stärker du gekratzt hast, desto mehr hat es geblutet. Ich habe mich nie zuvor so gut gefühlt.
Ich habe dich in Ruhe gelassen, wollte, dass du dich erholst. Ständiger Alptraum verliert irgendwann seine Wirkung, weil der Geist sich daran gewöhnt. Ich habe mich hingelegt und geschlafen. Ein paar Tage habe ich dich leben lassen. Die Wunde auf deinem Arm hat sich entzündet. Du hast dem Arzt gesagt, dass es ein Unfall war. Kein Wort von der Spinne, kein Wort von der Versuchung.
Rückblickend war es vielleicht ein Fehler, dich in Ruhe zu lassen. Hätte ich mehr auf dich geachtet in dieser Zeit, hätte ich die Entwicklung rechtzeitig aufhalten können. Ich hätte es verhindern können. Aber vielleicht war es auch genau richtig so. Letztlich hat es mich nur stärker gemacht. Du hast sie getroffen, eine neue Kollegin im Büro. Ich habe sie unterschätzt, habe nicht gewusst, welche Macht sie auf deine Gedanken haben kann. Du hast dich gut gefühlt, beschwingt durch die Wärme, die sie dir gegeben hat.
Als ich es dann als Gefahr für mich wahrgenommen habe, war es schon zu spät. Dein ganzes Denken war bereits eingenommen von ihr. War ich eifersüchtig? Vermutlich. Ich allein wollte deinen Geist beherrschen. Die Angst, dich an sie verlieren zu können, war zu Beginn eine Qual für mich.
Erinnerst du dich an deine Gedanken in eurer ersten gemeinsamen Nacht? Sie lag nackt neben dir im Bett, schlafend. Du konntest den Blick nicht von ihrem Körper abwenden. Ich hasste diesen Moment, weil du mich vergessen hast, keinen Gedanken mehr an mich verschwendet hast. Irgendwann bist du dann endlich eingeschlafen und wieder in meine Hand gesunken.
Und mit einem Mal war ihr Körper nicht mehr so begehrenswert. Unter ihrer Haut bewegte sich etwas. Unmerklich zunächst, doch du hast es dennoch erkannt. Seit der Sache mit der Spinne damals weißt du, wie diese Tiere sich vermehren. Du hast es nie gesehen, niemals gespürt, aber du weißt es. Du erinnerst dich, dafür habe ich gesorgt. Ein kurzer Kontrollgriff an deinen Hals, er hat pulsiert.
Du hast nicht geschrien, warst wie gelähmt. Hast realisiert, dass sie wieder da war, deine Angst von damals. Die Spinnen im Körper neben dir bewegten sich über... nein unter ihrem Rücken. Wanderten unter ihrer sanften Haut in Richtung des Halses. Fraßen sich in ihr Fleisch und hinauf in ihren Kopf. Du konntest es nicht mit ansehen und doch musstest du es.
Am nächsten Morgen konntest du sie nicht berühren. Natürlich war es ein Traum. Ich wusste es und du hast es geglaubt, hast es gehofft. Du hast dich dennoch tagelang von ihr abgewandt und bist langsam aber sicher zurück unter meine Kontrolle geraten. Mehr, als ich es ohne ihr unbewusstes Zutun jemals geschafft hätte. Das war eine schöne Zeit. Wie du zusammenzucktest, wenn du sie morgens im Büro getroffen hast, wenn sie versucht hat, dich zu küssen.
Und dann warst du bereit. Ich habe dafür gesorgt, dass du deine Angst einen Moment vergessen konntest, habe deine Seele reingewaschen, habe es zugelassen, dass ihr euch wieder näher kamt. Und als ihr hinterher wieder nackt im Bett lagt, hast du deinen Blick nicht von ihrem Körper abwenden können. Es war eine ähnliche Situation wie damals. Eine Wiederholung, nur intensiver.
Du bist eingeschlafen und ich habe die Spinnen zurückgeholt. Eine krabbelte aus ihrem geöffneten Mund, über dein Kopfkissen in deine Richtung. Du bist vor Schreck aus dem Bett gesprungen, hast das Tier mit der bloßen Hand erschlagen. Wolltest sie alle erschlagen, wolltest den Schrecken von damals endlich loswerden. Sie fraßen sich durch ihren Körper und für dich gab es nur einen Weg, an die Tiere heranzukommen.
Du bist in die Küche gegangen. Hast ein Messer geholt, bist zurück ins Schlafzimmer. Sie hat geschrien, aber du hast es nicht gehört. Wolltest es nicht hören. Ich habe jeden Moment dieser Nacht geliebt. Habe jede Bewegung deiner Hand mit Genuss verfolgt, konnte das Blut förmlich schmecken.
Irgendwann in dieser Nacht bist du aufgewacht. Als du zu dir gekommen bist, hast du dich nicht getraut, dich umzudrehen, hast das Schlafzimmer verlassen, bist ins Badezimmer gegangen und hast dich übergeben.
Weißt du noch, wann genau du in dieser Nacht aufgewacht bist? Ich weiß es. Möchtest du es wissen? Du wagst es nicht, mich zu fragen. Das verstehe ich. Und ich liebe es. Diese Ungewissheit, diese Schuldgefühle. Du schwitzt, dein Puls rennt. Wirf einen Blick in den Spiegel und sieh dir dein Gesicht an. Du kannst es nicht, ich weiß. Du wirst es niemals wieder können.
Möchtest du wissen, wie es sich anfühlt, wenn dein Gesicht in Fetzen von deinem Schädel hängt? Wenn es nicht nur im Traum geschieht? Komm, gehen wir in die Küche. Wir sehen nach, ob dein Messer noch da ist und probieren es aus.
Hab keine Angst, du bist nicht allein. Ich bin da.
Ich werde immer da sein.