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Das verflixte siebte Jahr
Gestern hat Johannes angerufen. Weiss der Himmel, woher er meine Nummer hatte, wahrscheinlich von der Vermittlung. Ich fiel aus allen Wolken, als er fröhlich ins Telefon rief: „Hey, Juni, ich bin morgen in deiner Gegend, hättest du Lust, ab Abend auf einen Tee in unser Café zu gehen?“
Ich wurde weiss wie die Wand, die ich anstarrte. „Klar“, antwortete ich schwach, „ruf einfach nochmal an, ich bin gerade sehr beschäftigt.“
Seine Stimme hatte meine im staubigsten Winkel meines Gedächtnisses versteckten Erinnerungen entzündet wie trockenes Papier. Mein Herz zerbrach mit einem lauten Knacks. Das Leben war scheisse.
Ich war gerade siebzehn geworden, als ich Johannes kennenlernte. Die Theatergruppe unseres Gymnasiums studierte gerade den neusten Wurf irgendeines Hinterwäldlerautors ein, und Johannes gehörte zum Team, das die Aufführungen filmte.
Ich hatte ihn schon ein paar Mal bei den Proben gesehen – nicht dass ich eine besonders grosse Rolle gehabt hätte, nein, mein einziger Auftritt war in der letzten Szene des vierten Aktes; ich musste schweigend und mit demütig gesenktem Blick vor den König treten, vor ihm niederknien, eine salbungsvolle Rede über mich ergehen lassen, dann ebenso stumm wieder aufstehen, knicksen und lautlos wieder hinter der Bühne verschwinden. Ich bin sicher, dass die Mehrheit des Publikums mich nicht einmal bemerkt hat.
Wie auch immer. Johannes war eigentlich Kabelträger bei der kleinen Produktionsfirma im Nachbardorf, doch offensichtlich hatte sein Chef ihn zum Mädchen für alles erkoren, und so war er also bei ein paar Proben dabei. Sein Chef wollte sich nämlich zur Inszenierung einige Notizen machen, doch bis heute ist mir schleierhaft, wozu die hätten gut sein sollen; das Video wurde nämlich grottenschlecht.
Ich erinnere mich noch ganz genau an den Tag, an dem ich ihn zum ersten Mal gesehen habe. Es war an einer dieser Proben, wo die Statisten nur zum Requisitenherumschleppen und sonstigen Unfug erledigen da waren, für das die Bühnenleute zu bequem waren, und an diesem Tag war ich für die Getränkeversorgung zuständig. Eine unglückselige Aufgabe, denn es bedeutete, dass ich ständig mit einer Wasserflasche und Plastikbechern bepackt herumrennen und die strapazierten Stimmen der Hauptdarsteller und des Regisseurs vor dem Vertrocknen retten musste.
Und als ich mir einmal eine kleine Pause hinter der Bühne gönnte, klopfte mir plötzlich jemand auf die Schulter. Ich drehte mich um, und es war, als hätte jemand Benzin in ein mickriges Grillfeuer geschüttet. Mein funzeliges Dasein loderte auf, mein Herz war in Flammen gesetzt. Johannes. Sein Haar war weder sandfarben noch hatte es einen blauschwarzen Schimmer, nein, es war einfach mausbraun und leicht gewellt, und er hatte auch nicht Augen wie zwei mondbeschienene Teiche oder schwarzglühende Kohlestücke, sie waren schlicht und ergreifend braun. Aber das machte ihn nicht weniger anziehend. Okay, das klingt jetzt wie die Märchenprinznummer, aber das war es nicht, wirklich nicht. Das Einzige, was er zu mir gesagt hatte, war: „Hey, ich bin am Verdursten. Hättest du mir einen Becher Wasser?“
Eigentlich war dieses Wasser ausschliesslich für die Hauptdarsteller und den Regisseur gedacht (die anderen Durstigen mussten in die Garderobe zum Wasserhahn gehen), doch ich beschloss, für ihn eine Ausnahme zu machen. Bemüht langsam goss ich ihm einen Plastikbecher voll, zum einen, um seine Anwesenheit noch etwas zu verlängern, und zum anderen, weil meine Hände entsetzlich zitterten. Doch trotz meiner Vorsicht verschüttete ich etwas Wasser über seine Hose, als ich ihm den Becher reichte. Wo war nur das Loch, in das ich versinken konnte! Verlegen stammelte ich, dass ich natürlich sofort einen Lappen suchen wollte, um den Fleck zu trocknen. „Hey, ist doch halb so wild“, meinte er nur, lächelte mir noch einmal zu, drehte sich um und ging.
Bei der nächsten Probe, als ich wiederrum zum Wassertragen verurteilt war, nickte Johannes mir kurz zu und meinte grinsend, dass er heute lieber den weiten Weg zum Wasserhahn auf sich nehmen wollte als wieder von mir begossen zu werden. Seine Worte frassen glühende Löcher in mein Herz, und als er mich bei der darauf folgenden Probe nach meinem Namen fragte, glaubte ich, vor sterben zu müssen.
„Judith“, flüsterte ich und hoffte, dass meine Haare meine hochroten Ohren verbargen. „Judith“, wiederholte er, und aus seinem Mund klang mein Name wie von einem Symphonieorchester und Engeln gespielt. „Ich denke, ich werde dich Juni nennen“, meinte er dann, „Judith tönt so brav und das bist du bestimmt nicht. Und ausserdem erinnerst du mich an den aufblühenden Sommer, also passt Juni viel besser.“ Ich war viel benommen, um etwas zu erwidern.
Die Premiere näherte sich mit rasender Geschwindigkeit. Wir hatten noch die üblichen Krisen zu bewältigen; bei der Generalprobe zum Beispiel drohte die Darstellerin der Prinzessin laut schluchzend, sie werde sich ihre blonden langen Haare raspelkurz abschneiden, wenn sie sie für die Aufführungen nicht mit dem Babyliss locken dürfte, worauf der Regisseur wutentbrannt erwiderte, dass es ihm scheissegal sei, er eine Prinzessin mit glatten Haaren wollte und dann die Hauptrolle halt einfach selber übernehmen würde. Das tönt jetzt bestimmt einfach lächerlich, aber es war ihr voller Ernst, und nur der Vorschlag der Maskenbildnerin, einfach einige Strähnen zu locken, konnte die Gemüter besänftigen und die Katastrophe in letzter Minute abwenden.
Natürlich war die Premiere ein gigantischer Erfolg. Sogar der Gemeindepräsident war in der ersten Reihe der Aula anwesend, nach der Aufführung fielen wir uns alle vor Glück heulend in die Arme und alle Krisen und alles Wasserschleppen waren vergessen.
Nicht so aber Johannes. Da ich ihn bei den Proben nie mehr gesehen hatte, wusste ich auch nicht, ob er bei der Premiere auch anwesend sein würde. Doch er war.
Im Foyer, wo vom Kantinepersonal ein Apéro offeriert wurde, kam er zu mir und meinte, wie immer spitzbübisch grinsend: „Hey, Juni, das war nicht schlecht, dein Auftritt! Du knickst ja fast so gut wie du Wasser herum trägst!“ Ich hätte mich beinahe an den gesalzenen Erdnüsschen verschluckt, die ich mir hektisch in dem Mund gestopft hatte, als ich ihn durch die Menge auf mich zukommen sah. Wir redeten noch ein bisschen und ich glaube, dass ich keinen korrekten Satz von mir gegeben habe vor Angst, etwas Falsches zu sagen, doch ihm schien das nicht aufzufallen. Und als der Regisseur alle Darsteller daran erinnerte, dass wir noch ein Premierenessen hatten, klopfte er mir zum Abschied auf die Schulter und sagte, dass er sich freue, mich morgen nach der Aufführung wieder zu sehen. Den Rest des Abends nahm ich nur noch durch einen rosaroten Schleier wahr.
Als dann am nächsten Tag der Moment kam, wo ich auf die Bühne musste, zitterten meine Beine mehr als Espenlaub. Den ganzen Tag durch schon hatte ich nichts gegessen vor Nervosität, weil ich genau wusste, dass Johannes da sein würde. In meinem Kopf rauschte das Blut, meine Kehle war staubtrocken, und ich unterdrückte mühsam das Verlangen laut zu schreien.
Auf das Stichwort hin trat ich auf die Bühne, um einen demütigen und teilnahmslosen Gesichtsausdruck bemüht. Alles schien gut zu gehen; ich kniete nieder, hörte mir zum tausendsten Mal den Text des Königs an, stand auf, knickste, wollte abtreten – doch mein Schuh verfing sich im Rocksaum und ich fiel der Länge nach hin. Nach einem kurzen Schreckensaugenblick brach Gelächter los, einige Zuschauer erfrechten sich sogar noch zu klatschen.
Für mich war der Abend gelaufen.
Doch man sollte nie den Wert eines Sturzes auf der Bühne als Gesprächsaufhänger unterschätzen. Obwohl ich mich vor Scham am liebsten in einer Ecke verkrochen hätte, rang ich mich dazu durch, nach der Aufführung ins Foyer gehen, schliesslich war Johannes da. Und tatsächlich drängte er sich gleich durch die Menge, nachdem er mich erblickt hatte.
„Juni!“, rief er und ich glaubte Besorgnis aus seiner Stimme zu hören – wobei er wahrscheinlich eher über die Gefahr eines weiteren Lachanfalls seinerseits als um meine Wenigkeit besorgt war. „Geht es dir gut? Bist du verletzt? Soll ich dir etwas bringen?“ Darauf war ich nun doch nicht gefasst gewesen und sagte nur: „Ach, alles halb so wild, geht ja schon wieder, nichts passiert, alle Knochen sind noch heil und so. Nur die Aufführung hab ich versaut mit meinem Sturz.“ Meine Stimme zitterte und ich musste mir auf die Unterlippe beissen, um nicht loszuheulen. Ja, ganz abgesehen davon, dass ich die Wut aller Darsteller auf mich gelenkt hatte, da ich den Spannungsbogen des Stückes erheblich beschädigt hatte, konnte ich mir nicht vorstellen, dass ich bei Johannes jetzt noch auch nur den Hauch einer Chance hätte.
Doch offensichtlich hatte ich mich wenigstens in diesem Punkt geirrt. Johannes lud mich in ein Café ein, vielleicht weil er geahnt hatte, dass er an meinem Sturz nicht ganz unschuldig war, vielleicht, weil er mich trotz allem anziehend fand, vielleicht, weil er einfach noch nichts vorhatte. Und mit dem ersten Schluck meines Kamillentees – Johannes hatte bestellt, er meinte, mit Alkohol könnte ich nochmals stürzen – schluckte ich meine Unsicherheit herunter und meine Befangenheit gleich mit. Weiss der Geier, wie das so einfach ging, aber völlig entspannt redete ich mit ihm über Gott und die Welt, wir tranken Tee in rauen Mengen, und wenn ich mich bis dahin nicht schon in ihn verliebt hätte, an diesem Abend wäre es endgültig um mich geschehen. Irgendwann am frühen Morgen fuhr er mich heim.
Nach der nächsten Aufführung holte Johannes mich ab und wir gingen ins wieder ins gleiche Café. Diesmal harzte das Gespräch ein wenig, und als Tina Turner mit ‚What’s love got to do with it’ aus den Lautsprechern tönte, fragten wir uns wohl beide dasselbe. An diesem Abend brachte er mich nicht heim.
Ich schwebte im siebten Himmel, nahm alles nur durch einen rosa Schleier wahr, das ganze Leben um mich herum spielte sich in Pastellfarben ab. Stimmen wie die meiner Eltern, die sagten: „Judith, er ist schon 25 Jahre alt und du erst 17, der Altersunterschied ist einfach zu gross“ oder die meiner Freundinnen: „Hör jetzt mal zu, das kann nicht gut gehen, was macht dich so sicher, dass er es ernst meint?“ ignorierte ich einfach oder vergass sie in meinem Liebesglück einfach ganz schnell wieder. So ist das halt; die Gefühle übernehmen die Zügel und lassen den Verstand meilenweit hinter sich.
Unsere Beziehung hielt sechs Monate, sieben Tage und ungefähr elf Stunden. Ich erinnere mich deshalb so genau daran, weil es die beste Zeit war, die ich jemals erlebt hatte. Am besten vergleichbar war ich wohl mit einer Süchtigen, und Johannes war meine Droge.
Doch das Ende kam so unabweichbar wie das Mundspülen auf das Zähneputzen folgt.
Vielleicht hätte ich es gemerkt, wäre ich mir Johannes’ nur nicht so sicher gewesen. Er war viel zu lieb (andere würden es vielleicht auch feige nennen), um mich aus unserer Welt, errichtet auf einem Fundament aus Liebesschwüren und unzähligen Küssen, herauszuholen. Loszulösen von einem Universum, in dem er die Sonne war und ich der Trabant, der ihn rastlos umkreiste.
Nicht das es keine Ankündigungen für das Ende gegeben hätte; manchmal, wenn ich wieder einmal nicht wegkonnte, weil ich für die Schule arbeiten musste oder meine Eltern mich zu Hause haben wollten, murrte er nur etwas wie „...einfacher, wenn du älter wärst...“, doch Sätze wie diese liess ich garnicht erst in meine Atmosphäre eindringen und so hatte ich auch keine Chance, das Unglück abzuwenden.
Der finale Schlussakt bildete das Theatertreffen ein halbes Jahr nach den Aufführungen zur Veröffentlichung des Videos, das Johannes und seine Crew gemacht hatten. Wir trafen uns in der Schule, und alle waren sie da. Die Bühenbildner, die Maske, die Techniker, die Schauspieler – die Wiedersehensfreude war gross. Unterdessen hatte nämlich ein neues Schuljahr begonnen, die Hauptdarsteller hatten mittlerweile die Schule abgeschlossen und mit dem Studium begonnen, und so hatten sie wahnsinnig viel zu erzählen. Besonders die Prinzessin, sie war nämlich in die Filmakademie aufgenommen worden und studierte dort Filmwissenschaft und Schauspiel. Selbstverständlich war sie der Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, doch Johannes schien sie speziell zu interessieren. Kaum hatte ich mich eine Minute von ihm abgewandt, um uns einige Käsehäppchen vom Buffet zu holen, hatte die Prinzessin sich ihn geschnappt oder umgekehrt. Den ganzen Abend lang sassen sie in einer Ecke, und ich stand daneben und fühlte mich auch so. Sooft ich Johannes fragte, ob wir endlich gehen würden, vertröstete er mich auf später, bis ich das Fest schlussendlich ohne ihn, dafür aber mit einem unbekannten schwarzen Loch irgendwo in mir drin verliess.
Tags darauf rief er mich an und fragte, ob wir uns treffen könnten, um zu reden.
Wir verabredeten uns am Nachmittag in unserem Café, wo er mir wortreich zu erklären versuchte, was sich mit drei Worten zusammenfassen liess. Es war aus.
Er habe sich in Stefanie, so hiess die Prinzessin, verliebt, er könne es sich auch nicht erklären, aber es sei nunmal so und er könne es auch nicht ändern. Zuerst hielt ich es für einen schlechten Witz; doch dann wusste ich plötzlich haargenau, wie es sich anfühlt, wenn einem der Boden unter den Füssen weggezogen wird. Die Hand, auf der ich meinen Kopf aufgestützt hatte, sauste nieder auf die Tischplatte. Es gab einen lauten Knacks, und zuerst dachte, ich, dass durch die Wucht mein Handgelenk gebrochen sei. Doch dann wurde mir bewusst, dass es mein Herz gewesen war. Ich verspürte keine Wut in mir, auch keine Trauer, kein Garnichts, ich fühlte mich einfach nur leer. Mein Inneres konnte man am besten mit dem schalen Earl Grey Tea vergleichen, der unberührt in seiner Tasse erkaltete. Nicht einmal weinen konnte ich, sosehr ich es auch wollte, um ihm zu zeigen, wie sehr er mich verletzt hatte. Und ich war überzeugt, dass Stefanie bestimmt mühelos einige Krokodiltränen hervorgedrückt hätte, doch ich war nicht sie. Um das ging es ja gerade. Nun, mein starrer Blick und meine nicht vorhandene Reaktion müssen ihn wohl etwas aus dem Konzept gebracht haben, denn er machte nur eine unbeholfene Geste, stand auf und ging. Das heisst, er wollte gehen. Als er an der Tür war, kehrte er nochmals um und legte etwas Geld hin. Der Mistkerl hatte doch tatsächlich noch ein Trinkgeld gegeben. Und nachdem er zur Tür hinaus war, habe ich nie wieder etwas von ihm gehört.
Das heisst, bis gestern. Sein Anruf hatte mich ziemlich aus der Bahn geworfen, ich hätte nicht gedacht, dass diese Wunden nochmals aufreissen könnten, waren doch schon sieben Jahre seit unserer Trennung vergangen. All die Augenblicke, all die Erinnerungen, die ich gehortet hatte, kehrten mit einem Schlag und in sepiafarbenem Licht zurück.
Meiner Mitbewohnerin erzählte ich, dass ich mich mit einem alten Schulfreund treffen würde.
Im Nachhinein weiss ich nicht mehr, weshalb ich solche Hoffnungen in dieses Treffen gesetzt hatte. Vielleicht war es hormoneller Notstand oder die ungünstige Konstellation von Jupiter und Mars, vielleicht aber einfach natürlich und logisch, dass sich nach all den Jahren weder eine alte Vertrautheit einstellte noch dass wir übereinander herfielen. Ja, der Abend war schön, doch nichts ist kälter als eine tote Liebe.