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Das Vermächtnis
„ Ich habe dir doch gleich gesagt, dass es bei der Alten nichts mehr zu holen gibt.“
„Aber Peter, so kannst du aber nicht von meiner Großmutter sprechen.“, sagte Karen Schneider vorwurfsvoll und blickte ihren Mann ernst an.
„ Tut mir leid, aber du bist doch auch froh, dass sie endlich tot ist.“, antwortete Peter und stapfte zur Haustür. Plötzlich blieb er stehen. Er sah wie ein klappriges grünes Auto auf den Hof rollte.
„ Oh nein, deine beschränkte Schwester ist auf dem Weg zu uns.“
„ Lena? Was will die denn jetzt noch?“, fluchte Karen und schritt auf die Haustür zu. Mit einem abschätzigen Blick musterte sie ihre Schwester. Diese sah nicht viel attraktiver als ihr altes Auto aus. Lena war blass und mager, ihr dünnes Haar hatte sie zu einem Pferdeschwanz gebunden. Karen dagegen war eine echte Schönheit, die stets Wert auf ein gepflegtes Äußeres legte.
„ Was willst du denn hier?“ fuhr sie ihre Schwester an. Lena blieb auf dem Treppenabsatz stehen und blickte Karen ängstlich an.
„ Ich möchte nur den Schmuck abholen, den mir Großmutter hinterlassen hat.“
„ Den haben wir schon verkauft! Du kannst froh sein, dass wir dafür noch was bekommen haben. Ich hoffe, dass wir mit dem ganzen Plunder hier wenigstens die Beerdigung bezahlen können.“ Plötzlich erschien Peter in der Tür. „ Karen, kommst du mal mit.“ Sie marschierten ins Schlafzimmer und schlossen die Tür. „ Sieh mal, was ich hinter dem Spiegel entdeckt habe.“ Peter deutete auf einen kleinen Zettel, von dem ein kleiner Teil neben dem Spiegel hervorblickte. Karen löste den Zettel vorsichtig ab und faltete das Papier auseinander. „Suche die Vase aus blauem Glase.“ stand dort mit großen Buchstaben geschrieben. Was soll denn der Quatsch? dachte Karen und reichte das Papier ihrem Mann. Er las den Text und blickte seine Frau fragend an. „ Was soll das sein?“ fragte er.
„ Meine Oma hatte eine große Leidenschaft für Piraten. Vielleicht ist das eine Schatzkarte?“ Peter musste lachen. Plötzlich kam Lena ins Zimmer. „ Möchtest du uns vielleicht bei der Schatzsuche helfen?“, witzelte Peter und hielt Lena den Zettel hin. Die Vase aus blauem Glase? dachte Lena. Sie wusste das ihre Oma viele Vasen besaß, aber ob eine aus blauem Glas darunter war? Karen hatte wohl einen ähnlichen Gedanken gehabt, denn sie lief zielstrebig in die Vorratskammer. Dort standen die meisten Vasen aus Großmutters Sammlung. „ Komm schon, Peter!“ rief sie und begann damit die Schränke auszuräumen. Tatsächlich fand sie einige Vasen aus Glas, aber eine blaue war nicht darunter.
Lena lag in dieser Nacht noch lange wach. Immer wieder dachte sie über die blaue Vase nach. Was hatte ihre Großmutter nur damit gemeint? Sie kannte ihre Oma doch ganz genau, schließlich hatte sie in den letzten Jahren die meiste Zeit mit der alten Dame verbracht. Regelmäßige Besuche und auch der Einkauf der Lebensmittel, waren für sie selbstverständlich gewesen. Lena hatte in ihrem Leben leider schon sehr viel Pech gehabt. Die aufmunternden Gespräche mit ihrer Oma hatten Lena viel bedeutet, aber jetzt nach ihrem Tod, fühle sie sich ganz allein.
Im Morgengrauen hielt es Lena nicht mehr aus, sie wollte auf eigene Faust nach der geheimnisvollen Vase suchen. Ihren Wagen parkte sie etwas abseits der Straße und lief die letzten Meter zum Haus ihrer Oma zu Fuß. Vorsichtig schlich sie in den Garten, um den Ersatzschlüssel aus dem alten Blumentopf zu holen. Hoffentlich wusste Karen nicht von der Existenz des Schlüssels. Sie hatte Glück, wie gewohnt lag der Schlüssel unter dem alten Blumentopf. Lena öffnete die Haustür und betrat den Flur. Der alte Holzboden ächzte bei jedem Schritt und die großen Eichen vor den Fenstern warfen bizarre Schatten an die Wände. Lena nahm allen Mut zusammen und durchsuchte Raum für Raum. Doch auch sie fand keine blaue Vase. Enttäuscht stieg sie Treppe hinab. Plötzlich fiel ihr Blick ins Schlafzimmer. Auf dem Nachttisch der Oma stand eine blaue Flasche mit einer einzelnen Rose darin. Die Blume war schon längst verwelkt und einige vertrocknete Blätter lagen auf dem Boden. Lena blieb vor dem Nachttisch stehen und betrachtete die Flasche. Sie hatte einen langen schlanken Hals und bestand komplett aus blauem Glas.
„Die Vase aus blauem Glase.“, flüsterte Lena. Mit zitternden Fingern nahm sie nun die Flasche in die Hand und strich über das Etikett. Sie konnte nichts Besonderes an der Flasche erkennen. Da! Am Boden entdeckte sie einen kleinen Schlüssel. Aufgeregt lief Lena ins Bad und goss den Inhalt der Flasche ins Waschbecken. Das braune Wasser roch faulig. Mit einem klirren landete der Schlüssel im Waschbecken. Sie blickte den kleinen blauen Schlüssel an und ließ sich dabei langsam auf dem Rand der Badewanne nieder. Sie überlegte krampfhaft, ob ihre Oma eine Schatulle besessen hatte, zu der dieser kleine Schlüssel passte.
Die Sonne war inzwischen aufgegangen und strahlte mit voller Kraft durch das kleine Badezimmerfenster. Lena stand hektisch auf und blickte auf ihre Armbanduhr. „ Oh nein, ich muss ja nach Hause.“ Mit schnellen Schritten verließ sie das Bad und schritt den langen Flur entlang. Plötzlich blieb sie wie angewurzelt stehen. Sie hatte etwas gesehen, nur kurz, aber es war da. Lena ging vorsichtig einen Schritt zurück und blickte angestrengt auf die dunklen Holzdielen im Flur. Da! Ein Sonnenstrahl fiel durch das Küchenfenster und strahlte auf den dunklen Boden. Jetzt sah Lena auch wieder dieses aufblitzen. Es sah so aus, als ob etwas unter den rissigen Dielen lag, das den Sonnenstrahl reflektierte. Sie sank vorsichtig auf die Knie und untersuchte die Dielen genauer. Mit leichtem Druck strich Lena über das alte Holz. Plötzlich gab eine der Dielen nach und sie konnte erkennen, was unter dem alten Boden versteckt war. Es war eine kleine silberne Schatulle. Aufgeregt griff Lena nach dem kleinen Kästchen und setzte es auf ihren Schoß. Mit zitternden Fingern holte Lena den kleinen blauen Schlüssel aus ihrer Tasche und steckte ihn in das Schloss. Er passte. Sie öffnete die Schatulle und erblickte einen Brief und ein Sparbuch. Behutsam faltete sie den Brief auseinander und las. „ Liebe Lena, ich hoffe sehr, das Du es bist, die diese Zeilen liest. Du warst mir zu Lebzeiten immer eine große Hilfe. Ich habe Dir so viel zu verdanken. Ich weiß genau, wie schwer Du es hast, aber Du hättest trotzdem nie Geld von mir angenommen. Dies ist für mich die einzige Möglichkeit Dir zu danken! Deine Schwester würde Dir von meinem Nachlass nicht viel abgeben, deshalb habe ich dieses Sparbuch heimlich anlegen lassen. Dieses Geld soll eine kleine Hilfe für Dich sein, es kann nicht ansatzweise ausdrücken wie dankbar ich Dir bin. Ich wünsche Dir und natürlich auch Deiner Schwester alles erdenklich Gute. In Liebe, Deine Oma.“ Dicke Tränen kullerten über Lenas Gesicht. Mit dem Handrücken rieb sie sich die Augen. „Danke Oma!“, flüsterte sie.