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Das vertikale Gewerbe

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16.04.2009
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Das vertikale Gewerbe

Der schwitzende Herr am Tisch gegenüber ist ganz in ein bekanntes Boulevardblatt vertieft. Er hat es weit aufgeschlagen, die Titelseite offenbart sich gewohnt meinungsbildend. „Ein Hochsommer zum Helden zeugen!“ posaunt es mir entgegen, gesäumt von ungeniert entblößter Weiblichkeit. Eine gewisse Svetlana. Vergnügt nippe ich an meinem wohltuend kühlen Frappuccino. Was der Verfasser im Grunde wohl sagen wollte: Stabile Omegalage über Zentraleuropa - brütender Sonnenschein, schwache Winde und Sichtweiten bis in die Arktis. Voller Euphorie denke ich an die kommenden Stunden. Nach was es mich gelüstet, an Tagen wie diesen? Nach meiner Passion, meinem Fetisch, meiner Leidenschaft! Weibliche Reize, heldenhafter Akt - all das wird warten müssen. Ich mach´ mich schon mal auf den Weg zum Flugplatz...

Fallschirm anlegen, einsteigen, festschnallen. Die übliche Routine ginge flott von der Hand, wäre da nicht dieser Geruch, wie ich ihn schon in so vielen Cockpits angetroffen habe. Es ist eine herbe Mischung, mit der ich Freiheit und Betäubung zugleich verbinde: Reichlich Testosteron im verwaschenen Sitzbezug, garniert mit einem Hauch Alleskleber und Sagrotan. Das Ganze wird verfeinert durch die Ausdünstung von erhitztem Kunststoff, vom Fallschirm gesellt sich eine Prise Nylon dazu. Ein unbeschreibliches Aroma, es hat sich mir für immer eingebrannt.

Derart umnebelt, habe ich Terra Firma auf leisen Sohlen verlassen, mittlerweile steige ich durch seidig ruhige Morgenluft. Soweit, so gut. Meine Stirn aber zollt dem Vorhaben allmählich ungewollten Tribut: Chronische Schweißperlen, abwischen zwecklos. Die Hände sehen kaum besser aus. Was ich vorhabe, ist eine neue Runde in der Disziplin, die ich das vertikale Gewerbe getauft habe. Anders als ihr horizontales Pendant erfordert sie Feinmotorik, bedarf jahrelanger Übung, ist überaus anspruchsvoll und vor allem dreidimensional. Die Rede ist natürlich vom Kunstflug, der hohen Schule des Segelfliegens. Über mir: Ein endlos aufgespannter, kristallklarer Himmelsdom. Nur ein zarter Cirrusschleier durchzieht sein stählernes blau. Neben mir: Stechende Morgensonne, umgeben von einer feurigen, schillernden Aura. Ray Ban und getönte Scheiben sind dagegen machtlos. Fasziniert kneife ich die Augen zusammen: Welch prächtiges Farbenspiel!

Das aufdringliche Gelb meiner Schleppmaschine will dazu aber so gar nicht passen. Die hängt vor mir, hievt mich empor. Ich vergleiche sie gerne mit einem tüchtigen Esel, der den angespannten Karren empor hievt - auch uns verbindet nicht mehr als ein schlichtes Hanfseil. Unter mir: Schon ein satter Kilometer Höhe. Im Gegensatz zur motorisierten Zunft habe ich beim Segelkunstflug der Schwerkraft nichts als Geschwindigkeit entgegen zu setzen. Die jedoch muss vor jeder Figur im Austausch gegen Höhe teuer erkauft werden. Ein ganzer Kilometer also: Welch sattes Kapital für den Lustwandel durchs vertikale Freudenhaus! Ein trockenes Knacken quittiert das Ausklinken des Schleppseils. Zum letzten Mal in alle Richtungen gespäht: Der gelbe Esel, er hat sich gestrollt. Mein vormals willenloser Karren ist endlich er selbst, ist endlich frei wie ein entpuppter Schmetterling. Ich möchte keine Zeit verlieren, beschwingt drücke ich an. Noch eben vom stoischen Fahrtwind umgeben, werde ich jäh aus dem Sitz gerissen. Eine fauchende Kulisse droht mir unverholen. Mein Blut rauscht in den Kopf, ich spüre, wie meine Augen aus den Höhlen treten. Letzter Blick über die Instrumente, mein Puls überschlägt sich. Alles für diesen Moment! Erste Figur: Die kubanische Acht, eine Variation aus Loopings und Rollen. Ich ziehe am Steuerknüppel, der Erdboden unter mir ist schon verschwunden. Sofort beginnt es, mir zu dämmern. Keine geistige Erleuchtung, sondern die beim Hochziehen unweigerlich gehemmte Blutzufuhr ins Oberstübchen. Das Ankämpfen gegen die folgende Schwärze vor Augen ist eine der größten Herausforderungen beim Kunstflug überhaupt. Allmählich schwappt der Horizont zurück ins Blickfeld, Mutter Erde nunmehr im oberen Bildrand. Ich kann wieder sehen! Kurze Kunstpause, dann rollen auf Anschlag. Spiralförmig winden sich die Elemente zurück in gewohnte Anordnung, ich fange ab. Das ganze noch mal in die Gegenrichtung- und die Acht aus dem Lande von Salsa und Zuckerrohr ist vollbracht. Fazit: Die oberen Kreisbögen- unsauber, zu wenig ausgerundet. Das alte Problem. Ich gerate in Rage, drücke mit ordentlich jetzt-erst-recht im Bauch an zur nächsten Figur. Ein linker Turn soll es werden: Senkrecht hochziehen, saubere Linie aufwärts. Zu meiner Freude gelingt die seitliche Kehre zurück in Richtung Boden überaus flüssig. Kurzes Ausharren in der Vertikalen, dann fange ich hart ab. Zu hart, findet meine Gespielin, die Maschine. Pikiert schüttelt sie sich unter der Last der Beschleunigung wie eine junge Stute beim Abwerfen des ungeliebten Reiters. Überhaupt ahndet sie jeden Fehler, jede Nachlässigkeit am Steuerknüppel mit einem kapriziösen Eigenleben. Kein Zweifel: Neckische Zeitgenossin, sie braucht eine starke Hand. „Konzentrier´ Dich gefälligst, du Idiot!“ Das ist George, mein höheres Ich. Lastvielfaches, Adrenalin, sensibles Ego: All das formt im Eifer des Gefechts eine brisante Mischung. George kompensiert in solchen Momenten meinen Mangel an Instinkt und logischem Denken, hat bei Not am Mann gar autopilotähnliche Qualitäten. Ein echtes Allroundtalent - jeder sollte einen haben.

Ich rolle, stoße, drücke und ziehe, genau wie auf dem Figurenblatt vor mir am Armaturenbrett. Die feinen Bleistiftskizzen darauf sind eine Art bildliche Stenografie meiner Flugfiguren. In den letzten Tagen bin ich damit unzählige Male im Wohnzimmer auf und ab gelaufen. Die Arme zu kindlichen Flügeln gebreitet, habe ich durchdacht, durchlebt und durchlitten, was ich nunmehr durchfliege. Ich habe gerissen, gezogen, die Schwärze vor Augen ertragen- ohne den sicheren Boden nur einmal verlassen zu haben. Kunstflug: Kein Metier für riskante Akrobatik, vielmehr eine Sache des Kopfes, der sorgsamen Vorbereitung. Oder, frei nach den alten Griechen: Flieger, stürzt Du durchs Freudenhaus, berichte, Du habest sie turteln sehen, wie das Programm es befahl. „Hätt´st mal lieber Philosophie studiert!“ herrscht mich George verachtend an. Wohl wissend, erstickt er mein gedankliches Abschweifen stets schon im Keim.

Kleinlauter Blick also zurück aufs Figurenschema. Das Weibchen steht an, eine Sache mit Sex Appeal. Ich meine das rein fliegerisch. Eine der anspruchsvollsten Figuren überhaupt, die Amerikaner bezeichnen es weitaus treffender als Tail-Slide. Der geht so: Das Flugzeug wird in den vertikalen Steigflug gebracht. Der muss überaus exakt sein, sonst funktioniert es nicht. Im übermächtigen Bann der Erdanziehung verliert es nun zügig an Fahrt. Stahlblauer Stillstand, nervenaufreibende Stille. Es scheint wie eine Ewigkeit, bis die Maschine beginnt, rückwärts zu rutschen. Das Herz des Piloten rutscht zeitgleich in die Hosentasche. Freier Fall nach hinten, ein grässliches Gefühl. Durch einen beherzten Stoß am Steuerknüppel erlöse ich mich schließlich selbst, die Welt klappt um wie ein gigantischer Klodeckel. Leuchtende, gelbe Rapsfelder rauschen auf mich zu. Befriedigt fange ich ab, das hätte man schlechter lösen können.

Meine Kür wendet sich endlich zum Höhepunkt: Eine schnelle Kombination aus halbierten, geviertelten und sonstwie drapierten Rollen. Teils gewürzt mit abstrakten, plötzlichen Richtungswechseln. Abwechselnd werde ich in den Sitz gepresst und aus den Gurten gerissen. Auf Anhieb spüre ich: So soll es sein, so muss es aussehen! Die Maschine und ich sind verschmolzen, wir schrauben uns präzise um die eigene Achse wie an der bildlichen Perlenschnur: Absolut regelmäßig und schlicht unverschämt anmutig. Alles um mich ist schemenhaft, scheint verschwommen zu einem bizarren Kaleidoskop aus Horizont, Armaturenbrett und Sonnenaura. Ich rolle, stoppe, rolle, wechsle - ich rolle, folglich bin ich! Es ist perfekt, absolut perfekt.

Höheres Ich an alle übrigen Ichs: Schluss mit der Show! Im Gegensatz zu mir hat George das jähe Ende kommen sehen- die Mindesthöhe ist erreicht. Ich erwache wie aus einem extatischen Traum, ziehe nur widerwillig am Steuerknüppel. Die Fahrtmessernadel schnellt zurück in Bereiche gelangweilter Lethargie. „Empfohlene Anfluggeschwindigkeit“ heißt das auf Amtsdeutsch, etwa so aufregend wie der Kater am Morgen danach. Melancholia, eine alte Bekannte, leistet mir prompte Gesellschaft. Mit tiefen, traurigen Augen blickt sie mich an, wir sind von stiller Übereinkunft: Von nun an geht’s abwärts. Präziser Anflug, erhabene Landung - all das hat mich früher vereinnahmt wie die rauschende Orgie in der Vertikalen selbst. Früher, heute nicht mehr. Der Kick ist dahin nach tausenden von malen. Dahin, vorbei ist auch der surreale Zauber der letzten Minuten. Durchlebt in einer brachialen Welt, deren Charme ich für immer erlegen bin. Ich seufze, als das Fahrwerk mit einem weichen Stoß über den Grasboden streift - Terra Firma hat mich wieder. Vorerst jedenfalls.

 

Salve OASE,

herzlich willkommen bei KG.de.

Bis ca.zur Mitte des Textes hast Du es tatsächlich geschafft, mich interessiert am Segelflug teilhaben zu lassen. Als dann die Endlosschleife fliegerischer Kunststückchen einsetzte, schweiften die Gedanken schnell ab. Ich glaube, man muss selbst passionierter Segelflieger sein, um den Details der Flugfiguren etwas abgewinnen zu können.

Interessanter als Fluglaie hätte ich gefunden, zu erfahren, was dem Protagonisten das Fliegen über den Rausch hinaus gibt. Oder, wie die Sucht nach dem Kick mit der grauen Realität des Alltags kollidiert. Oder, wie die zickige Maschine, ein unzuverlässiger Wind, ein leichtsinniger Pilot und ein pedantisches Über-Ich namens George ernsthaft in Probleme miteinander geraten.

So berührt mich die Geschichte kaum, außer dass ich mir auch einen wolkenlosen, tiefblauen Himmel wünsche, jetzt, wo's vor meinem Fenster rumgraut.

LG und viel Spaß noch im Forum,
Pardus

 

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