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Das Walzwerk
Mein Name ist Stefan. Ich arbeite in einem Grobblechwalzwerk. Es ist das drittgrößte seiner Art in Europa und das erfüllt mich mit Stolz! Ich bin als Kranfahrer angestellt und Sie können Sich nicht vorstellen, was mir neulich wiederfahren ist.
Ich begann die Nachtschicht, indem ich im Schichtraum einen Kaffee trank. Es war noch eine Viertelstunde bis zum Beginn der Arbeitszeit und die erste Nachtschicht der Woche ist immer die Schlimmste. Ich war etwas müde und trank den Kaffee. Es war einer dieser Instantkaffees, die man nur des Koffeins wegen zu sich nimmt. War es Intuition oder was auch immer, ich wusste, dass irgendetwas passieren würde. Du wirst alt, dachte ich mir, es ist eine Nachtschicht wie jede andere, du musst dir keinen Blödsinn einreden! Ich schlürfte noch den letzten Schluck (Instant-)Kaffe aus der Tasse und begab mich raus ins Treppenhaus auf den Weg zum Kran 13. Das Treppenhaus war riesig und ein Stockwerk mindestens drei Meter hoch. Dazu kamen die ganzen Zwischen-Wand-Kabel-Geschosse, die sich mit den Obergeschossen abwechselten. In den ZWKGs waren Ersatzteil- und Schrottteillager und ein Teil der Schalträume mit den Steuerungen. Der Weg vom 2.Obergeschoss zum 1.Obergeschoss war also in Wirklichkeit der Weg vom 5. zum 3.Stock.
Ich öffnete die Tür zur Fertigungshalle und obwohl es Spätherbst war, herrschten hier Temperaturen von 40 Grad. Ich ging das Geländer, welches sich durch alle Winkel der Halle schlängelte, hinauf zu meinem Kran. In regelmäßigen Abständen war das Rumms der Warmwalzanlage zu hören, welches die rotglühenden Brammen nach und nach zu Grobblechen walzte. Dabei vibrierte die ganze Halle. Mit der Zeit hatte ich aber aufgehört, das zu spüren. Zumindest ignorierte ich die Erschütterungen des Bodens. In mindestens ebenso regelmäßigen Abständen hörte man das Zisch und sah Wasserdampf vor der Walze emporsteigen. Die Bleche wurden vor jedem Walzgang mit einem Wasserstrahl von Oben und Unten von der Schlacke befreit. Wäre auch nur auf einem Millimeter in der Länge kein Wasser, welches auf das Blech trifft, würde es sich wellen und man könnte es nur noch als Schrott verkaufen. Das brachte nicht so viel Geld ein wie ein Grobblech, aber immerhin noch etwas.
Ich begrüßte Jürgen, den Steuermann von Steuerbühne 6, der mir mit Zigarette im Mund auf dem Weg entgegenkam. Er hatte Nachtschicht wie ich. Er war erst seit drei Jahren hier, aber ein sehr pflichtbewusster, junger Kollege.
Als ich vor 15 Jahren anfing, hatte ich noch Höhenangst. Da ich aber täglich über gut 20 Meter hohe Geländer stieg, hatte ich mir diese schnell abgewöhnt. Die Geländer waren aus typischen Stahlgittern und über die Jahre ziemlich verschmutzt. Mochten sie damals noch metallisch geglänzt haben, waren sie jetzt mattschwarz und rochen nach altem Öl und Dreck. Zumindest war das ein guter Rostschutz.
Ich bestieg das Führerhaus des Krans und begrüßte Walter. „Schichtwechsel Walter, du hast Feierabend!“, erlöste ich meinen Kollegen von der Spätschicht. Walter war kurz vor der Rente und sein Job machte ihm Spaß, genau wie mir! „Dann mal frohes Schaffen“, verabschiedete sich Walter. Nun war ich allein - nur ich und mein Kran 13, der die auf 400 Grad abgekühlten Grobbleche der Kaltverarbeitung übergeben sollte.
Zwei Stunden passierte nichts Außergewöhnliches. Im Zwei-Minuten-Rhythmus dockten die Elektromagneten meines Krans an einem (abgekühlten) Grobblech an, um ihn Rollgang 53 zu übergeben - der Kaltverarbeitung. Hin und wieder ertönte das Rumms der Warmwalze und das Zisch, als die Bleche von der Schlacke befreit wurden. Vom Führerhaus aus sah ich die Bleche die Kaltstraße entlang rollen. Erst wurden sie mit Ultraschall auf Luftblasen geprüft. Waren sie in Ordnung, wurden sie an der Doppelbesäumschere auf die vom Kunden gewünschte Breite und an der Querteilschere in die gewünschte Länge geschnitten. Enthielten sie Luftblasen, wurden sie an der QTS in etwa 50cm lange Stücke zerkleinert und fielen seitlich runter in einen Schrottauffangbehälter. Dieser Vorgang dauerte jedes mal so lange, dass ich in der Zwischenzeit hätte eine Zigarette rauchen können, ohne weitere Bleche dem Rollgang 53 zu übergeben. Doch ich hatte vor einem halben Jahr mit dem Rauchen aufgehört. Der QTS beim Zerkleinern der 20 bis 30 Meter langen Bleche zuzusehen, war außerdem wesentlich gesünder. Ich kann mich noch an meine ersten Jahre im Walzwerk erinnern. Damals wurden die noch immer etwa 200 Grad warmen Bleche von Arbeitern gestempelt und damals durften sie noch während der Arbeit Alkohol trinken. Es passierte öfters, dass einer von ihnen auf den Blechen stolperte und sich verbrannte. Etwa zur Zeit der Wende kamen Ingenieure von Magnemag - bei uns nur Magnemurks genannt - und auch dieser Arbeitsschritt wurde automatisiert. Die Woche zuvor war ich dort am Kran, um die fertig gestempelten Bleche in die Nebenhalle zu dem Lagerplatz zu transportieren, den mir der Bildschirm rechts neben den Steuerknüppeln zuwies.
Es war kurz nach Mitternacht und es war, als ob die Zeit für den Bruchteil einer Sekunde stehen geblieben wäre. Das Licht wirkte in diesem kurzen Augenblick unecht. Irgendetwas war anders. Ich wusste nicht sofort was, aber dann fiel es mir auf. Es war still! Es war einfach nur Stille! Kein Rumms mehr von der Walze in dem Moment, wo die Bramme zum Grobblech gewalzt wird. Kein Zisch mehr vom Wasserstrahl, der die Schlacke vom Blech entfernt. Es war einfach nichts mehr da. Nur noch Stille. Mörderische Stille. Mein Kran ließ sich nicht mehr bewegten, obwohl Strom und notfalls die Batterien der Elektromagneten noch funktionierten, sonst wäre das zehn Meter über der Erde hängende Grobblech schon längst mit einem lauten Knall runtergefallen. Ich wusste nicht, was hier passierte!
Ich saß einfach nur da. Ich fragte mich, was das für ein unechtes Licht war und warum ich das Gefühl hatte, die Zeit wäre während dieses kurzen Augenblickes stehen geblieben. Diesen Bruchteil einer Sekunde kam es mir vor, als hätte irgendjemand - oder irgendetwas - jegliche Zeit, die in diesem Universum existiert hat, aufgesaugt. Je mehr ich darüber nachdachte, kam es mir vor, als ob es die Zeit nie gab und jegliche wissenschaftliche Fortschritte des letzten Jahrhunderts, die Relativitätstheorie Einsteins mit seiner Raumzeit oder Richard Gotts Idee von der Zeitmaschine aus zwei unendlich langen kosmischen Strings falsch seien. Meine Vorstellung von Raum und Zeit zerbrach wie ein Kartenhaus, aus dem man irgendeine der untersten Karten entfernte - die Zeitkarte.
Eine halbe Stunde verstrich – glaubte ich zumindest, meine Uhr war stehen geblieben - und es war immer noch Stille. Ich stieg aus meinem Kran. Im Walzwerk war es kalt geworden. Ich ging das mattschwarze Geländer entlang nach unten, um nachzusehen. Es war nicht nur Stille, es war auch niemand mehr da. Sonst sah man hier unten etliche Arbeiter. Und dann fiel mir etwas auf: Die Grobbleche auf dem Kühlbett waren voller Rost und kalt! Dieser Rost war nicht nur oberflächlich, nein, sie waren von Rost regelrecht zerfressen. Ich ließ meinen Blick zu Kran 13 wandern. Auch der Kran sah nicht anders aus. Die gelbe Farbe war abgeblättert und nicht mehr wirklich gelb und der Stahl rotbraun. Was war hier geschehen? Ich rannte zur Steuerbühne 6, sie war verrostet und die Scheiben milchig trüb. Der rote Lack war kaum mehr vorhanden. Alles sah alt aus und es roch nach Rost. In der gesamten Luft des Walzwerks hing der Geruch von altem, verrostetem Stahl. Wie konnte das passieren? Es war kein Alt von hundert Jahren oder tausend. Die Bleche, die Steuerbühne, der Kran, alles sah aus, als ob es Jahrtausende alt wäre! Noch etwas fiel mir auf: Das Führerhaus meines Kran 13 war noch immer in dem Zustand wie kurz vor 22 Uhr, als ich es betrat, und nicht vom Rost zerfressen wie alles andere aus Stahl. Was war geschehen? Und warum brannte das Licht noch?
Ich betrat die Steuerbühne 6 und konnte mich nicht mehr rechtzeitig wegdrehen! Die Kotze quoll nur so einfach aus meinem Mund, als ich den Anblick der Leiche sah. Nein, Leiche ist der falsche Begriff! Skelett passt eher. Ich glaube, es war Jürgen, den ich da vor mir hatte! Was war mit ihm geschehen? Was war ÜBERHAUPT mit dem Walzwerk geschehen? Wie konnte alles von einer Sekunde auf die andere um Tausende Jahre altern? Ich wusste es nicht!
Ich ging zu dem Skelett und berührte einen Knochen. Er zerbrach, ohne dass ich in irgendeiner Weise bewussten Druck ausgeübt hatte. Er zerbrach nicht in einzelne Stücke, er verstaubte eher. Sofort bildete sich eine kleine Staubwolke, die langsam Richtung Boden glitt. Das Skelett saß auf dem Stuhl und der Oberkörper lag auf dem Schaltpult vor dem Stuhl. Es war nicht die Haltung von jemandem, der sich eine Schlafpause gönnte, vielmehr musste Jürgen zusammengesackt sein. Eine verfallene Schachtel Zigaretten lag links neben seinem Körper. Der Holztisch machte noch einen relativ guten Eindruck. Der DDR-Lack, um Holz haltbar zu machen, war doch besser, als ich dachte.
Ich verließ die Steuerbühne und sah mich weiter im Walzwerk um. Ich ging zum Hochofen, der die Brammen für die Warmwalze erhitzte. Noch vor einer Stunde hätte man sich nicht auf zehn Meter annähern können, ohne dass einem das Gesicht vertrocknete. Jetzt war er kalt und ich wagte einen Blick in die Öffnung. Sowohl Ofen als auch die Brammen im Inneren waren verrostet. Das selbe Bild zeigte sich mir, als ich in die entgegengesetzte Richtung das Walzwerk entlang schritt, um die Kaltstraße zu besichtigen. Auf meinem kleinen Rundgang entdeckte ich noch weitere Skelette. Alle waren im selben fragilen Zustand wie Jürgen. Manche Knochen waren tatsächlich schon zu Staub zerfallen. An einigen erkannte ich noch blaue Staubfetzen, die vor einer Stunde noch Teil der Arbeiterkleidung waren.
Ich stand vor der Lagerhalle, sie war halb eingestürzt. Im hinteren, eingestürzten Teil ragte zwischen den Trümmern die betriebseigene Elektrolok hervor. Ihr verrostetes Äußeres hatte mehrere Löcher, die zweifellos vom Einsturz der Halle stammten. Die Scheiben mussten dabei zersplittert sein, denn ich konnte durch das Führerhaus hindurchsehen.
Mir fiel Staub auf den Kopf. Ich erschrak und schaute nach oben. Instinktiv wich ich einen Schritt zurück. An der Stelle, wo ich gerade eben noch stand, schlug ein Stein mit lautem Knall auf. Ich ging weitere drei Schritte zurück, während ich den beim Aufprall zerbarsten Stein anstarrte, der mir fast den Kopf zertrümmert hätte. Der Werksschutz war das letzte, woran ich jetzt dachte, ich hatte meinen Helm im Führerhaus vergessen! Ich schaute in Panik nach oben, wollte der Rest der Lagerhalle ausgerechnet jetzt einstürzen? Er tat es! Ich drehte mich hastig um und rannte, so schnell ich konnte! Zwar hatte ich das Rauchen aufgegeben, dennoch war ich bei weitem nicht so schnell wie ein olympischer Hundertmeterläufer.
Hinter mir schlugen weitere Teile des Daches auf den Boden, ich versuchte schneller zu rennen. Obwohl ich keine hundert Meter von der rettenden Haupthalle entfernt war, kam es mir wie eine halbe Weltreise vor. Und was, wenn die Haupthalle auch einstürzt?
Sie tat es nicht, aber ein Stein traf mich an meiner linken Ferse. Ich stolperte und fiel der Länge nach gegen einen Rollgang.
Den Schmerz spürte ich nicht. Mein Hirn war gnädig mit mir und unterdrückte den Schmerz, der zweifellos später eintreten würde. Ich schmeckte das Blut in meinem Mund und fühlte, wie mein ganzer Kopf feucht und warm wurde. Ich sah, wie auf dem verrosteten Rollgang immer mehr rote Tropfen landeten. Ich rekelte mich in eine knieende Stellung auf. Mehr war in dem Moment nicht möglich, mein linker Fuß streikte gegen jegliche Versuche, aufzustehen. Ich betrachtete meine Hände. Sie waren aufgeschürft und an mehreren Stellen quoll Blut aus den Wunden. Ich betastete mein Gesicht. Die Nase war gebrochen, das spürte ich. Auch meine Wangen hatte ich mir an mehreren Stellen aufgeschrammt. Mit meiner Zunge konnte ich fühlen, dass ich mir bei dem Aufprall auch mehrere Zähne ausgeschlagen hatte. Sie waren zwischen den Rillen des Rollgangs verschwunden.
Ich drehte mich um, um die Lagerhalle zu besichtigen. Die Seitenwände waren größtenteils noch vorhanden, aber das Dach war gänzlich eingestürzt. Ein kalter Windzug streifte mein Gesicht.
Ich versuchte erneut, aufzustehen. Und dann kam der Schmerz! Ich konnte nicht sagen, was mehr wehtat, mein Gesicht oder der Fuß, doch ich schaffte es, aufzustehen. Auch der Strumpf an meinem linken Fuß wurde nass. Hätte ich nachgeschaut, hätte ich zweifellos eine nasse, rote Tennissocke entdeckt.
Ich humpelte mit schmerzverzerrtem Gesicht zum Seiteneingang der Halle, um zu schauen, wie es draußen aussah. Es brannte genau wie in der Halle noch überall Licht, aber der Anblick hier draußen war kein anderer. Alles war alt. Die Brammen, die auf den Kran warteten, der sie auf Rollgang eins transportierte, und damit in den Genuss des fertigungstechnischen Prozesses des Walzens kamen, waren verrostet. Was auch sonst? Das Haus, was sich die Kantine und der werkseigene Sanitätsdienst teilten, war eingestürzt. Hier würde ich wohl nichts mehr essen können. Der Schornstein links daneben auf der anderen Seite der Werksstraße stand noch. Die Frage war nur, wie lange noch? Er machte keinen stabilen Eindruck mehr. Vielleicht würde er beim nächsten Sturm die Erde küssen.
Es war eine klare Nacht, der Wind pfiff spürbar an meinen blutüberströmten Wangen vorbei, war aber für die Jahreszeit recht lau. Der Mond stand am Firmament und ich konnte erstaunlich viele Sterne am Himmel sehen. Was das im Einzelnen für Sternzeichen waren, konnte ich nicht sagen. Ich kannte mich mit so etwas nicht aus. Dennoch spürte ich, dass diese Sterne falsch waren. Sie gehörten nicht in diese Welt. Ich sah eine Formation an Sternen, die ich Staubsauger taufte. Sie sahen tatsächlich aus wie ein Staubsauger und leuchteten sehr hell. Mir wäre dieses Sternenbild schon früher aufgefallen. Obwohl ich mich nicht für Sternzeichen interessierte, ging ich doch gerne in den Garten meines Hauses, das ich von meinen Großeltern geerbt hatte, um bei einem Bier nach der Arbeit den Sternen beim Wandern zuzuschauen. Sie wanderten zwar so langsam, dass ich es in der halben Stunde im Garten nie wirklich bemerkt hatte, doch dass sie wanderten, das wusste ich.
Ich ging die Werksstraße entlang zum Parkplatz. Die Autos sahen nicht anders aus als der Rest des Walzwerkes. Nur eines war noch neu, mein alter (haha!) Ford Escort. Ich stieg in mein Auto und fuhr in die Stadt. Es interessierte mich, wie sie aussah. Ich hatte jedoch keine Hoffnung, dass ich sie in einem anderen Zustand als das Walzwerk vorfinden würde.
Die Stadt erwies sich im dem Zustand, wie ich sie erwartete. Manche Häuser waren so vom Zahn der Zeit zernagt, dass sie eingestürzt waren. Nur die Straßenlaternen brannten noch. Ich schlängelte mich an den hin und wieder auf der Straße stehenden alten Autowracks vorbei. Kurz vor meinem Haus fuhr ich an einem neuen(?) Audi A6 vorbei. War ich der einzige Mensch, der noch lebte? Wie konnte es sein, dass alles so einfach von einer Sekunde zur nächsten alterte und nur ich und mein Führerhaus des Krans und mein Wagen - und mein Haus?
Ich stand vor meinem Haus, es war genau wie mein Wagen nicht gealtert. Ich stieg aus meinem Wagen und betrat mein Haus. Wieso war alles gealtert, nur nicht ich und die Dinge, die im unmittelbaren Zusammenhang zu mir standen?
Ich weiß nicht, ob diese Zeilen, die ich hier niederschreibe je einer lesen wird. Ich verzehre gerade das letzte Stück Brot und trinke die letzte Selter, die ich in meinem Haus gefunden habe. Alles ist gealtert, nur warum ich nicht? Warum sind die Sterne am Himmel so anders? Welch grausames Schicksal ist mir wiederfahren? Ich werde mir gleich meinen Gürtel nehmen und mich erhängen. Mein Essen ist alle, mein Trinken ebenso und ich habe seit Tagen keine Menschenseele mehr gesehen. Alles, was blieb, sind die Erinnerungen gespeichert auf Bildern und Urlaubsvideos, als die Welt noch neu war und nicht gealtert um Jahrtausende.
Das Licht wirkte den Bruchteil einer Sekunde unecht und die Zeit begann wieder zu existieren. Einsteins Relativitätstheorie sowie die Raumzeit hatten ihre Gültigkeit zurückerlangt und Richard Gotts Idee von der Zeitmaschine aus zwei unendlich langen kosmischen Strings konnte wieder in wissenschaftlichen Kreisen diskutiert werden.
Es war kurz nach Mitternacht, als Jürgen auffiel, dass irgendetwas mit Stefan nicht stimmte. Sein Kran stand schon ein paar Minuten still und ein Grobblech hing ein paar Meter über der Luft am Elektromagneten. Jürgen ging das Geländer hinauf und schnellen Schrittes zum Führerhaus. Irgendwie sah es anders aus. Alt! Das war der passende Begriff. Die Farbe war kaum mehr sichtbar und das gesamte Führerhaus war verrostet und die Scheiben milchig trüb. Jürgen betrat die Kabine, aber Stefan war nicht auf seinem Arbeitsplatz, der den selben alten Eindruck machte. Jürgen rannte zur Steuerbühne 6 und benachrichtigte sofort den Werksschutz.
Der Lokführer des Walzwerkes ging Richtung Haupthalle. Während sein Zug mit Grobblechen beladen wurde, wollte er sich eine Pause gönnen und seinen Nachbarn besuchen, der als Mechaniker im Werk arbeitete und wie er diese Woche Nachtschicht hatte. Als er die Haupthalle betrat, fielen ihm die dunkelroten Flecken auf, die am und um den letzten Rollgang verstreut waren. Er blieb stehen. Er konnte sich erinnern, dass diese vor zwei Stunden, als er mit der Arbeit begann, noch nicht da waren. Er beachtete die Flecken nicht weiter, es würde wohl irgendeine Begründung dafür geben. Vielleicht hat jemand einen Eimer voll dunkelroter Farbe fallen gelassen? Es war ihm egal und er ging weiter.
Ein Herr Mitte 40 fuhr mit seinem gerade neu geleasten Audi A6 die Straße entlang und schrie vor Schreck auf, als er den alten Ford Escort vor ihm sah. War das ein Auto? Der Wagen sah aus wie Tausende Jahre alt. Er stand direkt neben einem alten, verfallenen Haus. Der Herr benachrichtigte sofort die Polizei. Sie traf etwa 10 Minuten später ein, ebenso wie die Feuerwehr. Die Feuerwehrleute betraten die Ruine.
Eine Woche später konnte Norman, ein Computerspezialist, einige Daten der Festplatte aus dem alten PC, den man in der Ruine gefunden hatte, entschlüsseln. Der PC gehörte einem Mann namens Stefan. Sein Skelett wurde vor dem PC aufgefunden und seine Knochen zerfielen bei der geringsten Berührung zu Staub, das hatte man Norman erzählt. Er las die letzten Zeilen, die Stefan niedergeschrieben hatte: „Alles, was blieb, sind die Erinnerungen gespeichert auf Bildern und Urlaubsvideos, als die Welt noch neu war und nicht gealtert um Jahrtausende.“