Das Wanderhaus
Das Wanderhaus
von Hanno Berg
I
Benjamin war auf dem Weg durch die Altstadt zur Universität. Gedankenverloren ging er an den schmucken Fachwerkhäusern vorbei, ohne Einzelheiten wahrzunehmen, denn er dachte nach. Als er aber an die Ecke Gerichtsweg und Rathausplatz kam, schaute er sich um. War da nicht eben…?
Er ging einige Schritte zurück. Ja! Dort stand ein Fachwerkhaus, mindestens hundertfünfzig Jahre alt, an einer Stelle, an der – Benjamin rieb sich die Augen und traute seinem Gedächtnis nicht so recht – an einer Stelle, an der zuvor kein Haus gestanden hatte! Wenige Sekunden später hatte sich der Student wieder gefasst und schüttelte den Kopf. Er hatte sich geirrt. Natürlich hatte er sich geirrt. Das Haus stand dort schon immer. Was er sich nur immer zusammenreimte.
Kopfschüttelnd ging er weiter und dachte erneut über seine Hausarbeit nach, in welcher er sich mit theologischen Überlegungen beschäftigte. Als er schließlich an der theologischen Fakultät ankam, hatte er den Vorfall vergessen. –
An dem Haus, das Benjamin zunächst aufgefallen war, konnte man ein Schild betrachten, das darauf hinwies, dass dort ein Psychiater praktizierte, ein habilitierter Mediziner namens Josefus. Wenn man etwas genauer hinschaute, konnte man diesen Mann auch ab und zu dabei sehen, wie er das Haus verließ oder heimkehrte. Es handelte sich bei Professor Josefus um einen großen, gutaussehenden Mann in den besten Jahren, mit grauen Haaren, einem grauen Vollbart, grünen Augen und einer goldenen Metallbrille auf der Nase, die leicht ovale Gläser hatte und ihm ein intellektuelles Aussehen verlieh.
Bald schon konnte man auch verschiedene Frauen zu seiner Praxis kommen sehen, die, durfte man den Gerüchten glauben, die sich um den Arzt rankten, von Depressionen heimgesucht wurden, denn die Behandlung dieser Krankheit war, schaute man sich seine Internetseite an, sein Fachgebiet.
Was dann aber genau mit den Patientinnen des Professors in seiner Praxis geschah, war dem normalen Beobachter nicht zugänglich, aber es war dermaßen interessant, dass die Geschichte darüber nun dem Leser erzählt werden soll.
II
Nehmen wir einmal die junge und sehr hübsche Patientin namens Vera Schur. Diese sprach nur wenige Tage, nachdem Benjamin, der Theologiestudent, gedacht hatte, das Haus sei bisher nicht in der Altstadt zu sehen gewesen, bei Professor Josefus vor.
Vera war – wie gesagt – jung und sehr hübsch und hatte vor einiger Zeit ihre Eltern bei einem Verkehrsunfall verloren, was sie depressiv machte und sogar an Suizid denken ließ. Bisher konnte ihr keiner der Ärzte der Universitätsklinik helfen, sodass sie in der Behandlung durch Professor Josefus quasi ihre letzte Chance sah, ihre Erkrankung doch noch in den Griff zu bekommen.
In einer ersten Besprechung machte ihr der Professor Hoffnungen, sie werde ihre Depression loswerden, wenn sie sich von ihm behandeln lasse. Also willigte sie ein und ließ sich Termine geben. Zunächst erhielt sie vier Termine in zwei Wochen, in denen sie seine Praxis aufsuchen sollte. –
Am Donnerstag der Woche kam Vera pünktlich an, und der Mediziner bat sie in eins seiner Behandlungszimmer. Dort standen ein Tisch, auf welchem sich ein Tonband befand, ein Sessel und eine Couch, deren Kopfende zum Sessel hinzeigte.
Josefus bat Vera, sich auf die Couch zu legen und setzte sich selbst in den Sessel daneben. Als sie sich ausgestreckt und ein wenig entspannt hatte, schaltete er das Tonband ein.
„Meine liebe Frau Schur! Erzählen Sie mir doch bitte jetzt von ihrer Vergangenheit, und zwar begonnen mit ihrer Kindheit, so viel, wie Sie in einer Stunde erzählen können. Das Tonband hier wird aufzeichnen, was sie sagen, sodass ich das Erzählte später analysieren kann. Dies werden wir in den kommenden Wochen fortsetzen, bis Sie im Hier und Heute angekommen sind. Nach meiner Analyse Ihrer Erlebnisse werde ich versuchen, Ihnen einen Weg aufzuzeigen, wie Sie Ihre Depression loswerden können. Also dann!“
Vera überlegte zunächst einen Moment und erinnerte sich an ihre Kindheit. Dann erzählte sie Josefus alles, was ihr dazu einfiel. Das Tonband jedoch zeichnete alles auf, was sie gegenüber dem Psychiater äußerte.
So vergingen acht Therapiestunden, in denen Vera quasi ihr ganzes Leben vor Josefus ausbreitete, und dieser nahm alles auf Band auf, was sie ihm mitteilte. Endlich war Vera in der Gegenwart angekommen, und nun stoppte der Professor die Aufzeichnung.
Im selben Moment aber, als der Arzt alle Erinnerungen der Patientin auf diesem Tonband aufgezeichnet hatte, verlor Vera diese aus dem Gedächtnis und konnte sich an nichts aus ihrer Vergangenheit mehr erinnern. All ihre Erinnerungen waren im Nu gelöscht, und ihr war, als sei sie gerade erst geboren worden.
Professor Josefus aber zog im selben Augenblick eine Pistole hervor und richtete sie auf Veras Brust.
„Stehen Sie auf und gehen Sie voran! Ich werde sie nun an einen Ort bringen, an welchem sie eine Weile warten werden.“
Vera wollte nicht vorangehen, da sie nichts Gutes mehr von diesem Kerl erwartete, aber er schlug ihr ins Gesicht und zwang sie, vor ihm herzulaufen. Er dirigierte sie in einen dunklen, ungemütlichen Kellerraum, in welchem schon drei weitere Frauen mit teilnahmslosen Gesichtern und völlig apathisch auf dem Boden saßen, mit dem Rücken an die Wand gelehnt. Sie waren jedoch alle jung und hübsch.
Der Psychiater stieß sie in den Raum hinein und schloss hinter ihr die schwere Eisentür. Sie konnte nur noch hören, wie der Schlüssel umgedreht wurde. Dann war alles still, und keine der Frauen sagte auch nur ein Wort.
III
Wenige Stunden später öffnete Professor Josefus die Kellertür erneut und befahl Vera Schur, mit ihm zu kommen. Da er wieder seine Pistole in der Hand hatte, wagte sie nicht, sich zu widersetzen und folgte ihm ins obere Stockwerk seines Hauses.
Dort oben aber befand sich ein Fotostudio, und er befahl ihr, sich in Positur zu setzen und schoss verschiedene Fotos von ihr. Vera wagte nicht, den Arzt zu fragen, wozu er ihre Fotos brauchte und ließ sich anschließend wieder von ihm in den Keller einschließen.
Als Josefus sie hinuntergebracht hatte, ging er zum Fotostudio zurück und bearbeitete dort die Digitalfotos von Vera. Er brauchte sie nämlich für einen digitalen Katalog, den er ins Darknet gestellt hatte und in welchem sich die Fotos aller Frauen befanden, die er auf diese Weise behandelt hatte. Dieser Katalog diente dazu, die Frauen fremden Männern anzubieten, die sehr viel Geld hatten und eine Ehefrau suchten, die Ihnen hörig war. Immer dann, wenn Josefus eine der Frauen an einen solchen Mann verkaufte, kassierte er dafür eine große Summe.
Und noch einen Dienst im Zuge eines solchen Geschäfts bot der Unhold seinen Kunden an. Der jeweilige Kunde konnte sich eine Geschichte wünschen, die die Vergangenheit der Ware beschrieb. Das heißt, der Psychiater schrieb eine Vergangenheit der von ihm verkauften Frau, die der Kunde auswählte, auf ein besonderes Papier und gab dieses dann der Frau zum Lesen, die ja ihre echte Vergangenheit gänzlich vergessen hatte. Wenn die verkaufte Frau nun die erfundene Geschichte ganz gelesen hatte, dann war ihr Gedächtnis mit dieser gefühlt, und sie selber dachte, es handele sich bei ihr um ihre echte Vergangenheit.
Auf diese Weise erhielt der jeweilige Kunde eine Ehefrau, deren Vergangenheit gänzlich seinen Wünschen entsprach und die ihm so ergeben war, wie er es selbst in dieser Wunschgeschichte festlegen konnte. –
Für Vera Schur interessierten sich sofort sehr viele Männer, als Josefus ihre Fotos in seinen Katalog aufgenommen hatte, und der Professor verkaufte sie schon bald an den Meistbietenden. Er entwarf für sie ganz nach den Wünschen dieses Mannes eine neue Vergangenheit und zwang sie sehr bald, diese, die er auf sein magisches Papier geschrieben hatte, zu lesen.
Wenige Wochen später heiratete sie dann den Mann, der sie auf diese Weise erworben hatte und zog mit ihm nach Kanada, wo ihr neuer Gatte ein gutgehendes Industrieunternehmen besaß.
Kaum aber war diese Transaktion abgeschlossen, da geschah das Unglaubliche, was den Psychiater, der hinter all dem steckte, immer vor der Entdeckung bewahrt hatte. Sein Haus verschwand nämlich mit ihm selbst und allen Frauen, die dort noch im Keller auf neue Besitzer warteten, aus der kleinen Universitätsstadt in Deutschland und tauchte im selben Augenblick in einer französischen Metropole wieder auf, wo der gute Professor nun sein Business fortsetzen konnte, ohne von Irgendjemand behelligt zu werden.
IV
Konrad Schur, der ehemalige Mann des letzten Opfers von Professor Josefus, war inzwischen außer sich. Eines Tages war seine Frau spurlos verschwunden, und er hatte keine Idee, wohin sie gegangen sein könnte. Er schaltete sogar die Polizei ein, die sehr intensiv nach Vera suchte, doch auch dies brachte keinen Erfolg, sodass ihm die Beamten nach einigen Monaten sagen mussten, dass sie keine Chance mehr sahen, seine Frau noch zu finden.
So zogen einige Jahre ins Land, und Konrad Schur fand sich schließlich damit ab, Vera niemals wiederzusehen. Eine neue Frau jedoch wollte er auch nicht kennenlernen, denn sein Schmerz über den Verlust von Vera, die er sehr geliebt hatte, saß tief.
Da Konrad aber ein gutgehendes Exportgeschäft hatte, war er oft im Ausland unterwegs, vor allem in Nord- und Südamerika. Als er einmal in Kanada zu tun hatte, geschah etwas, was sein Leben völlig umkrempelte.
Er schloss ein Geschäft mit einem dortigen Industrieunternehmen ab und wurde von dem Unternehmer eingeladen, an einer Party seiner Firma teilzunehmen. Dort war auch der Unternehmer selbst zugegen und mit ihm seine junge und schöne Frau, die er erst vor wenigen Jahren geheiratet hatte.
Als Konrad jedoch diese Frau zu Gesicht bekam, traute er seinen Augen kaum. Das war Vera, seine eigene Frau, oder doch zumindest ihre kanadische Doppelgängerin. Er fragte einen Angestellten des Unternehmers aus, mit dem er seine Geschäfte abgewickelt hatte und erfuhr, dass die Frau des Chefs aus Deutschland stammte. Allerdings hatte sie eine ganz andere Vergangenheit, als Vera sie gehabt hatte.
Dennoch glaubte Konrad nicht daran, dass diese Frau, die er bisher nur aus der Ferne beobachtet hatte, zufällig genauso aussah wie seine Vera. Er beschloss, sie auf der Feier nicht anzusprechen, weil sie in Begleitung ihres Gatten war. Vielmehr wollte er ihr in den nächsten Tagen einmal unauffällig folgen und sie unterwegs bei passender Gelegenheit in ein Gespräch verwickeln.
Er beobachtete sie auf dem Fest noch weiter, und sein Gedanke, dass sie tatsächlich seine Vera sein könnte, verfestigte sich dabei mehr und mehr. Endlich verließ sie mit ihrem Mann die Feier, und Konrad blieb noch eine Weile dort.
Am Abend lag er in seinem Hotelzimmer im Bett und konnte nicht einschlafen. Handelte es sich bei der Schönen auf dem Betriebsfest um seine Frau, oder sah sie nur so aus, wie diese? Erst lange nach Mitternacht fiel Konrad in einen unruhigen Schlaf.
V
Am nächsten Morgen fuhr Konrad sehr früh mit seinem Mietwagen zum Haus des kanadischen Unternehmers, um der schönen Frau, die aussah wie Vera, zu folgen und eine Gelegenheit abzuwarten, sie allein zu treffen und anzusprechen.
Gegen 10 Uhr am Vormittag verließ die Schöne mit ihrem Hündchen an der Leine das Haus und ging in Richtung Stadtkern, wo sie wohl einkaufen wollte. Wieder dachte Konrad bei sich, dass es sich wohl tatsächlich um Vera handeln könne, denn diese hatte früher ebenfalls ein Hündchen gehabt, weil sie Tiere sehr liebte.
Als sie sein Auto passiert hatte und schon einige Meter gegangen war, verließ Konrad den Wagen und folgte ihr unauffällig mit einigem Abstand.
Endlich hatte die Frau die Innenstadt erreicht und sah sich nach einem Café um, wo sie ein zweites Frühstück zu sich nehmen wollte. Bald schon hatte sie ein geeignetes Lokal gefunden und setzte sich, da das Wetter gut war, davor an einen Tisch in der Nähe der Straße. Konrad trat unauffällig an ihr vorbei in den Schankraum hinein und nahm sich einen Tisch am Fenster, von welchem aus er sie sehr gut beobachten konnte.
Sie bestellte ein Croissant und einen Milchkaffee und ließ es sich schmecken. Während Konrad nur ein Wasser nahm, ließ die Schöne ihrem Hündchen noch einen Napf voller Wasser bringen und stellte diesen unter ihren Tisch, wo das Tier es sich gerade bequem gemacht hatte.
Während die Frau genüsslich frühstückte, nippte Konrad nur an seinem Wasser und überlegte, ob er sie jetzt ansprechen konnte, um ohne dass sie den Verdacht schöpfte, er wolle etwas von ihr. Schließlich schüttelte er den Kopf und beschloss, noch zu warten, bis sich eine unverfänglichere Situation ergab. Also wartete er, bis sie zahlte, zahlte ebenfalls und wollte ihr gerade weiter folgen, als sich ihr Hündchen losriss und auf die Straße zu laufen drohte.
Alarmiert schrie die Schöne ihrem Hund hinterher und wollte ihm gerade folgen, als ein Lastwagen um die Ecke bog und genau auf das Tier zufuhr. Voller Angst rief die Frau weiter um Hilfe, und Konrad lief eilig auf die Straße. Er griff den Hund, der überrascht stehengeblieben war, mit beiden Händen und erreichte mit ihm den Bürgersteig in dem Moment, als der Laster vorbeischoss.
Auf dem Bürgersteig angekommen ergriff Konrad die Leine des Hündchens und setzte ihn auf den Boden. Dann zog er ihn zu seiner Besitzerin hin und übergab ihr mit einem Lächeln die Leine.
„Bitte sehr, schöne Frau, das ist ja gerade noch einmal gut gegangen!“, sagte Konrad.
„Sie sind ein Schatz!“, sagte die Schöne und atmete tief ein und aus. „Wenn Sie nicht gewesen wären, wäre mein kleiner Piccolo nun tot. Kommen Sie her!“
Mit diesen Worten gab sie Piccolos Retter einen Kuss auf den Mund.
Im selben Moment aber erkannte sie ihren Mann, erinnerte sich an ihre gesamte Vergangenheit und begriff, was Professor Josefus ihr angetan hatte. Ihre Liebe zu Konrad entflammte erneut, und sie fiel ihm in die Arme und küsste ihn noch mehrmals. Endlich zog sie ihren Mann mit sich zurück zum Café, und die beiden setzten sich nun gemeinsam an einen Tisch.
Konrad, der glücklich war, dass Vera sich erinnerte, sorgte dafür, dass Piccolo nicht weglaufen konnte. Dann hörte er der Erzählung seiner Frau zu, die ihm von dem Psychiater und seinen Machenschaften sowie von ihrem neuen Mann berichtete.
Als Konrad dann die ganze Geschichte kannte, fragte er Vera, ob sie einen Weg wisse, wie man Josefus und seinen Kunden das Handwerk legen und die armen Frauen, die der Arzt in die Fremde verkauft habe, befreien könne. Er wollte nämlich die bösen Geschäfte des Tunichtguts endgültig stoppen und diesen nach Möglichkeit dafür zur Rechenschaft ziehen.
Vera überlegte eine Weile. Dann sagte sie zu ihrem wiedergefundenen Mann: „Komm mit! Alles, was wir brauchen, um zu tun, was du dir wünschst, finden wir im Haus von Bertrand, meinem kanadischen Käufer. Ich weiß, dass er bis zum Abend im Unternehmen sein wird, und so können wir ungestört in seinem Haus einen Weg suchen, Josefus und die Käufer der Frauen zu bestrafen.“
„Dann lass uns keine Zeit verlieren!“, sagte Konrad, zahlte und machte sich dann zusammen mit ihr auf den Weg zum Wohnhaus von Bertrand.
VI
Eine halbe Stunde später kamen Konrad und Vera im Haus von Bertrand an.
„Lass uns nach oben gehen!“, sagte Vera und zeigte auf die Treppe. „Oben ist Bertrands Arbeitszimmer, und wenn wir irgendwo im Haus etwas über seine Geschäfte mit Professor Josefus finden werden, dann dort.“
Konrad nickte, und Vera ging voran, nachdem sie Piccolo ins Wohnzimmer gebracht und die Tür geschlossen hatte. Oben angekommen zeigte Vera auf die zweite Tür an der linken Seite des Flurs.
„Dort hinein!“
Sie öffnete die entsprechende Tür, und Konrad sah einen großen Aktenschrank an der gegenüberliegenden Wand, davor einen Schreibtisch mit Stuhl, zwei kleine Sessel, ein Regal mit Büchern an der linken Wand und rechts unter dem Fenster ein Tischchen mit Gläsern und Getränken.
Auf dem Schreibtisch stand ein Computerbildschirm, davor lag eine Tastatur mit Maus, und der dazugehörige Computer war unter dem Schreibtisch untergebracht.
„Weißt du sein Passwort?“, fragte Konrad und deutete auf den Bildschirm.
„Sein Geburtsdatum, der 7.11.95“, antwortete Vera.
Konrad fuhr den Computer hoch und schaute sich die Dateien an. Eine war mit Frauenkauf beschriftet. Als er sie öffnete, fand er darin alles über den Kauf von Vera auf den Darknetseiten von Professor Josefus.
Auch der Zugang zu den Seiten des Psychiaters war dort verzeichnet sowie dessen Nummer eines Kontos in der schweizerischen Stadt Bern. Konrad schaute sich längere Zeit auf den Seiten des Arztes in Darknet um und entdeckte darauf einen Hinweis auf sein Wanderhaus und einen Link zu einem Text darüber.
Er las diesen Text sehr aufmerksam und verließ dann das Darknet und fuhr den Computer herunter. Dann erzählte er Vera, was er dort erfahren hatte.
„Der Professor lebt und arbeitet – wie du weißt – in einem Wanderhaus. Immer dann, wenn eine Patientin zu ihm kommt, die jung und hübsch genug ist, stiehlt er ihr mit einem magischen Tonband ihre Vergangenheit und pflanzt ihr mit der Hilfe von Zauberpapier eine neue ein. Schließlich schießt er Fotos von ihr für seinen Katalog und verkauft sie an den meistbietenden Mann. Auch das weißt du alles schon. Nach jedem Verkauf einer Frau an einen Kunden wandert das Haus und taucht in einer anderen Stadt wieder auf. Die Geschichte des Wanderhauses und seines Besitzers aber ist im Wanderbuch verzeichnet. Dieses Wanderbuch befindet sich in der größten Bibliothek der Stadt Bern.“
„Das ist mir neu, Konrad“, sagte Vera. „Aber was nützt es uns, dies alles zu wissen?“
„Das will ich dir sagen“, erwiderte ihr Mann. „Wenn jemand das Wanderbuch liest, stirbt der Herr des Wanderhauses, und alle Frauen, die er noch gefangen hält oder bereits verkauft hat, sind im selben Moment frei.“
„Aber die Sache hat einen Haken“, vermutete Vera, als die Konrad skeptische Miene sah.
„Hat sie! Derjenige, der das Wanderbuch liest, stirbt ebenfalls im selben Augenblick, in dem er das Buch ausgelesen hat, zumindest dann, wenn er ein ganz normaler Mensch ist. Er gibt also quasi sein Leben dafür hin, dass er das Leben des Professors beendet und die gefangenen und verkauften Frauen rettet. Aber ich habe da so eine Idee, mein Schatz, wie wir trotzdem erreichen, was wir wollen.“
„Und die wäre?“, fragte Vera.
„Lass uns das Land verlassen und nach Bern fahren!“, forderte Konrad. „Wenn wir dort sind, sollst du erfahren, was ich plane.“
Die beiden verließen noch in derselben Stunde das Haus von Bertrand und flogen mit dem nächsten Flugzeug nach Bern.
VII
In Bern angekommen ließen sich Konrad und Vera mit dem Taxi zur größten Bibliothek der Stadt fahren. Dort suchten sie eine Weile nach dem Wanderbuch, ohne es zu finden. Vera kam dann auf die Idee, eine Angestellte des Hauses nach dem Buch zu fragen, was Konrad auch tat.
„Das Wanderbuch?“, fragte die junge Bibliothekarin. „Das ist das Buch, das Sie suchen?“
Konrad nickte.
„Warten Sie einen Augenblick! Ich will eben im Computer nachschauen. Ich glaube, ich habe schon einmal von diesem Titel gehört.“
Sie schaute eine Weile auf ihren Computerbildschirm und hantierte eifrig mit der Maus. Noch ein letzter Klick, dann nickte sie Konrad zu.
„Ich habe Ihr Buch gefunden. Es gibt davon nur ein einziges Exemplar, das im oberen Stockwerk steht. Ich hole es Ihnen herbei.“
Vera und Konrad warteten einen Moment, während die junge Frau mit dem Aufzug ins obere Stockwerk fuhr. Minuten später kam sie zurück und händigte Konrad ein dickes Buch aus, auf dessen Rücken in goldenen Lettern der Titel Das Wanderbuch eingraviert war.
„Können wir dieses Buch auch ausleihen?“, fragte Vera. „Ich meine, weil es nur dieses eine Exemplar gibt.“
„Sie können es für zwei Wochen mit nach Hause nehmen“, entgegnete die Bibliothekarin. „Aber Sie haften natürlich dafür, es unversehrt zurückzubringen.“
Sie hinterließen ihre Namen und die Nummern ihrer Pässe bei der jungen Frau und gaben ihr zudem Konrads E-Mail-Adresse. Dann verließen sie mit dem Buch die Bibliothek.
„Du wolltest mir erzählen, welchen Plan du hast“, sagte Vera zu Konrad, als sie draußen waren.
„Das will ich gern tun“, sagte dieser. „Hör zu! Mein Vater liegt in Hamburg, wo er lange gelebt hat, im Hospiz, denn es geht mit ihm zu Ende. Er hat Krebs im Endstadium und schlimme Schmerzen, obwohl sie ihm eine Menge starker Schmerzmittel verabreichen. Er hat, als ich das letzte Mal bei ihm war, geäußert, er hätte es lieber heute als morgen, dass es endlich vorbei sei. Dann müsse er nicht mehr leiden, und alle anderen könnten endlich Abschied von ihm nehmen.“
„Und ihn willst du das Wanderbuch lesen lassen“, vermutete Vera.
„So ist es“, gab Konrad zur Antwort. „Aber natürlich nur dann, wenn er das Risiko kennt, das das Lesen dieses Buches beinhaltet und wenn er trotzdem zustimmt.“
„Dann lass uns keine Zeit verlieren und sofort nach Hamburg fliegen!“, forderte Vera.
Konrad nickte und winkte nach einem Taxi, das sie zum Flughafen brachte. Wenige Stunden später waren sie in Hamburg.
VIII
Als sie im Hospiz angekommen waren, wo Konrads Vater noch immer tapfer mit seinen schlimmen Schmerzen kämpfte, bat Konrad seine Frau, vor dem Zimmer eine Weile auf ihn zu warten. Er wollte allein zu seinem Vater hineingehen und ihm sein Anliegen erläutern.
Vera tat ihm den Gefallen, und er betrat mit dem Wanderbuch in der Hand das Zimmer. Etwa eine halbe Stunde später kam er ohne das Buch wieder heraus und nickte Vera zu.
„Er wird es lesen“, sagte er dann und lächelte. „Er hat gesagt, eine bessere Gelegenheit bekommt er nicht, um zu sterben. Damit habe sein Tod sogar noch einen Sinn, was sich wohl jeder wünsche, wenn er sterben müsse.“
Vera nahm Konrads Hand, und sie setzten sich gemeinsam vor die Tür des Zimmers, in dem Konrads Vater lag. Es dauerte einige Stunden, bis eine Schwester kam, um nach ihm zu sehen. Konrad hatte natürlich niemandem außer Vera erzählt, was sein Vater zu tun gedachte und war nun sehr gespannt, was diesem widerfahren war.
Zwei Minuten später kam die Schwester strahlend aus dem Zimmer zurück, mit Konrads Vater im Schlepptau, der einen völlig gesunden Eindruck machte, ohne jedes Problem laufen konnte und freudig lächelte.
„Ich werde mich jetzt erst einmal von den Ärzten untersuchen lassen“, sagte er zu den beiden Wartenden. „Ich habe nämlich gar keine Schmerzen mehr und glaube, plötzlich gesund geworden zu sein. Dazu hat das Lesen deines Buches geführt, mein Junge. Es ist wie ein Wunder!“
Die Schwester bestätigte, dass es ihrem Patienten ganz plötzlich besser ging und brachte ihn zum Arzt des Hospizes, der in gründlich untersuchte. Dann diagnostizierte er eine komplette Heilung der Leiden von Konrads Vater und konnte ihn noch am selben Abend aus dem Hospiz entlassen, was bei der ganzen Familie des ehemals Todkranken große Freude hervorrief.
Konrad und Vera aber blieben noch einige Tage in Hamburg, brachten dann das Wanderbuch nach Bern zurück und fuhren schließlich nach Hause.
Dort wurde ihnen durch die Medien zugetragen, dass das Wanderhaus in Warschau eingestürzt und sein Besitzer, Professor Josefus, dabei umgekommen sei. In seinem Keller habe man gefangene Frauen gefunden, die den Einsturz überlebt hätten und nach Hause zurückgekehrt seien. Außerdem lasen die beiden Ehepartner in der Klatschpresse, dass eine Reihe von in den letzten Jahren geschlossenen Ehen reicher Männer aus aller Welt beendet wurden und die Ehefrauen dieser Männer zu ihren Ex-Partnern oder doch zumindest in ihr altes Leben zurückkehrten.