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Das Wartezimmer
Das Wartezimmer
Wissenschaftler haben herausgefunden, dass die Bewußtlosigkeit die Psyche vor traumatischen Erinnerung schützt. - Wieso bin ich dann heute im Wartezimmer nicht umgefallen?
Mein Wecker klingelte mindestens schon eine halbe Stunde. Die geliebte Snooze-Taste, die mir immer wieder den 5-minütigen Hoffnungsschlaf bescherrt, ist schon ziemlich abgenutzt. Ich öffnete ein Auge und erinnerte mich dunkel daran, dass ich heute zum Arzt gehen wollte.
Der Spiegel zeigte ein gequältes Gesicht. ‚Das bin ich nicht!’ dachte ich. Aber auch das kalte Wasser bestätigte den Spiegel. ‚Sie ist es, eindeutig!’ Ich nahm die Unbekannte mit vor die Tür und fuhr zum Arzt.
Das Wartezimmer war zu ¾ gefüllt. Glücklicher Weise hatte ich daran gedacht, der Unbekannten ein Buch einzupacken. Ich setzte mich in eine Ecke und hatte das ganze Wartezimmer im Überblick. Ausser einem jungen Mann und mir waren alle weit über 60 Jahre alt. Was mich anfangs nicht beunruhigte. In der Ecke richtete ich mich für eine längere Wartezeit ein. Es war sehr ruhig und ich nahm mein Buch in die Hand und las. Nach 10 Zeilen erkannten sich die Patienten im Wartezimmer.
„Ach Waltraud, wie geht’s dir?“
„Hach Helga, ich war doch letztens beim Arzt, aber ich hab keinen Zucker, das steht fest“
„Ja da fragt man sich doch was es dann ist?“
„Also Zucker ist es jedenfalls nicht, hatte ja auch keine eindeutigen Symptome dafür“
„Ein Glück Waltraud, aber da fragt man sich, was es dann ist“
„Also ich bin ja froh, dass es kein Zucker ist“
In diesem Moment haute ich mir selbst das Buch vor den Kopf.
Für ein paar Augenblicke war Ruhe. Ich dachte gerade daran weiter zu lesen, da fing Waltraud wieder an zu erzählen:
„Ward ihr gestern auch im Garten? War ja so schönes Wetter.“
„Ja, bei dem Wetter muss man ja raus in den Garten. Wie geht’s denn deinem Wolfgang?“
„Ach es geht, er sagt ja immer, den Garten und keinen anderen. Ein zweiter Garten kommt gar nicht in Frage. Ausserdem ist unser Garten ja schon 150 Jahre in der Familie.“
Helga nickte nur und fragte sich womöglich auch, ob das die Antwort auf ihre Frage war.
Sie ergriff das Wort: „Naja mein Herbert trinkt kein Bier mehr, seitdem er so dick geworden ist.“
Armer Herbert. Sie streichte ihm über seinen Bauch und machte somit ziemlich deutlich, was sie nicht an ihm mochte. Ich sah wie Herbert seine Stirn kräuselte und die Augenbrauen zusammenzog. Er musterte Helga von oben bis unten und stellte wohl gerade eine Liste zusammen, mit dem was ihm alles nicht an ihr gefiel. Aber anstatt sie zu sagen, schluckte er sie runter. Feigling!
Waltraud gab sofort kontra und antwortete: „Mein Wolfgang mäht ja am liebsten Rasen, da ist der glücklich“
Mir war auch sofort klar warum. Den Rasenmäher konnte man ausschalten.
Helga wußte anscheinend nicht, was sie darauf zurückgeben konnte und blieb still.
Meine Aufmerksamkeit richtete sich wieder auf mein Buch. 4 Zeilen später kam schon der nächste Patient. Der Mann war klein, sah etwas tolpatisch aus und lag auch über der Rente. Er wartete brav vor dem Schwesternzimmer, um sich anzumelden. Eine kleine, etwas untersetzte, ältere Dame mit fusseligen, grauen Haaren sass genau neben der Tür zum Schwesternzimmer. Sie sah zu dem Neuen hoch, der direkt vor ihr stand und blinzelte ihn an. Er hatte allerdings nur Augen für die zugesperrte Tür, auf der alte, hässliche Windowcolorblumen klebten. Die ältere Dame lehnte sich etwas weiter nach vorn, schaukelte ein wenig mit dem rechten Bein und wußte nicht so recht was sie mit ihren Händen anfangen sollte. Sie musterte ihn von oben bis unten, schien etwas sagen zu wollen, brachte aber keinen Ton raus, während sie immer noch mit ihren Händen verlegen nach einer grazilen Haltung suchte. Der Mann war ganz unbeeindruckt von der ihm entgegengebrachten Aufmerksamkeit und lies den Blick nicht von der Tür. Ein kleines Räuspern entkam der Frau und er zeigte immernoch keine Reaktion. Erst als sich die Tür öffnete bewegte er sich zum ersten Mal und das war Richtung Schwesternzimmer. Sie schaute ihm hinterher. In Gedanken, sah ich sie mit einem Taschentuch ihrem Jack, der gerade die sinkende Titanic verlies, hinterher winken. Die Tür fiel ins Schloss und die Frau lehnte sich wieder zurück.
Keiner sagte was. Man hörte immer nur das Scharren der Frau, die ihr rechtes Bein nicht still halten konnte. Ich dachte daran, wie oft mich meine Mutter als kleines Kind ermahnt hatte, wenn ich sowas tat. Aber ich hab es der Dame gegönnt, auch wenn ich es mir abgewöhnen musste. Der Türsteher kam wieder aus dem Schwesternzimmer zurück, suchte sich einen Platz und fand ihn. Die Nachbarin der Schwesternzimmertür beachtete ihn nicht, strafte ihn mit Ignoranz. Das Scharren hatte aufgehört. Ich wollte weiterlesen. 10 Zeilen später. Ein weiterer Kränkelnder betrat die gesellige Runde im Wartezimmer. Er trug seinen Bierbauch vor sich hier, hatte das Gesicht eines Schelms und auch schon den Lebensabend erreicht. Nach einem kurzen Blick in die Runde, setzte er sich auf einen freien Platz und fing sofort an zu erzählen. Er sprach einfach in den Raum und irgendeiner hat ihm geantwortet. In Gedanken sagte ich zu dem hageren Opa: „selbst schuld, jetzt sieh halt zu, wie du aus der Nummer rauskommst und uns vor dem Redeschwall rettest.“ Aber wie ich feststelle, wollte er uns gar nicht retten, im Gegenteil. Er hat die Seiten gewechselt und gehört nun zu der erzählenden Partei.
Ich wurde hellhörig, als es hiess: „Die Jugend weiß doch heute gar nicht mehr was Arbeiten ist. Wir sind früher aus der Schule gekommen und gleich raus aufs Feld.“
Was kann die Jugend dafür, dass es zu der Zeit weder Amnesty International noch die Playstation gab?
Es ging weiter: „Meinst du, ein junges Mädel weiß heutzutage noch, wie Kartoffelsuppe gekocht wird? Die wissen ja noch nicht mal mehr die Zutaten“
Stimmt, wie sieht eigentlich so eine Kartoffel aus? Mädels vergesst jedes Überlebens-Training, Kartoffelsuppe heißt der Schlüssel!
Ich schaute zu dem Einzigen der genauso jung zu sein schien wie ich. Wir grinsten beide. Er wetterte immer weiter auf die jungen Leute. Ich betrachtete lieber den Marienkäfer der sich gerade auf den Weg machte, Waltraud zu erobern. Ich wollte ihm schon zuflüstern: ‚Also Zucker hat sie jedenfalls nicht!’
Der Redefluss von Opa Wasserfall wurde immer wieder vom Opa Der-die-Seiten-wechselte unterbrochen. In kürzester Zeit waren alle alten Kriegsgeschichten ausgepackt, mit denen man Skat zu spielen schien. „Trumpf, mein Vater war nämlich in Kriegsgefangenschaft.“ „Sieger, denn mir haben die Soldaten Schokolade geschenkt.“ Als der Gewinner nach 3 weiteren Runden feststand, war erstmal Ruhe. Endlich, mein Buch wartete schon. Aber eine halbe Seite später kam ein Notfall zu Tür herein. Sie konnte kaum atmen. Jeder hörte sich das Stöhnen an. Ihr Vater, der sie begleitete, schien leicht desinteressiert. Mir tat sie leid. Jeder hat ihr gewünscht, sofort dran zu kommen und ich ihr noch viel mehr. Denn 1 Stunde in diesem Wartezimmer hätte sie nicht überlebt. Eine Seite später wurde sie aufgerufen. Opa Der-die-Seiten-wechselte fragte kurz darauf den Vater: „Sie kann schlecht atmen, oder?“
Der Vater nickte.
„Das ist eindeutig Rippenfellentzündung oder Lungenentzündung, die muss sofort ins Krankenhaus.“
Ob er auch weiß, wieso er noch beim Arzt sitzt, wenn doch Ferndiagnose plus Therapieanweisungen zu seinem Fachgebiet gehört?
„Das muss sofort behandelt werden, sonst wird’s gefährlich, ich wäre gleich mit ihr ins Krankenhaus gefahren.“ schob er noch hinterher.
Ich wartete darauf, dass er noch die Einweisung ausfüllen wollte mit genauer lateinischer Bezeichnung. Die fiel ihm aber anscheinend nicht ein. Ich hätte es ihm gern entgegengebrüllt
„PNEUMONITIS, Herr Doktor!“
Den Marienkäfer auf Waltraud hat es zwischenzeitlich erwischt, er musste wieder von unten anfangen. Armes Käferchen, aber dafür hat Waltraud keinen Zucker, das steht fest!
Man hörte dann ein leises Stöhnen. Es kaum aus Richtung 3 Uhr. Es blieb ruhig, niemand rührte sich. Ich nutzte die Gunst der Stunde und steckte meine Nase schnell ins Buch, las und hörte immer wieder das Stöhnen von rechts. Ich wurde unkonzentriert, klappte dann selbst stöhnend das Buch zu. Nun sagte das Stöhnen aus 3 Uhr: „Mir wird übel“. Eine Patientin sprang auf, klopfte an die Schwesternzimmertür, die sich sogleich öffnete. Oma Mir-ist-übel wurde reingeschleust und entkam somit dem Wartezimmer. Verflixt, die Oma hatte es raus! Mit Trick 17 dem Wartezimmer entkommen. Wieso ist mir das nicht eingefallen?
Opa Wasserfall sah seine Chance: „Also wenn es mir schlecht geht, nehm ich immer so graues Pulver. Das hat mir mal ein Chinese gegeben.“
Wieso bin ich noch nicht bewußtlos?
„Da ist nichts deutsches drin. Da ist so ein Drachen drauf und alles auf chinesisch.“
Los! Bitte jetzt, ich will umfallen!
„Das hilft wirklich!“
Keiner antwortete ihm. Keiner glaubte ihm auch nur ein Wort. Er malte die Geschichte weiter aus. „Der wollte 50 Mark dafür haben, da hab ich ihm gesagt, dann kann er es behalten, danach hat er es mir geschenkt.“
Wie dramatisch, es war eindeutig die chinesische Triade, die versucht hat, an Geld zu kommen und an ihm, dem harten Brocken, gescheitert ist.
Opa Der-die-Seiten-wechselte meldete sich wieder zu Wort: „ Weiß jemand was DDR heißt?“
Niemand reagierte. Er wartete noch 2 Zeilen, dann wollte er auflösen. „Na? ... der dämliche Rest.“ Er lachte los. Er lachte allein. Er verstummte kurz. Dann kam die nächste Frage: „Weiß jemand was BRD heißt? Na?“ Opa Wasserfall meldete sich: „Na Bundesrepublik Deutschland“. Der andere lachte ihn aus: „Neeeee“ er lachte und konnte kaum Luft holen: „Banditenregierung Deutschland“ Er lachte wieder laut los. Er lachte wieder allein. Er verstummte wieder. Er wurde aufgerufen. Ich atmete auf.
Der Stau im Sprechzimmer hatte sich aufgelöst. Der Marienkäfer wurde von Waltraud entdeckt und ausgesetzt. Das Wartezimmer leerte sich immer mehr und ich blieb bis zum Schluss und wartete auf meine Bewußtlosigkeit.