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Das Weltenfenster. Eine Anekdote

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26.04.2005
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Das Weltenfenster. Eine Anekdote

Unser Wissen um die andere, höhere Welt verabschiedet sich oft im Lauf der Kindheit, mit dem Beginn der Adoleszenz, und später erfordert es ungeahnte Mühen, sich ihre Tatsächlichkeit wieder vor Augen zu halten. Aber es gibt Fenster, durch welche wir Erwachsenen Blicke dorthin tun können und uns der Wirklichkeit des Gottes gleichsam post mortem zu versichern vermögen. Das sind angebliche Spinnereien, von der New-Age-Bewegung vereinnahmte und uns versauerte Dinge wie Hellsehen, Stimmen-Hören (dafür kann man sogar eingesperrt werden!), Telepathie, Liebe, Kenntnisse oder auch schlichter Fleiß. Nie hätte ich jedoch geglaubt, einst mitten im Heute, mitten in der Europäischen Union, zwischen all den ostentativ für so wichtig erklärten, aber in Wirklichkeit unechten und unzulänglichen Requisiten unserer leider ja so stark politisierten Welt plötzlich ein so buntes und lebensvolles Fenster ins Drüben vorzufinden, wie man es eigentlich nur in den phantastischsten Märchen erwarten sollte. Jeder normal Gebildete würde als Erstes vermuten, dass mit meiner Wahrnehmung etwas nicht stimme oder mein mathematisches Verständnis getrübt sei. Und trotzdem musste ich mich vergewissern, dass ich nicht sponn. Es war im Dezember 2000. Ganz im Geheimen – nur bespitzelt von meinen Eltern, die glaubten, hierzu durch Geldgeschenke befugt zu sein – hatte ich schon große Beobachtungen angestellt, wohl wissend, dass ich dadurch meinen Weg in ein psychiatrisches Krankenhaus finden, weil man meine Forschungen für einen Angriff auf die Menschenwürde erklären und mich durch sie als gefährlich begreifen und attackieren würde, bis ich mich und andere dagegen verteidige. Meine Beobachtungen bestanden darin, dass sich das auf Raffael-Bildern Gesehene um mich herum, um die herrschaftliche Villa herum, in der man mir zu wohnen erlaubte, aber auch auf der anderen Seite des Tales kongenial wiederfand; kongenial insofern, als zum Beispiel eine Hütte, die, vom Meister gemalt, im Wiener Kunsthistorischen Museum auf einem Bilde gesehen werden konnte, plötzlich – es fiel mir wie Schuppen von den Augen – in unserem Garten stand, aber leicht umgewandelt, sie war etwas kleiner, jedoch genau den Charakter des von Raffael gemalten Schuppens besaß. Aber Raffaels Bild war schon viel älter als dieses Hüttchen. Er ist ja 1520 gestorben. Ich bemerkte die Wesensgleichheit unseres Gartens mit der "Madonna im Grünen", als ich am Morgen ein Beet umgrub. Die Trennungslinie zwischen Hellgrün und Gelblich-Weiß (mit einem Stich ins Graue), die auf dem Bilde hinter der Madonna auf dem Boden verläuft, entstand, als die Morgensonne ein frisch gerodetes, noch von Tannennadeln braunes Stück Abhang hinter unserm Gartenzaun bestrich und das saftige Giftgrün auf meiner Seite des Zaunes, also fürs Auge darunter, noch im Schatten lag. Schon vorher (oder war es doch erst danach, durch mein Erlebnis angeregt?) hatte ich aber festgestellt, dass man die bewaldete Bergkante auf der Südseite des Wienflusses nur nach rechts herüberklappen musste, um sie wie ein Puzzle-Teil in Raffaels Meisterwerk einhängen zu können. Zwei gerodete Stücke in der blaugrünen Horizontlinie eher links von mir, die sich fürs Auge ausmachten wie breitere Zahnlücken, eins kürzer und eins länger, besaßen von Länge und Höhe her die gleichen Proportionen wie zwei stehengebliebene grünblaue Waldstücke auf dem Hügelzug rechts hinter der Madonna. Dies hatte mich gradezu fuchsteufelswild gemacht vor Freude. Ich schloss daraus, dass entweder Raffael hellsehen konnte oder eine höhere Macht um mich herum bewusst Hinweise auf die schönsten Werke der Weltmalerei in die vom Menschen mitgestaltete Natur eingebaut haben musste. Beides – so werden Sie einsehen – musste mich durch seine gegenseitige Tatsächlichkeit entweder im einen oder im andren mit einer Zufriedenheit erfüllen, die die denkbar tiefste war. Ich machte mir die Tatsache ganz bewusst, und Schauer durchliefen mich ob der plötzlichen Beseeltheit meiner ganz normalen Alltagswelt mit den geheimnisvollsten Botschaften gewissermaßen von der Weltregierung, die aber gleichzeitig auch eindeutig den Charakter der denkbar größten Zentralität mit sich herumtrugen; die Menschen in meinem Umkreis wurden dadurch mit einem Male zu Heiligen, und zwar nicht zu Heiligen der letzten Tage, sondern eher zu solchen der mittleren Tage. Sie werden verstehen, dass ein fünfzehnjähriges Mädchen in meiner Nähe besonders lebendig durch meine Vision schritt. Ich erkannte in diesem Moment in ihr eine geheime Verbündete. Und natürlich habe ich auch die Konsequenzen daraus gezogen. Aber nun lassen Sie sich erzählen, wie es kam, dass meine wissenschaftliche Neu-Entdeckung die Obrigkeit recht eigentlich zur Weißglut brachte. Ein paar Monate später – ich begann nach dem Erlebnis sofort, mein Englisch, insbesondere die Aussprache, so weit wie möglich auf Weltniveau heraufzuheben (denn ich konnte mir denken, dass ein Gott nicht so verschwenderisch sein würde, Dinge, wie er sie mir zu sehen vergönnt hatte, nicht auch weltpolitisch einzusetzen) – rief man mich zu einer Familie in Tschechien, in der es zwei Kinder gab, eines (das Mädchen) elf, eines (der Bub) neun Jahre alt. Prompt stellte sich Folgendes heraus. Und was glauben Sie, in was für einen inneren Widerstreit ich dadurch kam. Natürlich verlor ich keine Zeit, die Kinder möglichst lebhaft zu unterhalten, bin ich doch halber Pädagoge. Ich schaute mir mit dem Mädchen ein Kunstbuch an, das ich bei Dunkelheit in einem verstaubten Regal auf dem Dachboden fand. Kaum hatte ich Raffaels "Schule von Athen" aufgeschlagen, also das große Fresko im Vatikan, auf dem man die wichtigsten griechischen Philosophen durch einen majestätischen Bau schreiten und darin sich unterhalten sieht, ging`s von Neuem los. Zdenkas Mutter hatte hinter dem Tisch, auf dem das Buch lag, einen Berg von Stofffetzen aufgetürmt, aus denen sie Marionetten machen wollte. Die Farben und Formen der Stofffetzen stimmten mit denen überein, die die Philosophen trugen. Ich wies die Kleine darauf hin, und sie erkannte es. Ich fragte immer wieder nach, ob sie`s kapiert (mein Tschechisch reichte dazu aus), und sie versicherte mich dessen – versicherte mich dessen mit der größten Lebhaftigkeit, Eindringlichkeit und Begeisterung, die ich jemals an einem Mädchen erlebt hab. Noch ein halbes Jahr danach, als ich in Berlin war, raunte sie mir mit der größten Glaubenstreue, die sie aufbringen konnte, durchs Telefon zu, dass sie sich sehr wohl eingeprägt hatte, was für ein Wunder wir damals gemeinsam erlebten. Nun wusste ich bei jedem einzelnen Kleidungsstück eines griechischen Philosophen, das sich zusammen mit den es umgebenden anderen in der genau gleichen Zusammenstellung im Stoffhaufen wiederfand und auf dass ich Zdenka hinwies, dass mir die anderen Erwachsenen deshalb unendliche Vorwürfe machen würden. Aber da mir selbst die ungleich größere Bedeutung des Fakts bewusst war, betrog ich Zdenka nicht um ein einziges Detail dessen, was ich feststellen musste. Wen wird es wundern, dass ihr Vater uns unwillig unterbrach? Bestimmt niemanden. Meine Mitmenschen haben mich daraufhin, was ja eben auch kaum jemanden wundern wird, in eine Nervenklinik manövriert. Mit Zdenka aber bin ich zeither im besten Einvernehmen geblieben. Ich kommuniziere gelegentlich mit ihr weiter, und dabei lachen wir uns mittlerweile schon eher nicht mehr nur gewöhnlich ins Fäustchen, sondern viel mehr – um es mit dem wirklich treffenden Wort zu sagen – in die Faust.

 

Hi Hans,
ich finde, das ist die beste Geschichte, die ich von dir gelesen habe (von drei ...)
Es gibt eigentlich nur zwei Sachen, die mich stören:
"eines(das Mädchen) elf, eines (der Bub) neun Jahre alt"; wäre nicht: das Mädchen war elf und der Bub neun Jahre alt? Oder: eines, das Mädchen, war elf, das andere, der Bub, war neun? na ja, irgendsowas halt.
"versicherte mich dessen - versicherte mich dessen mit der größten Lebhafitgkeit"
Ich glaube nicht - bin mir aber nicht ganz sicher - ,dass man sagen kann, versicherte mich dessen, ich glaube, es muss 'mir' heißen.
Also, wenn du wieder schreibst, dann bitte wieder sowas wie diese Geschichte hier.
Nicht nur, dass sie flüssig geschrieben ist und sich gut liest, nein, sie ist auch von höherer Moral.
Tserk

 

seltsam ...

:read:
Diese Geschichte ist mir bekannt. Las sie bereits vor längerer Zeit. Die Einleitung war etwas anders.

Verflixt und zugenäht, aufgetrennt oder gestopft - gewollt oder unerwünscht - gesittet oder geächtet - lieblich oder sauer ...!!!
<grübel, grinse, griffle> ... Immer diese Zufälle? Sind es die Ausreden, Einreden, Zureden?

<purzelnd>
:cool:

Chaotische Grüße
Strubbel

 

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