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Das Windspiel
Von hier aus gibt es kein Zurück.
»Das kann nicht dein Ernst sein«, schreie ich sie an. Meine Hände versuchen das Unbegreifliche in Worte zu fassen. Ganz schwach weht der Geruch des Meeres den Hang hinauf. Er kitzelt mir in der Nase. Die Umgebung döst im brackigen Wind. Stille herrscht nun auch bei uns am Tisch. Nur um uns drängen sich Menschen, schubsen, und balancieren Tabletts mit Kaffee und Kuchen, Cola und Pommes, Milch und Zucker an ihre Plätze. Wie Wellen streifen sie unseren Felsen der Ruhe, und runden ihn ab. In der Menschenmenge gehen wir unter. Hier erkennt uns niemand.
Ich lehne mich nach vorne, möchte noch mehr in ihre Augen sehen – Juana vergräbt dort ihre Geheimnisse. Das schweißnasse T-Shirt löst sich von meinem Rücken, und eine angenehme, kühle Brise rutscht meinen Nacken hinab. Ihre Arme ruhen auf dem Tisch. Die Narben der hellen Haut verhindern das Verschmelzen mit dem weißen Untergrund. Das Kinn stützt sie auf dem Handballen, und den blassroten Mund versteckt sie hinter ihren Fingerrücken. Juanas Blick strömt links und rechts an mir vorbei, wie eine Woge, die sich am Felsen bricht und schäumend wieder zusammenschießt. Sie schaut ungerührt auf die Brandung hinaus, greift mit jedem Lidschlag nach den Wellen. Seit Stunden ebbt der Glanz ihrer Augen nicht ab. Verschlossen und kühl scheinen sie für alle diejenigen, die Juana nicht verstehen können. Doch selbst ich kann in ihnen nicht mehr entdecken, als ihr dunkles Leuchten. Die Sonne brennt mir die Silhouette ihres Gesichtes in die Netzhaut. Ich muss blinzeln. Vor Schönheit.
»Du bist also seekrank«, murmele ich, und lasse verlegen meinen Blick über die Schulter auf den Boden fallen. Bunte Farbflecke kämpfen in mir gegen den grauen Beton an. Betrübt rutsche ich an die rostfleckige Lehne zurück. Der Kopf folgt schon bald meinem Oberkörper, und legt sich weit in den Nacken. Provokant verschränke ich meine Arme dahinter; ein paar Haare ragen unter den Ärmeln hervor.
»Und was jetzt?«
Unter halb geöffneten Lidern sehe ich Juana vorwurfsvoll an. Mein scharfer Blick verkommt zu einem harmlosen Lächeln, als ein jäher Luftzug ihr die Haare vor das Gesicht weht. Die starre Kälte ihrer Pupillen schmilzt dahin, und sickert durch ihre Wimpern. Jetzt erst finde ich mich in ihren wundersamen Augen wieder. Sie schimmern in einem milden Grün.
Juana lässt sich Zeit. Sie legt die Arme dicht an ihren Körper.
Dann flüstert sie: »Das Meer … niemals hätte ich es mir schöner vorgestellt. Ich möchte hier bleiben.«
Von weitem erklingt ein Windspiel. Es hängt unscheinbar vor dem Fenster des Restaurants. Der Wind fährt ab und zu durch die Seidenfäden, und stößt sie lustig an. Smaragdfarbene Steine flackern aufgeregt im Sonnenlicht, spielen mit ihm Katz und Maus. Das Salz der Meeresluft hat sich erst vor kurzem auf dem Ring aus geflochtenen Bastfasern abgesetzt. Es blendet den Betrachter, wenn die Sonne scheint.
Der eindringliche Klang beunruhigt mich. Der Wind bläst immer stärker. Aus Nordosten. Er holt uns ein.
»Das geht nicht. So werden sie uns ganz bestimmt finden«, versuche ich ihr klar zu machen.
»Der einzige Weg führt mit einem Boot über das Wasser. Sobald wir drüben angelangt sind, haben wir nichts mehr zu befürchten.« Ich klinge wenig überzeugend. Ihr zögerlicher Blick, ein Wenden des Kopfes verrät es mir. Gebannt sieht sie wieder den Wellen hinterher. Der Meerschaum blitzt in ihren Augen auf, und lässt sie weiß gefrieren. Ohne ein weiteres Wort zu verlieren, stehe ich auf.
Meine ungelenken Schritte führen mich zum Windspiel. Ich betrachte mich im Fensterglas. Unweigerlich muss ich an damals denken. – Erinnerungen sind wie Glas. Sie zerbrechen, wenn man es am wenigsten möchte; und will man sie loswerden, begegnen sie einem in ständig neuen Formen wieder.
Ich hatte Juanas Anblick einfach nicht mehr ertragen können. Vom äußeren Anschein längst tot, schrie ihr Inneres danach, zu leben. Eingesperrt und misshandelt wurden wir alle. Aber nur ich konnte ihre Verzweifelung nachempfinden. Ich entschloss mich, mit ihr zu fliehen. Seit dem Ausbruch verfolgen sie uns. Wir mussten untertauchen. Im Zugabteil erfuhr ich von ihrem Traum, einmal das Meer sehen zu wollen. Er allein hielt sie am Leben, gestand mir Juana unter Tränen. Nun hat sie ihn sich erfüllt – und schenkt mir keine Beachtung mehr. Es dürfte nur noch eine Frage von Stunden sein, bis sie uns hier finden.
Ich blicke genauer in den sonderbaren Spiegel. Geschwollen treten neben der Nase meine Augen ans viel zu helle Tageslicht. Mit einer flüchtigen Handbewegung streiche ich das magere Haar über die nackten Stellen meiner Kopfhaut. Niemand darf meine Wunden sehen. Niemand darf Fragen stellen.
Ich halte das Windspiel fest in der Hand, und spüre, wie seine unbändige Bewegung durch meinen gesamten Körper zuckt. Der Wind ärgert sich, und weht aufdringlicher. Er will sein Spielzeug zurück haben.
Juana sitzt immer noch, die Beine übereinander geschlagen, und sucht nach der versunkenen Brücke zum Horizont. Die Zeit rauscht in Böen an ihr vorbei. Um sie herum: Stille. Sie hält Juana in ihren schützenden Armen, lässt sie die Vergangenheit vergessen, die Gegenwart genießen, und auf die Zukunft hoffen. Warum bin ich ihr auch böse? Sie hatte es nie leicht im Leben. Prügelnde Eltern, Drogen und Straßenstrich waren der Kanon ihrer jungen Jahre. Er wiederholte sich jeden Tag. Als ich sie kennen lernte, musste sie oft in den Aufseher-Quartieren die Nacht verbringen. Sie sprach tagelang kein Wort mehr. Einmal kam der Arzt in ihr Zimmer, und untersuchte sie. Daraufhin sollte ich das Bad reinigen gehen. Das Wischwasser färbte sich Blutrot. Seitdem rede ich mit ihr über alles, was sie bewegt. Ich möchte Juana Zeit geben, ihr helfen, den eigenen Schmerz zu überwinden. Aber nicht hier, nicht jetzt.
Langsam lasse ich das Windspiel wieder baumeln, und genieße mit den Fingerspitzen die letzten Berührungen. Verächtlich will sich der Wind an ihm rächen, und bläht sich auf. Die Fäden stöhnen unter seiner Last, und drohen zu zerreißen. Geschirr und Dünensand wirbeln durch die Luft. Die Restaurantbesucher, Zaungäste unserer Beharrlichkeit, laufen, versperren sich den Weg, stolpern, fallen übereinander, und wissen nicht wohin. Kinder bellen. Hunde schreien. Der Sturm ist ein verspieltes Kind. Es macht ihm Spaß, die Gegend wie einen Ball umher zu schleudern. Mir zerrt er an den Beinen, und lässt mich reglos verharren.
In dem Tumult erhebt sich Juana von ihrem Platz. Sie zieht den Kragen ihrer Jacke tief ins Gesicht. Die Augen drängen sich in die runzelige Stirn. Sie blicken furchtbar. Unbehelligt vom ängstlichen Schauspiel der Menge geht sie auf das Kliff zu, das über der Brandung emporragt. Sie wirkt entschlossen – zu was? Meine Rufe erreichen ihre Ohren nicht. Sie prallen unentwegt gegen die unsichtbare Wand aus Luft, wie gestrandeter Meerschaum, der vergebens hofft, von der nächsten Welle aufgenommen zu werden, um nicht im Sand zu vergehen. Ein schmaler Zaun, hüfthoch, gezimmert aus hellen Birkenholzbrettern, stellt sich Juana in den Weg. Sie schwingt sich hinüber. Wenige Meter vor dem Rand der Klippe steht sie hochaufgerichtet da, schließt die Augen. Das Rauschen der Wellen lockt sie näher heran. Wassertropfen verfangen sich in ihren Haaren; mit nassen Händen greift der Meereswind nach ihr. Die Möwen flattern heftig, um nicht vom Wind davongeweht zu werden. Da reißt das Windspiel vom Fenster ab, und fällt ins Wasser. Eine ohrenbetäubende Melodie entführt es mit sich in die Tiefe. In den unzähligen Falten und Rissen des Granits hallt sie lange nach - das Windspiel dagegen hat das Meer längst verschluckt. Juana schlägt die Augen wieder auf. Der Sturm hält den Atem an. Ein Fußbreit trennt sie noch vom Abgrund. Die Wellen sinken nieder, sie aufzufangen, wie ein weiches Kissen. Nur kurz sieht sie nach unten. Aus dem Haar, das Juana feuchtschwer an den Wangen klebt, tropft Wasser. Der steil aufkommende Küstenwind bremst seinen Fall, und schmettert es gegen den kreidweißen Felsen. Mit den Füßen krallt sie sich am holprigen Boden fest. Juana schwankt im kalten Wind hin und her. Er zerfetzt die Schmetterlingsflügel ihrer Seele.
In großer Entfernung, am anderen Ende der Klippe, stehe ich wie angewurzelt da. Verschreckt leuchten mir ihre rehgrünen Augen entgegen, geduckt und bereit, jeden Moment in einen entsetzlichen Sprung davonzujagen. Ich möchte zu ihr gehen, sie in die Arme nehmen, und sie vor Unüberlegten bewahren. Im Augenblick aber bin ich nutzlos und gefährlich, wie eine stumpfe Schere.
Der Wind seufzt leise. Sein aufgedunsenes Gesicht geistert durch die Luft, auf der Suche nach einem neuen Spielzeug. Es verströmt einen modrigen, salzigen Geruch. Juana wendet sich von mir ab, und lässt sich auf die Knie fallen. Ihr feines, verworrenes Haar wälzt sich, glänzend wie eine Lawine, den gekrümmten Rücken hinab. Sie sucht Halt, und vergräbt die Hände in der steinigen Erde. Sie weint bitterlich. Ich renne zu Juana, und knie neben ihr nieder. Sie zittert am ganzen Körper. Ich schließe ihren Kopf in meine Arme.
»Juana, hör' auf zu weinen! Ich bin doch bei dir. Warum bloß machst du mir solche Angst?« Meine lindernden Worte tropfen in ihre Augen, und rinnen in noch mehr Tränen heraus. Ein tiefes Schluchzen folgt ihnen nach.
»Ich wollte springen. Für einen Moment wollte ich wirklich springen.« Sie beißt sich die Lippen auf. In ihren Tränen, die ihr über das Kinn rollen, schwimmt Blut. Sie straft sich selbst für ihre Unentschlossenheit.
»Aber warum nur?«
»Siehst du denn nicht?« Sie streckt den Kopf zur Brandung aus. Am Himmel schieben sich zersprengte Wolken dem Sonnenuntergang mühsam entgegen. Sie drängeln, stoßen zusammen, und verletzen sich. Nach und nach verlieren sie sich in einem bedrohlichen Rot, das blutend aus ihrer Mitte hervorbricht.
»Alles wirkt so klein und lächerlich von hier oben. Die elende Welt mit ihren ganzen Problemen. Aber dort unten liegt das Meer. Es nimmt dich auf, egal wer du bist, woher du kommst, und was du durchgemacht hast. Es schwimmt mit dir, und es verzeiht. Am Boden weht dir der Wind ständig ins Gesicht. Hier wirst du herumgeschubst, mit Füßen getreten, und verachtet.«
Juana wischt sie die Tränen aus dem Gesicht. Ungewöhnlich klar scheinen ihre Augen. Es ist, als schaue ich weit in die Tiefen eines Bergsees. Nur am Grund hält sich eine dunkeltrübe Schicht aus Sand und Rückständen, die sich bei Unwetter ablöst, und von Zeit zu Zeit an die Oberfläche gelangt. Augenblicklich strahlt der See silbern in völliger Ruhe.
Ich lege meinen Arm um ihren Hals, und entgegne Juana mit sanfter Stimme:
»Ehrlich gesagt, finde ich das Leben hier oben gar nicht so schlecht. Denn die Luft ist ein noch viel größeres Meer. In ihr treibt der Wind die Wellen. Der Meerschaum strandet im tiefen Blau des Himmels, und reift zu herrlichen Wolken heran. Im Meer entdeckt man Schiffwracks und Truhen voller Kostbarkeiten. Hier aber findet man die wahren Schätze. Wie die Liebe.« – Ich küsse sie.
Die Nacht bricht über uns herein. Der Wind ruht. Das Meer liegt bewegungslos und blendend da. Am blassen Strand hocken vereinzelt Möwen auf den grünen und schwarzen Felsen, warten auf die Flut. Eine von ihnen hat im feuchten Sand das Windspiel gefunden. Die weißen Segel der verlassenen Boote fangen das schimmernde Mondlicht ein, und nehmen Fahrt auf. Juana schläft in geistiger und körperlicher Umarmung neben mir, und gemeinsam genießen wir den Moment der Stille. Etwas schleicht sich von hinten an uns heran. Ich bemerke es zuerst. Geräusche, zu laut, für abendlich Spazieren gehende Liebespaare, Lichter, zu hell, um etwas Gutes zu bedeuten. Der Schein einer Taschenlampe fällt auf mein Gesicht. Geblendet reibe ich mir die Augen.