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Serie Das Zeitermessen

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16.11.2014
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Das Zeitermessen

Update: Ich bin raus in die Welt geflogen, um meinen Traum vom Schreiben zu verwirklichen. Gelandet bin ich in München. München ist leider nicht für seine Texter bekannt. Mein Name ist Freddy, ich bin 25 Jahre alt. Und das, was vom Schreiben übrig geblieben ist, landet mittlerweile regelmäßig in irgendwelchen Werbeanzeigen – vom Besonderen sehen bis speziell fürs Frühstück entwickelt. Der Gedanke, die Welt zu verändern, auf den Kopf zu stellen, Menschen zu berühren, fließt nur noch gelegentlich durch meinen Körper. Damit es ihn daran erinnert, weshalb er sich Morgens hoch bequemen soll.

Mein Job hat nicht mehr viel mit dem goldenen Zeitalter der Sehnsuchtserfüller von Annodazumal gemein. Vielmehr ist es ein chaotisches Sammelsurium an Netz-Streamern – immer auf der Suche nach dem goldenen Kreativschuss. Einmal auf der Bühne der Eitelkeit stehen, sich bejubeln lassen für unkonventionelles Denken. Eine reihe von abgelegten Hüten sehen – das ist die Bezahlung, auf die wir noch warten. Mehr Reichtum ist unter den Mittelmäßigen nicht zu erwarten; in einer Dienstleistungsgesellschaft, die das Geld über das Denken und den damit verbundenen Werten gehoben hat.

Auch wenn mir vor Jahren bereits das Traumbläschen geplatzt ist, wundere ich mich doch immer mal wieder über so viel Nonsens. Nehme mir dann und wann auch die Zeit, ernsthaft darüber nachzudenken, wie man dieses Diktat durchbrechen und vielleicht doch reformieren könnte. Ja, der Revoluzzer in mir ist einfach nicht totzukriegen. Insgeheim danke ich ihm dafür, versteht er sich doch glänzend mit meinen Idealen – zusammen sind sie viele. Und irgendwann wird sich ihnen hoffentlich auch mein Mut anschließen – und die Werbeherrschaft an sich reißen. Dann heißt es Kampf den Zahldrehern, Logofanatikern, Produktanpreisern und Marktanschreiern. Jegliche Form der Argwohn gegenüber der Kreativität wird vernichtet. Auf den verkohlten Aschebergen werden neue Kulturen gesät. Die hätten genug Stoff zum Gedeihen.

Aber nein, da schmeiße ich nur einen Traum auf den anderen. Und einer ist bekloppter als der andere. Wahrscheinlich werde ich irgendwann aussteigen, weil ich sonst noch für den „White Jacket Rabbit Award“ in Betracht komme. Oder ich nur noch hektisch mit meinem Zeigefinger über die Lippen rattere. Oder ich noch Ironiker werde. Hmm, wobei das als In-Office-Nebenjob sehr lukrativ wäre, da man von seinen Groupies zehren kann, wenn der Scheißhaufen auf dem Schreibtisch einfach nicht verschwinden will. Zudem sind die Aufstiegschancen gigantisch. Bis zum Zynistiker könnte ich es bringen – und wäre dann die rechte Hand des Chefs, ein Dark Sidious. Der weiß, was die linke und rechte Hand tut, weil er sie selbst lenkt. Immerhin etwas, wenn‘s in der Werbung nicht so dufte läuft. Not macht irgendwie erfinderischer.

Die Arbeit mal abgezogen (9 Stunden (Arbeitszeit + Mittag) und das Ganze ohne Urlaub): Was steht mir eigentlich lebenstechnisch pro Jahr zur Verfügung? 6605,81277 Stunden. Wobei, wenn wir überdies von einem regelmäßigen Schlaf! – ausgehen, ungefähr noch eine Restwerzeit von 4253,81277 Stunden fürs Ausleben der eigenen, tief liegenden Bedürfnisse und Leidenschaften bleiben. Tja, was fängt man so mit 4253,81277 Stunden an? Was fange ich damit an?

Ich prokrastiniere für gewöhnlich. Alles und nichts kann mich von der einen auf die andere Sekunde ablenken. Da kann es gut passieren, dass der Abwasch einen Tag länger im Wasserbad verbringen darf, schrumpelt ja nicht. Ich finde, ich habe es mir verdient, mich von schönen Dingen ablenken zu lassen. Schließlich muss ich schon in der Arbeit wie am Fließband fokussiert sein und im Schlaf geht bekanntlich gar nichts mehr. Ich hinterfrage dabei garantiert nicht, ob es mir in jenem Augenblick nützt oder nicht. Warum auch? Zu viel Denken macht das Hirn ganz matchig. Zudem würde die eh schon sehr knapp bemessene Zeit verschwendet werden. Und das ohne ein einziges Ergebnis. Da wären wir dann auch schon beim ersten Punkt auf meiner Abschaff-Liste: das Ergebnis.

Alles muss zu einem Ergebnis führen. Alles muss einem Sinn unterworfen sein. Jegliches Handeln ist nur dann gerechtfertigt, wenn es einem Ziel dienlich ist. Was jedoch im Hintergrund abläuft, schleicht sich nur sehr wage in unser Bewusstsein. Die Symptome treten als Finger Food Portionen auf. Vergleichbar wie in diesen Gourmet-Schuppen – unmöglich da mit einem Fresskoma rauszukommen. Das wäre aber angebracht, weil eben nur körperlicher Schmerz uns zur Einsicht bringt, besser auf uns Acht zu geben. Denn wir glauben viel zu oft, unkaputtbar zu sein.

Nein, wir leiden keine Schmerzen, nur an Kopfzerbrechen, Entscheidungszwängen – immer währendes Abwägen zugunsten eines effizienten und optimierten Ergebnisses. Nebenwirkungen sind nicht nur nicht auszuschließen, sondern die Pusher, um sich endgültig ans Hamsterrad ketten zu lassen. Druck baut sich auf. Wir laufen noch schneller im Hamsterrad und bewegen nur eins weiter: Das Ziel in die Ferne. Adieu, mon amour! – bis sie irgendwann mehr Fatamorgana ist als Wunschgedanke.
Dann ist der Zeitpunkt gekommen: nichts funktioniert mehr. Der Antrieb bleibt aus. Wir sind schließlich keine Duracell-Bunnys. Statt vorwärts, kriecht man nur noch Achten im Kreis, gepeitscht von täglich neu einprasselnden Wahlmöglichkeiten, begleitet von erneuten Entscheidungen. Vom Ergebnis ist man jedoch weiter weg, als der Anfänger auf dem Gipfel des Mount Everest.
Wenn das Bewusstsein dann doch die Notbremse zieht – Applaus! – ist aber noch längst nicht der entscheidende Fortschritt getan.
Problem und Verdrängung machen High-Five: Denn man versucht, den Scheideweg zu umgehen und so die Gedanken zu befreien, damit man wieder klar sehen kann. Und hofft, dass sich alles einfach von alleine regelt. So irgendwie jedenfalls. Wird schon. Lieber halbgar als richtig durch und verschrumpelt-zäh. Am Ende ist noch alles gut gegangen.

Kennen Sie zufällig diese Sprüche? Ist Ihnen auch schon aufgefallen, dass diese zur Kategorie der „Nicht-hin-hören-Phrasen“ gehören? Nein? Komisch. Denn bekanntlich hat sich noch nie etwas von allein geregelt und ist auch noch nichts gut gegangen. Das Leben haut einem nicht liebevoll auf den Popo und sagt „Los Mädel, jetzt reiß‘n wa's!“ So lange man nicht selbst den Arsch unter die Limbostange durch kriegt, wird auch nichts passieren.

Ich liebe Erkenntnisse. Es ist wirklich schön, wenn man den Durchbruch schafft, ohne mit dem Kopf durch die Wand gedonnert zu sein, und Licht am Ende des Tunnels sieht. In diesen Momenten ist alles klar und man hat das Gefühl, über den Dingen zu schweben. Blöd ist allerdings, wenn man den Weg noch vor sich hat – seit Monaten. Dabei immer wieder ansetzt, doch endlich mal den einen Fuß vor den anderen zu schieben. Schlurfen würde für den Anfang ja reichen. Mental ist man eh schon den Marathon gelaufen.
Im Alltag dümpelt man dann doch noch auf der Couch rum. Bewegt nach einem harten Arbeitstag leicht die Beine, um den Anschein von Sport zu demonstrieren. Führt die Schokolade wie eine schwere Hantel zum Mund, jede Bewegung wird zur Schwerstarbeit. Und das die Schokolade im Mund verschwindet, ist nur die Belohnung fürs Durchhalten. Sie merken wahrscheinlich an dieser Stelle: Der Teufelskreis hat nicht nur einen Kreis.
Da ich noch nicht bis zur Lösung durchgedrungen bin, rede ich weiterhin von Problemen, und das nächste ist in meinem Fall: Ich bin nicht einfach, aber auch nicht kompliziert. Dennoch würde ich in meiner Eigenwahrnehmung behaupten: Ich bin einfach kompliziert. Seit neuestem glaube ich sogar, dass ich auf der Spleen-Skala noch viel Luft nach oben habe. Wortfindungsstörungen sind wahrscheinlich nur der Anfang. Dazu kommt noch eine konsequente Inkonsequenz. Also noch mehr Kreise, die es zu überwinden gilt.
Dennoch erscheint es mir nicht sonderlich verwunderlich, wird es mir doch von meiner Umwelt so vorgelebt: Normal ist langweilig – anders sein das neue Abenteuer. Ein Rucksack ist eben spannender, wenn er mit allerhand Kram von unterwegs gefüllt ist. Bekanntlich ist es auch leichter, dem Trend zu folgen, als sich an Orginalität heranzuwagen. Die wird nämlich argwöhnisch beäugt, belächelt und zumeist einfach stehen gelassen. Oder gar rausgeworfen – Hausverbot! – man könnte sich anstecken. Wobei diese Ablehnung irgendwie komisch ist. Denn man würde sich ja zwangsläufig vom Trend anstecken lassen. Und wäre mitten drin in der Welle des Hypes. Und dann gleich vorweg schwimmen, erster sein.

Zum Glück geht es in diesem Fall zum ersten Mal nicht um‘s Haben wollen. Diese Entscheidung wird einem vom Hype abgenommen. Nein, hier geht es um die Grundfeste des Sein. Die Nummer, die man dabei am Eingang erhält, signalisiert automatisch den eigenen Status – je mehr Stellen nach der ersten Ziffer, desto größer das Ansehen, der Besitz und die angehäuften Reichtümer. Du bist, was du hast. Und wer sein, will schließlich jeder. Wir können den Kreis schließen, indem wir sagen: Irgendwie müssen wir sein. Und um gut zu sein, brauchen wir eine hübsche Wohnung, eine große und angesagte Auswahl an Klamotten, einen schnellen, universellen, dauerhaften Zugang zur Welt (Devicemania) und genügend Kohle für die Wünsche, über die wir sonst noch so stolpern. Nennen wir es moderne Sklaverei. Es ist ein perfides Meisterstück: Es kommt uns nicht so vor, denn wir machen nichts, was wir nicht wollen. Trotzdem machen alle freiwillig mit. Gezwungenermaßen.
Und da ich weder einer selbstauferlegten Zensur noch einer Dauerisolation zum Opfer fallen möchte, hechte ich in die Fluten. Freiwillig, sogar mit einem Lächeln. Hipp, hipp, ahoi! Von einem Kreis zum nächsten und von dort aus dann in den großen Kreislauf – alles bedingt schließlich einander. Da kommen wir wohl nicht mehr lebend raus.

„Miss Marple, what shall I do as a drunken sailor? Wahling gibt‘s schon und Limbo tanzen ist out. Das sind so unendlich viele Knoten im Knäuel ... Verdammt, wo soll ich da nur anfangen?“ Freddy ging fließend vom Gedankenwirrwarr in den Mitteilungsmodus über.
Dabei achtete sie nicht darauf, wer gerade in der ersten Reihe Platz genommen hatte. Doch wusste sie, dass zumindest eine immer da sein würde – Miss Marple, ihr Ladakh-Zwerghamster. Diese Gattung trug normalerweise eine graugelbbraune Fellfärbung. Miss Marple hingegen besaß ein goldbraun schimmerndes Fell und statt eines farblichen Mischmaschs, nur ein komplett kackbraunes Stummelschwänzchen. Jedoch war farblich gesehen nichts auf ihren Charakter zu schließen. Freddy hatte es mit einem Vollzeitpunk der unsterblich alten Schule zu tun. Und Punk dient Ihnen nur zur Übersetzung für „Ich mache, was ich will, weil ich es will und ich es darf und daher kann“. Dies tat Miss Marple dann auch in aller demonstrativer Regelmäßigkeit kund. In cineastischen Größenordungen – perfekt inszeniert mit einem überragenden Gespür fürs Timing. Doch war es der Cutness-Faktor, der Freddy letztlich davon abhielt, Miss Marple als Hühnchenersatz herzunehmen.

Davon mal abgesehen fühlte sich Freddy nach einer Miss Marple Aktion immer wie geblitztdingst und sie fragte sich, wie Miss Marple dieses Kunststück wohl fertig brachte.

 
Zuletzt bearbeitet:

Servus Freddy Lewis, willkommen hier.
Ich hab eine gute und eine schlechte Nachricht für dich. Welche willst du zuerst hören?
Okay, vergiss es, ich bin eh schon wieder ernst.
Also: Ich habe den Text zu lesen begonnen, weil mir dein Stil sehr sicher und souverän erschien, stellenweise auch herrlich pointiert, also wirklich angenehm zu lesen.
Trotzdem (ja, jetzt wird’s vermutlich schmerzhaft für dich) wurde schon nach wenigen Absätzen aus meinem Lesen immer mehr ein leidenschaftsloses Überfliegen. Und nach ca. drei Viertel bin ich dann überhaupt ausgestiegen.
Warum? Na ja, weil mir der Text einfach keine Geschichte erzählt, weil er mir nichts bietet, was ich mir von einer Geschichte erwarte. Weder eine interessante Figurenkonstellation, noch irgendeine Art von Handlung, nichts, was mich erreicht und berührt.
Für mich ist das im Grunde ein klassisches Beispiel für einen Blogeintrag. Der Ich-Erzähler scheint mir nicht eine fiktive Figur zu sein, sondern vielmehr der Autor selbst, der mir hier seine Befindlichkeit und Weltsicht darlegt. Wogegen grundsätzlich ja nichts spricht, nur leider sind die Gedanken des Erzählers auch nicht gerade von hirnwegsprengender Originalität. Ich will nicht so weit gehen, sie als Plattitüden zu bezeichnen, aber ehrlich gesagt, weit entfernt davon sind sie nicht. Mir wird hier einfach nichts Neues erzählt, nichts Niegehörtes. Eigentlich ist das nicht viel mehr als ein Räsonieren über Binsenweisheiten.

Das klingt jetzt wohl ziemlich hart und gnadenlos, Freddy, allerdings musst du einräumen, dass wir hier in einem Kurzgeschichtenforum sind. Und auch wenn ich den Begriff Kurzgeschichte sehr weit fasse, das hier ist keine für mich.
Sprachlich bist du für mein Gefühl gut und sicher, jetzt musst du mir noch eine Geschichte erzählen.

Viel Spaß und Freude hier im Forum, Freddy.

offshore

 

Hey offshore!

Dankeschön für deine Zeit und dein Feedback! Ich muss gestehen, ich mag es, wenn Menschen gerade heraus sind und du hast mit deiner Einschätzung gar nicht so unrecht. Daher gibt es auch keinen Grund für mich zu weinen ;) Ich werde an mir arbeiten!

 

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