Das Zimmer im Turm
hi, all!
Mein erstes Posting in diesem Forum: eine Geschichte, zu der ich inspiriert wurde von einem Photographen: Simon Marsden. Er fotografiert alte Ruinen, vornehmlich in Irland und Schottland, mit Infrarot-Scharzweissfilm - und erzählt dazu das meist tragische Schicksal, das einen oder mehreren Bewohner einst in diesn Gemäuern ereilte.
Kommentare und Kritik willkommen (deshalb poste ich ja hier :-)
Das Zimmer im Turm
"Also, ich weiß nicht, warum du so mürrisch bist! Der Auftrag müßte doch ganz nach deinem Geschmack sein: du fährst hin, machst ein paar hübsch gruselige Bilder, kommst bis spätestens sieben Uhr wieder in die Redaktion, hast weder Fahrt- noch Materialkosten und kriegst dafür satte 200 Euro....".
Er sah verzweifelt aus dem Fenster "Ja - aber bei dem Wetter - wie soll denn da Gruselstimmung aufkommen, bei strahlend blauem Sommerhimmel....? Und außerdem, diese Hitze - Wahnsinn, das macht mein Kreislauf nicht mit. Wie soll ich diesen Auftrag überleben?
Die Redakteurin seufzte vernehmlich: "Also gut, noch 50 als Erschwernisausgleich für fehlende Wolken und nochmal soviel wegen der Hitze. Macht 300, okay? Oder willst Du noch einen Bonus, weil wir mal liiert waren?"
"Ich liebe es, wie du das Wort ´liiert´ artikulierst" sagte er trocken.
"Gern geschehen, für dich immer. Um zum Thema zurückzukommen: ich brauche nicht viele Bilder, aber die Grusel-Atmosphäre muß stimmen, du weißt was ich meine."
"Schon klar. Wieviel ist denn überhaupt noch übrig von der Burg?" fragte er und wischte sich umständlich den Schweiß von der Stirn.
Sie legte ihm eine zerknitterte Zeichnung vor. "Nicht gerade viel: Burggraben, zwei Tortürme, Innenhof mit Mauer, eine Seitenwand der Großen Halle und vom Bergfried - noch ein Haufen Steine."
"Naja, mal sehn was sich machen lässt." Noch einmal fuhr er sich mit dem Tuch über die Stirn. "Wahrscheinlich muß ich den düsteren Wolkenhimmel hinterher reinkopieren.... Such doch schon mal was passendes aus dem Archiv..."
"Geht nich´, keine Zeit. Ich will heute nochmal zu Lady Lilith - ehm, also der verrückten Alten. Ich hab noch ´nen paar Fragen zu meinem Interview..."
"Da hast Du aber Glück gehabt, dass sie dich nicht schon angefallen und ausgesaugt hat. Man erzählt doch, sie sei ein jahrhundertealter Vampir..."
"Ja, das hat sie selbst immer von sich behauptet. Mir tut sie echt leid. Sie wohl hat die meiste Zeit ihres Lebens in Irrenanstalten verbracht. Keiner weiß, woher sie kommt und wie sie heißt. Dabei ist sie völlig harmlos. Und jetzt, wo sie hier im Altenheim endlich ihre Ruhe findet, trägt man ihr immer noch diesen Unfug nach, macht sich lustig über sie, verspottet sie. Deswegen bin ich ja auch froh, daß ich den Artikel schreiben und das Interview machen durfte...."
"Ahja, richtig, da ist wieder deine sozialkritisch-aufklärerische Ader, die ... ach, lassen wir das. Wie redest Du sie eigentlich an, "Mylady" oder "meine liebe Lilith", oder "ehrwürdige Vampirin"...
"Spotte du nur! Als ich sie vorige Woche interviewt habe, da hab ich ihr die Geschichte auch für einen Augenblick wirklich geglaubt: Daß sie tatsächlich die Tochter des berüchtigten Clanführers Duncan McCorrough ist, der die gesamte Region hier einmal beherrscht hat, und daß sie ihn 1355 eigenhändig im Streit umgebracht hat. Und das er nicht, so wie in den Geschichtsbüchern zu lesen, zusammen mit ihr in den Flammen der Burg umgekommen ist. Sie hat weitergelebt, als Vampir und mußte Blut trinken, um Jung zu bleiben, wie das halt so ist, als Vampir, kennt man ja, aber da sie nun nach über 600 Jahren keine Lust mehr am Leben hat, hat sie vor langer Zeit beschlossen, ..."
Er unterbrach sie ungehalten. "Wieso keine Lust mehr am Leben, ich dachte Vampire sind ohnhin schon tot, oder wie sehe ich das...?"
"Nun, ob tot oder lebendig, das ist eine Frage der Definition... in diesem Fall aber unerheblich. Jedenfalls, sie hatte also beschlossen, kein Blut mehr ..."
Er winkte genervt ab. "Ok, das reicht, du weißt doch, ich mag solche Geschichten nicht mag. Flucht-Literatur - hat unsere Deutschlehrerin dazu immer gesagt, sinnfreies Lesefutter, das an latent romantisch-morbide Gelüste... ach, vergiß es. Ich mach mich dann mal auf dem Weg." Beim Rausgehen schnappte er sich die Fototasche und fügte noch hinzu: "Grüß mal das Mädel von mir.... aber laß dich nicht beißen.... und vergiß den Knoblauch nicht..."
"Paß du lieber auf, daß du nicht in ein Verließ stolperst und - und Dir den Hals brichst, ...alter Griesgram!" rief sie ihm nach, doch er hörte sie nicht mehr.
"Mistwetter" sagte er leise zu sich selbst und blinzelte missmutig in die Sonne. Da stand er nun im Innenhof der Burgruine, schwitzte am ganzen Körper - der Schweiß lief ihm inzwischen sogar in die Augen - und fluchte vor sich hin. Resigniert packte er seine Fotoausrüstung zusammen. Ein paar brauchbare Bilder hatter er wohl im Kasten, doch da er die "gruselige Stimmung" hier vor Ort nicht hatte einfangen können, würde er noch eine Weile am Computer dran herumbasteln müssen: den blauen Sommerhimmel mit ein paar Gewitterwolken aus dem Archiv aufpeppen. Vor einigen Jahren hätte er da noch "moralische Bedenken" gehabt, jedoch - die Grenzen zwischen Bildoptimierung und Bildmanipulation hatte er für sich persönlich etwas verschoben - das heißt, den Bedürfnissen des Berufsalltages angepasst. Vor seinem Berufseinstieg hatte er das noch anders gesehen. In diese trüben Gedanken versunken, die Hände in den Hosentaschen vergraben ging er, laut vernehmlich vor sich hin grummelnd, dem Ausgang entgegen.
"Nanu, warum so mißmutig bei diesem schönen Wetter?"
"Schönes Wetter?! Das ist ja wohl Geschmackssache!" gab er patzig zurück und wollte einfach weitergehen. Doch dann hielt er inne und drehte sich um. Die Stimme klang interessant, doch er sah nicht sofort, wo die Person stand, zu der sie gehörte. Er fügte, nun etwas milder, hinzu: "Wie würden sie denn hier und jetzt eine möglichst düstere Stimmung fotografieren wollen - bei DEM Licht?"
"Oh, sie suchen einen düsteren und unheimlichen Ort?" Die Stimme hatte etwas faszinierendes - sie zog ihn an. Dann sah er im Schatten einer Säulenreihe eine Gestalt. Langsam ging er auf sie zu. Sie lehnte an einer der Säulen. Seltsam, daß sie ihm nicht schon vorher aufgefallen war. Das Erste, was ihm an der Person auffiel, nachdem er gemerkt hatte, daß es ich um eine Frau handelte, war, daß sie eine intensive Ausstrahlung hatte. Ihr Gesicht war schön, aber es war kein Model-Gesicht, dem man auf den Seiten von Hochglanz-Magazinen begegnen könnte. Dafür war es zu unauffällig, zu unspektakulär - zu leise. Er dachte daran, wie schwer es sein mußte, diese unspektakuläre, aber intensive Ausstrahlung, die von ihr ausging, in Fotos umzusetzen. Er wußte: es war unmöglich - egal wie lange und aufwändig man dieses Foto-Session gestalten würde.
"Nun, da kann ich ihnen vielleicht weiterhelfen..." fuhr sie fort. "Waren sie schon in der Familiengruft?"
"Man sagte mir, die sei eingestürzt...".
"Mhm, nicht ganz... Wenn sie wollen, führe ich sie hin...."
Sie wartete seine Antwort nicht ab sondern ging leichtfüßig zwischen den Mauertrümmern hindurch. Er stutzte einen Augenblick - dann eilte er ihr hinterher. Als er sie wieder sah, lief sie gerade eine lange, von Steinsäulen flankierte Galerie entlang. An dessen Ende bog sie nach rechts ab und verschwand für kurze Zeit aus seinem Blickfeld. Er begann zu rennen. Als er sie eingeholt hatte, stand sie vor einer Nische in einer dicken Mauer, in der eine steinerne Wendeltreppe in die Dunkelheit führte. Sie blickte an ihm vorbei ins Leere. " Hier ist es. Gehen sie nur hinunter, ich bleibe solange hier oben..." Ihre Stimme klang seltsam verändert, doch er blickte sich nicht mehr um - die Spannung war einfach zu groß: er stieg vorsichtig die Treppe hinunter. Mit jedem Schritt wurde es dunkler, feuchter und kühler - er war froh, der Mittagshitze entflohen zu sein und atmete tief durch. Am Fuß der Treppe erkannte er im Dämmerlicht eine schwere Holztür. Sein fotografischer Instinkt sagte ihm: Volltreffer! Ein perfektes Ambiente für Grusel-Bilder! Er stemmte sich gegen die Tür - erstaunlich leicht gab sie nach - und trat ein. Feuchte, modrige, alte Luft umfing ihn - jahrhunderte alte Luft. Seine Augen brauchten eine Weile, bis sie sich an die Dunkelheit gewöhnt hatten, doch nach ein paar Schritten wusste er: Das ist es, das habe ich gesucht! Phantastisch! Wahnsinn! Einfach Irre! Vor ihm lag eine weitläufiges Gewölbe, das mit vielen kleinen Säulen abgestüzt wurde. Durch einige Schächte in der Decke drang schwaches, bläuliches Tageslicht herein. In den blauen Lichtstrahlen tanzten Staubteilchen. An den Wänden standen mehrere Steinsakrophage, dazwischen Ritterrüstungen und Hellebarden, Speere und Lanzen - oder vielmehr das, was die Zeit von ihnen übrig gelassen hatte. Einem ersten Impuls folgend, wollte er in die Fototasche greifen, die Kamera und das Stativ herausholen, doch - er konnte nicht. So schnell wie die Dunkelheit und Kälte des Gewölbes ihn umfing, so schnell ergriff ihn eine tiefe Melancholie. Eine bleierne Traurigkeit verdarb ihm die Lust am Fotografieren. Er fröstelte. Kälte durchdrang seinen ganzen Körper. Langsam ging er weiter in das Gewölbe hinein. Er spürte, daß hier etwas ungeheuerliches vor langer Zeit vorgefallen war, doch wußte er es nicht näher zu beschreiben. Nein, er glaubte nicht an Zombies oder Vampire. Er erwartete nicht, das sich gleich einer der Steindeckel auf den Sakrophagen zur Zeite schob und eine krallenbewehrte Hand sich hindurchschob. Doch er war sich sicher - er fühlte, daß dieser Ort vor langer Zeit Schauplatz einer menschlichen Tragödie war - und das diese Tragödie etwas mit der geheimnisvollen Unbekannten da draußen zu tun haben könnte... Es überraschte ihn nicht sonderlich, als er am Boden die Reste eines menschlichen Skelettes entdeckte. Daneben lag ein großes, vom Rost fast völlig zerfressenes Langschwert. Nein, er erschrak nicht und er gruselte sich auch nicht. Es schien ihm normal, ja geradezu zwangsläufig, dies alles hier zu finden - so, als ob es ihm vertraut wäre. Die Last der Melancholie wurde immer schwerer, die Traurigkeit, die sich schon kurz nach seinem Eintreten auf sein Gemüt legte, hatte nun völlig von ihm Besitz ergriffen. Es war unmöglich - er konnte nicht mehr weitergehen - umkehren, fliehe, bevor es zu spät ist, dem Sog entkommen, raus hier, bloß schnell raus hier! Er ging zielstrebig auf den Ausgang zu, beschleunigte, schliesslich rannte er. Er riß heftig an der Tür, die sich nur sehr widerstrebend einen Spalt breit öffnete - doch das genügte. Er zwängte sich mit Mühe hindurch und hastete atemlos die steinerne Treppe hinauf und wäre dabei fast auf den glitschigen Stufen ausgerutscht.
Endlich wieder oben! Er lehnte sich mit dem Rücken an die Wand gegenüber dem Abstieg und atmete tief durch. Die schwüle Mittagshitze schlug über ihm zusammen, er hörte wieder das muntere Vogelzwitschern, und aus allen Richtungen drang das Tageslicht herein. Da wurde ihm klar: er hatte soeben eine der wichtigsten Grundregeln für Pressefotografen mißachtet. Wenn man an einer Unfallstelle ankommt, um ein knalliges Bild die für die Titelseite machen muss, gilt die Devise: "Kamera einschalten, Gehirn ausschalten - und draufhalten!" Er hätte sich jetzt ärgern können, über diese verpaßte Gelegenheit ein perfektes Grusel-Bild machen zu können, ja, er hätte es vermutlich auch gewinnbringend vermarkten können, solche Bilder werden in den Redaktionen immer gebraucht - doch er ärgerte sich nicht. Er empfand keinen Groll, keinen Unmut, denn auf ihm lastete immer noch die tiefe Melancholie. Er hatte das Gefühl, der einsamste Mensch auf der Welt zu sein. Und - die geheimnisvolle Frau war nicht mehr da. Er war allein. Eine Welle von Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung schlug über ihm zusammen. Er verspürte eine unendliche Sehnsucht nach einer menschlichen Umarmung, doch es erschien im sicher, daß er dies nie wieder erleben würde - nie, nie wieder. Gescheitert im Eismeer, verlorene Hoffnung. Es war alles sinnlos, er könnte sich jetzt gleich wieder hinunter begeben und sich in einen der Sakrophage legen - dort unten wäre er in guter Gesellschaft. In der Kälte würde ihn der Tod behutsam und sanftmütig in seine Arme schließen... Tränen der Verzweiflung stiegen ihm in die Augen.
Doch da sah er sie wieder - die geheimnisvolle Frau - sie stand in einem der Seitengänge und schaute ihn gedankenverloren an. Er war ein bischen überrascht, sie noch zu sehen, denn es hätte ihn nicht gewundert, wenn sie - nur ein Phantom, ein Gespenst - verschwunden wäre. Er ging langsam zu ihr hinüber und starrte dabei wie gebannt auf ihre Erscheinung. Mit einem dicken Kloß im Hals und rauher Stimme brachte er mühsam ein paar Worte hervor: "Ich - ich habe kein - kein Bild machen können, ich - konnte nicht... ".
"Ich weiß", sagte sie leise. Wieder traten ihm Tränen in die Augen. Sein Blick trübte sich, ihr Gesicht verschwamm. Sie ging einen Schritt auf ihn zu. Wie in Zeitlupe nahmen sie sich in die Arme. Er verlor jegliches Zeitgefühl während dieser Umarmung, so glücklich war er, wieder einen Menschen zu spüren. Er spürte ihre Wärme, ihren Atem, roch ihren Schweiß - kein Zweifel, dieses wundervolle Geschöpf war höchst real - kein Phantom, kein Gespenst, kein Trugbild. Und während ihrer Umarmung fiel die Last der Traurigkeit von ihm ab. Eine wohlige Wärme verbreitete sich wieder in seinem Körper. Hatte er eben tatsächlich den Wunsch verspürt, sich zu den zerfallenen Gebeinen da unten dazuzulegen? Er genoß diesen Augenblick. Er spürte wieder, was es heißt, einen Augenblick zu genießen. Dies tat er eigentlich recht selten, meist dachte er an Dinge die vor ihm oder hinter ihm lagen.
Langsam löste er die Umarmung. "Verzeihen Sie...ich wollte nicht aufdringlich sein...". Er wandte sich hastig von ihr ab und ging wieder ein paar Schritte die steinerne Galerie entlang. Er hatte das dringende Bedürfnis, frische Luft schnappen zu können, er sehnte sich nach der erfrischenden Kälte und Klarheit von Hochgebirgsluft. Es war schon einige Zeit her, seit er das letzte mal in so kurzer Zeit einem so rapiden Gefühlswandel unterworfen war. Und es war schon eine ganze Weile her, daß er so intensiv empfunden und gelebt hatte. Ja, leben, an der Sonne leben, im Licht, und nicht nur einsam durch verfallene Ruinen stapfen und in finsteren Gewölben herumkriechen, um gruselige Fotos zu machen.
Befriedigt nahm er zur Kenntnis, daß sein analytischer Verstand wieder funktionierte. Und dieser meldete ihm sogleich ein Mißverhältnis zwischen dem, was er hier sah, und dem Gebäudegrundriß, den er sich vor kurzem noch auf dem Plan in der Redaktion angeschaut hatte. Dieser Gebäudeteil wäre ihm auf der Zeichnung doch bestimmt aufgefallen, und auch an die Gruft konnte er sich auf dem Plan nicht erinnern... Sein Blick viel auf eine zweiflügelige Tür, umrahmt von einem prächtigen Torbogen aus Stein, verziert mit diversen Wappen, das gößte davon prangte direkt in der Mitte.
"Das Familienwappen der McCorroughs." sagte hinter ihm die Zauberstimme.
Er zuckte ein wenig zusammen, er hatte nicht bemerkt, wie sie hinter ihn getreten war. "Wohin führt sie?", fragte er unsicher.
"In die große Halle. Möchten sie hinein?"
"Aber ich dachte, die sei..." Doch sie wartete seine Antwort nicht ab, sondern öffnete elegant die schwere Tür und ging gemessenen Schrittes hindurch. Er folgte ihr durch einen kurzen Gang, um eine Biegung herum - und dann standen sie an der Stirnseite der Großen Halle. In der Mitte Stand ein wuchtiger langer Eichentisch mit massiven schweren Stühlen drumherum. An den Wänden hing eine überwältigende Zahl verschiedenster Waffen: Äxte, Streitkolben, Säbel, Dolche, Speere, Schwerter, Morgensterne, Bögen, Armbrüste. Die Stellen, an denen keine Waffen hingen, wurden von prächtigen Gobelins eingenommen. An jeder Wand befand sich ein großer Kamin. Und ringsum standen schwere gußeiserne Kerzenleuchter. Die Frau - er wußte noch nichteinmal ihren Namen - schritt weiter zielstrebig durch die Halle. Wie in Trance folgte er ihr. Dann standen sie wieder vor einer Tür.
"Einer der Seitentürme...", sagte sie sanft und stieß die Tür auf: vor ihnen lag eine breite steinerne Wendeltreppe. Durch kleine Öffnunge in den Mauern fiel Sonnenlicht hinein. Diese Treppe führte nicht nach unten, in die Dunkelheit, zu den Toten, sondern nach oben, ans Licht, in die Wärme. Er folgte ihr dicht auf den Fersen und atmete wieder ihren Körpergruch ein. Er konnte nun die Augen schließen und einfach dem Geruch folgen, dem vertrauten Geruch folgen - egal wohin er ihn bringen würde. Sie hielt kurz inne um die Tür zu einem der Turmzimmer zu öffnen. Die Tür quietschte in den Angeln, und sie schritt leichtfüßig hindurch. Das Zimmer war mit Holzmöbeln nur spärlich eingerichtet. Durch zwei kleine Fenster in der dicken Außenmauer des Turmes drang durch Vorhänge gedämpftes Sonnenlicht hinein. Und in der Mitte des Raumes stand SIE, ihre Gestalt beleuchtet von den durch die beiden Fensternischen einfallenden Lichtes, wodurch sich ihre Gestalt noch besser von dem dämmrigen Dunkel des restlichen Zimmers abhob. Ihr leicht gewelltes, langes Haar und das Kleid wurden durch den leichten, warmer Wind, der durch die beiden Fenster strömt, sanft bewegt. Langsam gingen sie aufeinander zu. Sie standen eine Weile direkt voreinander. Zeit und Raum verloren für ihn allmählich an Bedeutung. Der einzig für ihn jetzt noch relevante Aspekt der Realtität war diese überirdisch anmutende Erscheinung vor ihm. Als er mit den Händen sanft die Haut ihrer nackten Schultern berührte, war es, als ob ihn elektrischer Strom durchflösse: selbst wenn er es gewollt hätte, er war nicht mehr in der Lage, seine Hände von ihr zu lösen, sie verschmolzen mit ihren Schultern. In ihm wuchs das Verlagen, jeder Teil seines Körpers möge mit jedem Teil ihres Körpers ebenso verschmelzen. Langsam näherten sich ihre Gesichter.
Sie hauchte sanft: "Jetzt stört uns niemand mehr."
"Nein, diesmal nicht."
Und als ihre Lippen sich berührten, verschwanden Zeit und Raum endgültig aus seinem Bewußtsein. Und kurz bevor sich sein Bewußtsein in ihrem auflöste, fragte er sie in Gedanken: "Wo ist die Grenze?"
"Welche Grenze?"
Er erwachte mit Kopfschmerzen. Mit Schrecken erkannte er, daß sie weg war. War sie wegen ihm gegangen - weil er eingeschlafen war? Er begann sich bereits die heftigsten Vorwürfe zu machen, doch dann sah er ihr Kleid noch da liegen, in der Mitte des Zimmers. Es schimmerte rotgolden im Licht der untergehenden Sonne.
Mit einem Ruck setzte er sich auf: sein Auftrag! er mußte doch bis spätestens sieben Uhr wieder in der Redaktion sein. Er sprang vom Bett auf, wollte nach seinen Sachen greifen, doch er plumpste ungeschickt aus dem Bett auf den kalten, staubigen Steinfußboden. Er fühlte sich wie nach einer durchzechten Nacht, sein Schädel brummte, seine Gelenke taten ihm weh, im war übel. Unter großen Anstrengungen rappelte er sich auf und zog sich an. Nur mit Mühe konnte er sein Gleichgewicht behalten. Ja, natürlich, es war doch Hochsommer, und da fühlte er sich doch häufig so schwummerig...der Kreislauf eben... Hastig schnappte sich die Fototasche, warf noch einen wehmütigen Blick auf das Kleid - und eilte dann die Treppe hinunter. Ihren Namen - er wollte ihren Namen rufen, aber er konnte es nicht - er hatte nicht gefragt. Doch irgendwie ahnte er, das er ihn wußte. Im Innenhof angekommen, war er fast völlig erschöpft und mußte ersteinmal verschnaufen. Er schloß nur kurz die Augen und hätte beinahe das Gleichgewicht verloren, ihm war schwindelig. In der Hoffnung, sie vielleicht doch noch einmal zu sehen, suchte er angestrengt mit halb zusammengekniffenen Augen die Ruine ab - vergebens. Er suchte alle zugänglichen Teile der Ruine ab - sie war ja gar nicht so weitläufig - doch er war allein.
Eine tief hängende Bewölkung war aufgezogen, die Wolkenunterseite wurde von der untergehenden Sonne mit feuerrotem Licht beleuchtet. Welch phantastisches Licht! Sein fotographischer Ehrgeiz erwachte wieder: systematisch suchte er den Innenhof nach einem geeigneten Standort ab - und fand ihn auch.
"Hm, erstmal das Weitwinkel drauf, das 20er oder das 24er? Lieber das 20er, okay - Gegenlichtkorrektur, so, der Turm kommt auch noch mit drauf, sehr schön..."
Nachdem er den Eindruck hatte, das mindestens eine dieser Aufnahmen seine Auftraggeberin zufriedenstellen würde, packte er die Fotoausrüstung zusammen. Er rannte zum Torbogen, hielt dann jedoch nocheinmal inne und blickte sich um. Doch es war sinnlos, hier weiter zu suchen. Sie war nicht mehr hier, nicht an diesem Ort, da war er sich sicher - er wußte es, er fühlte es.
Während der Rückfahrt in die Stadt verschlechterte sich sein Zustand. Obwohl es draußen immer noch sommerlich warm war, begann er zu frieren. Er klammerte sich mit beiden Händen am Lenkrad fest. Auf die Anzeigen im Armaturenbrett achtete er längst nicht mehr. Er war zu sehr damit beschäftigt, mit zusammengekniffenen Augen durch die Windschutzscheibe zu starren, den Weg zu finden und nicht mit den anderen Autos zu kollidieren. In der Tiefgarage des Redaktionsgebäudes schrammter er ein paar mal an der Wand entlang und brachte den Wagen mit einem Schlenker gegen einige Mülltonnen zum stehen. Torkelnd eilte er zum Lift. Oben in der Redaktion angekommen, übergab er die Digitalkamera hastig an einen Bildredakteur, murmelte dabei: "Die letzten zwanzig, da ist bestimmt was dabei" und taumelte weiter in das Büro seiner Auftraggeberin. Sie saß am Computer und bearbeitete hektisch die Tastatur. Als sie ihn sah und seinen bemitleidenswerten Zustand erkannte, sprang sie auf und leitete ihn vorsichtig in einen Sessel.
"Nanu, was ist denn mit Dir los, Du siehst ja schlimm aus - als hättest Du ein Gespenst gesehen... "
"Nein, es ist nur" - sein Atem ging schnell und kurz - "die Hitze, nur die Hitze, ... naja, kein Wunder, in der - der Ruine hat sich die Hitze gestaut - es muß wohl ein - ein leichter Hitzschlag sein, oder so was, kein Problem..."
Sie faßte ihm an die Stirn "Hm, eiskalt. Überhitzt fühlt sich das nicht an... Achje, es ist meine Schuld, ich hätte dich nicht losschicken sollen, bei den Temperaturen..."
Er nahm alle seine ihm noch verbliebene Kraft zusammen, um so normal wie möglich zu tun, was ihm nur unvollständig gelang. Er mußte sich anstregen, ganz still zu sitzen. Sein Herz raste. In dem Büro hielt sich immer noch die Tageshitze, doch ihm war kalt - eiskalt.
"Wie siehts aus, wie war das Interview? Zeig mal den Text..." er beugte sich vor, um was von der Schrit auf dem Monitor zu erkennen - unmöglich - er sah alles nur verschwommen. Schwarze Flecken huschten über sein Gesichtsfeld. Die Redakteurin setzte sich wieder vor ihren Computer, ein bischen beruhigt, es schien ihm ja besser zu gehen.
"Ja, stell Dir vor, Lilith ist tot, also - ehm, die verrückte Alte, mein ich - sie ist tot, heute Nachmittag gestorben. Ich wollte gerade zu ihr, da hielt mit das Personal zurück und sagte, sie sei grade sanft entschlafen - mit einem Lächeln auf den Lippen - was ungewöhnlich war, denn man hat sie sonst nie lächeln oder gar lachen gesehen.... Jedenfalls bekommt der Artikel dadurch etwas, hm, mysteriöses, und - stell dir vor - ich hab deswegen noch ´ne viertel Seite vom Ressortleiter hinzubekommen..."
In dem Moment schaut der Bildredakteur zur Tür hinein "He, schau doch mal auf das Netzlaufwerk, da hab ich grad die Pics draufgelegt. Sehn´ gut aus." Mit ein paar Mausklicks blätterte sie durch die Bilddateien. "Wow, genialer Sonnenuntergang - hey, da hat sich das Warten ja gelohnt... Und die Strukturen der Mauern komm auch gut rüber, das hast Du schön gesehen, und da sind sogar die düsteren Wolken, wie bestellt...da brauchen wir ja nix mehr reinzubasteln, bestens..."
Mit zusammengekniffenen Augen blinzelte er auf den Monitor - die schwarzen Flecken vor seinen Augen waren zahlreicher geworden.
"Wo ist - wo ist denn der Turm, der Turm fehlt, ich bin sicher, er war da, der Turm, er war Teil meiner - meiner Bildgestaltung...."
"Wie? Nö, da ist kein Turm, nur die Reste des Bergfrieds. Und die anderen Türme sind doch schon vor Jahren eingestürzt."
Sie blätterte in einigen Unterlagen: "Ahja, hier steht, der letzte der vier Seitentürme sei in den 50er Jahren bei Restaurierungsarbeiten komplett eingestüzt. Leider hat er dabei auch noch die Reste der großen Halle zum Einsturz gebracht, deshalb hat man ja die Restaurierung dann auch aufgegeben..."
"Steht in deinen Unterlagen auch - auch etwas über - über die - die Familiengruft?"
Sie blätterte weiter.
"Ja, Moment, hier: ...wurde im 18. Jahrhundert komplett geplündert, man suchte wohl das legendäre Familienschwert der McCorroughs - ob man es fand, steht hier nicht, nur daß die Gruft irgendwann Anfang des 19. Jahrhunderts von selbst eingestürzt ist."
Er schüttelte ungläubig den Kopf "Aber ich war doch drin, ich - hätte sogar Aufnahmen machen können, ich - war gefangen von der Atmosphäre, ich - ich spürte, daß etwas furchtbares hier geschehen war..." Die feurige Erregung, die ihn nocheinmal durchflutete, überspielte die Symptome seines nahenden körperlichen Zusammenbruchs.
"Ja, hm, da ist in der Tat etwas schlimmes geschehen, zumindest wenn ich Mylady, äh, also der Alten, Glauben schenke..."
Hastig viel er ihr ins Wort: "Was weißt du darüber, drüber habt ihr doch bestimmt gesprochen, in dem Interview,... - habt ihr doch ...?"
"Ich dachte, Du magst solche Geschichten nicht, aber bitte, wenn du so drauf brennst, - hier, ich bin grad noch am Zusammenschreiben des Interviews..."
Sie wendet sich nun ganz dem Monitor zu: "Also, Lilith erzählte mir, sie hätte dort unten ihren Vater umgebracht,...und zwar war es wohl so, daß sie damals einen heimlichen Liebhaber hatte, ihren ersten, obwohl ihr Vater für sie schon so irgendeinen degenerierten adligen Schnösel vorgesehen hatte, naja, wie das halt so war, Familienpolitik, kennt man ja. Jedenfalls kam der Typ immer zu ihr durch einen uralten Fluchtgang, der in der Familiengruft mündete. Tja - und ihre erste Nacht zusammen, also, wo sie zum erstenmal so richtig, du weißt schon, - ja die sollte tragischerweise auch ihre letzte sein, denn der alte Duncan erwischte sie beide im Bett in Liliths Zimmer - sie bewohnte seit ihrer Kindheit eines der Turmzimmer, naja, und jetzt zitiere ich Lilith am besten, also - Zitat: "... langsam kam mein Vater auf das Bett zu, in der einen Hand einen Dolch, und er schien wild entschlossen, ihn auch zu benutzen. Ich stieß einen Schrei aus, man muß ihn bis ans andere Ende des Schlosses gehört haben. Mein geliebter Ralph stürtze in panischer Angst - nackt wie er war, - aus dem Zimmer hinaus, er wollte wieder zurück in den engen Geheimgang. Mein Vater rief - nein er brüllte: "Vergeblich, du rennst vergeblich, ich kriege dich, elende Ratte" und stürzte hinter ihm her. Und gleich darauf rannte auch ich hinterher, ebenso nackt, doch ich spürte die Kälte nicht - wenn es gelang, meinen Vater kurze Zeit aufzuhalten, dann hätte Ralph eine Chance gehabt, in den Tunnel zu kommen... Als ich in der Türöffnung zur Familiengruft ankam, erstarrte ich vor entsetzen - Mein Vater stand breitbeinig vor der kleinen Maueröffnung, hinter der es in den Fluchttunnel ging. Ralph wandte mir den Rücken zu, - ich schaute auf seine Schulterblätter, die ich noch vor kurzem mit meinen Lippen liebkost hatte... Er wich langsam zurück, den Blick starr auf den Dolch meines Vaters gerichtet. "Na komm, komm doch, du Ratte, willst du nicht hineinschlüpfen in dein Loch?" Dann lachte er noch einmal und schleuderte mit einem Kampfschrei seinen Dolch. Er traf Ralph in den Hals. Ich löste mich aus meiner Starre, stürzte mich auf Ralph, ich fing ihn im Fallen, sanft glitten wir zu Boden... der Dolch steckte tief in seinem Hals, ich spürte sein warmes Blut auf meiner Haut, streichelte zärtlich seine Stirn, küßte ihn auf den Mund, schmeckte sein warmes Blut - das Leben schwand schnell aus seinem Körper - sein Kopf fiel leblos zur Seite. Und da hörte ich wieder das abscheuliche Lachen - mein Vater stieß ein grauenhaftes, dämonisches Lachen aus. Mit dem Mut der Verzweiflung zog ich den blutigen Dolch aus Ralphs Hals, stemmte mich auf die Beine und schleuderte ihn auf meinen Vater - seine lange Kampferfahrung rette ihm das Leben, er wich geschickt aus, der Dolch verfehlte ihn nur knapp. Völlig überrascht von meiner Handlung wich ihm das Lachen aus dem Gesicht, es formte sich zu einer Grimasse des Hasses und der Verachtung. Langsam kam er auf mich zu - langsam, unaufhaltsam. Ich konnte mich vor Kälte, vor Furcht und Grauen kaum noch auf den Beinen halten. Ich wich zitternd zurück, bis ich mit dem Rücken gegen ein Hindernis stieß. Als ich erkannte, daß es der Steinsakrophag meines Großvaters war, durchzuckte mich ein Gedanke und drehte mich um - und tatsächlich - da lag es noch - auf dem Deckel des Sakrophags lag das alte Familienschwert der McCorroughs. Ich faßte den Knauf mit beiden Hände und hob das Schwert in die Luft. Kraft und Zuversicht durchströmten mich - durchströmten jede Pore meines Körpers. Ich drehte mich ruckartig um - mein Vater war schon auf wenige Meter herangekommen, doch als er mich dort stehen sah, die Schwertspitze auf ihn gerichtet, da hielt er inne. "Das wirst du bereuen, das wirst du bitter bereuen..." Pötzlich griff er zur Seite und nahm einer dort stehenden Ritterrüstung das Schwert ab - und stürmte auf mich los. Ein Gefühl grenzenloses Hasses und unendlicher Kraft druchflutete mich - ich spürte nicht mehr das Blut von Ralph auf meiner Haut, spürte nicht mehr die Grabeskälte, die mich umgab, spürte nicht das Gewicht des Schwertes. Ein erbitterter Zweikampf entbrannte - seine Schläge waren eleganter und präziser - aber meine waren wütender und kraftvoller. Er begann weiter zurückzuweichen, konnte kaum noch offensive Schläge anbringen, mußte immer mehr parieren. Immer weiter wich er zurück - bis er über die Leiche von Ralph stolperte. Er verlor das Gleichgewicht und fiel mit dem Rücken zu Boden. Der erneute Anblick meines geliebten Ralph steigerte meine Wut noch weiter - und bevor er wieder auf den Beinen war, hatte ich ihm schon die Spitze meines Schwertes in seinen Bauch grammt. Mit einem Ruck zog ich es wieder heraus. Er ließ sein Schwert fallen, sank auf die Knie und hielt sich mit beiden Händen die Wunde. Ich dachte schon, er würde jetzt zusammenbrechen, doch er stand wieder auf, er stand wieder auf und fing an zu lachen - das Blut lief aus seinem Mund herab und er gröhlte "Töte mich, doch meinem Fluch fliehtest Du nicht!!!" Dann kam er auf mich zu, lachte wie ein wahnsinniger, entblößte seine Reißzähne - Da nahm ich alle meine Kraft zusammen, holte aus, schwang das Schwert über meinen Kopf und ließ es auf ihn niederfahren - es spaltete seinen Kopf bis zu den Schultern. Sein Körper fiel in sich zusammen und verweste vollständig vor meinen Augen." "Ähm - " Die Redakteurin räusperte sich vernehmlich.
"Tja, soweit also Liliths tragische Geschichte. Bei vielen Lesern treffen wir damit auf den Nerv, und nicht wenige hier im Ort werden das wohl tatsächlich für wahr halten...."
Sie wandte ihren Blick vom Monitor ab und blickte sich um. Da sah sie ihn im Sessel liegen, kreidebleich, die Augen starr in die Ferne gerichtet. Sie stürzte zu ihm hin, versuchte ihn wachzurütteln, schrie ihn verzweifelt an: "Hörst du mich? Hörst du mich???"
Doch er hörte sie nicht mehr.
"Es tut mir leid, dir Unannehmlichkeiten bereitet zu haben..."
"Sorge dich nicht. Ich wußte nicht, was kommt. Angenehm war es nicht. Aber ich sehe, das war es wert."
"Das freut mich."
"Wie lange dauert die Ewigkeit?"
"Was ist Ewigkeit?"
V 2.1 / 30.06.03