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David der Entdecker
1. Wechsel
Ein Radio spielte leise Musik und graues Licht schien durch halboffene Rollos in ein kleines Büro. David saß hier an seinem Schreibtisch und jammerte innerlich über seine Rückenschmerzen, die in den letzten Wochen immer peinigender geworden waren. Er war ein kleiner, schlanker Mann in den Dreißigern und sein braunes Haar hatte begonnen, sich an den Schläfen zu lichten. Er besaß keinerlei körperliche Vorzüge, die ihn für das andere Geschlecht empfänglich machten, was seinem überzeugten Singledasein durchaus zugute kam. Und er wurde alt. Mühsam erhob er sich und beobachtete den Drucker, welcher gerade dabei war, ein Stück Papier für ihn auszuspeien. Auf dem Computermonitor prangte der Abschlußbericht der vergangenen Woche, dessen Bearbeitung Davids Ischiasleiden nicht unbedingt gemildert hatte. Langsam ging er zur Kaffeemaschine, goss sich eine Tasse mit dem dampfenden, schwarzen Gebräu voll und stellte sich ans Fenster. Vorsichtig probierte er einen Schluck. Er starrte eine Weile auf die Strasse vor seinem Arbeitsgebäude, auf der sich Autos, klein wie Termiten von seiner erhöhten Position aus betrachtet, monoton über schwarzen Asphalt auf unbestimmte Ziele hin bewegten. - Ein Piepsen ertönte. - Er wandte sich um, entnahm dem Drucker das fertige Dokument und legte es zufrieden in die Ablage.
Das Deckenlicht flatterte kurz und erlosch dann gänzlich. David, der noch stand, wunderte sich nur einen Augenblick lang. Vor einigen Wochen hatte ein Kurzschluss den ganzen Bürokomplex für ein paar Stunden außer Gefecht gesetzt. Sicher verhielt es sich jetzt wieder ähnlich. Er döste einige Minuten in seinen Schreibtischstuhl gelümmelt herum, studierte ein paar Geschäftsberichte und gönnte sich eine zweite Tasse Bohnenkaffee. Hierbei fiel ihm auch ein gerahmtes, schräg stehendes Foto auf der Tischfläche ins Auge. Kaum sichtbare Fältchen gruben sich beim Anblick der darauf gezeigten Szene in seine Mundwinkel. Er nahm das Bild in die Hand und lehnte sich zurück. Es zeigte eine junge, hellhaarige Frau, die, in einer ewig währenden Pose festgehalten, mit einem strahlenden Lächeln auf den Zügen an einen Baum gelehnt dastand und fröhlich dem Fotographen zuwinkte. Leichter Wind bauschte ihr sommerleichtes Kleid. Vor so langer Zeit war das gewesen, dass sich David kaum noch an diesen Tag erinnerte. Ihre Stimme war versteckt in einer Lade seines Unterbewusstseins und weigerte sich vehement dagegen ihm einzufallen.
Während David über vergangene Zeiten sinnierte, griffen langsam und mit sanfter Umarmung dünne Schlaffinger nach seinem Verstand. Ein Kichern wie aus weiter Ferne erschallte und lockte ihn in düstere Gefilde. Die reale Welt schien ein Stück beiseite zu rücken und etwas anderem, Fremdem, Platz zu machen.
Die Schwärze sog an ihm, seinem Selbst. Sie wollte ihn aufnehmen und dazu verleiten zu vergessen. Auf ewig. David schrie, aber nichts war zu vernehmen, außer einem überwältigendem Schweigen, das alles rundherum ausfüllte und ihn durch seine Präsens zu erdrücken drohte. Er suchte in seinem Geist nach Erinnerungen, etwas, das dieses völlige Nichts, in welchem seine Seele schwamm, erträglich machen konnte. - Ein Lichtblitz explodierte. - Ein Atemzug und seine Lungen füllten sich mit herber, feuchter Luft. Ein Tag am Meer vor vielen Jahren tauchte aus einem vergessenen Winkel von Davids Gedächtnis auf. Das Rauschen der Brandung wühlte in seinen Ohren und knirschender Sand breitete sich unter seinen bloßen Sohlen aus. Noch ein Blitz brachte eine einsame Küste mit einem weiß wattierten Himmel darüber zum Vorschein. Gerade umspielte eine Welle Davids Zehen und zog sich zischend wieder in ihre schäumende Heimat zurück. Dem Mann schauderte. Nicht aber vor Kälte. Eine Möwe tauchte kreischend in die wogende See, etwas glitzernd Lebendiges dann beim Auftauchen im Schnabel haltend.
„Davy?“ Schmale Finger schoben sich in diesem Augenblick in seine Handfläche und die lang vermisste Stimme von Davids Frau erklang neben ihm. Worte wurden gesprochen, hatten aber keine Bedeutung. Ihre Nähe war so schön. Sie blickte ihn an. Ihr Haar schimmerte in der eben aufgegangenen Sonne und zwei unergründlich blaue Augen sogen ihn auf. Eine stumme Aufforderung wurde formuliert. David verstand und Angst vor dem Kommenden erfüllte sein Herz. Eine sanfte, nach Salz schmeckende Brise wehte eine goldene Strähne in Ellys schönes Gesicht, welche sie lächelnd fortzupfte. Wortlos ging sie ein Stück am Ufer hinauf. Nach ein paar Schritten wendete sie den Kopf, streckte einen Arm aus und sah ihn auffordernd, voller Liebe an. Er sollte ihr folgen. Eine gleißende Helligkeit überflutete plötzlich alles. Verwirrt und ängstlich wollte David nach seiner Frau rufen, nach ihr greifen, aber da war nichts mehr, außer einem Gefühl, das ihn lockte, weiter in das blendende Licht hinein zu gleiten, das nun die ganze Welt ausfüllte. Ein leises Flüstern wisperte: „Komm zu mir. Es ist an der Zeit zu gehen.“
David riss die Augen auf. Undeutlich traten Konturen hervor und bildeten langsam die Form eines vertrauten Büros. Sein Kopf schmerzte und er massierte seine Stirn mit vorsichtigen kreisenden Bewegungen. - Was für ein Traum! - Nur vage Erinnerungen an einen entlegenen Strand streunten durch sein Bewusstsein. Fast glaubte er noch einen Rest von salzgeschwängerter Luft wahrzunehmen, das Echo von plätscherndem Nass zu hören. David raffte seinen schlaffen Körper auf und schalt sich einen Narren. Seit wann war er denn zum Tagträumer verkommen? - Das Aufflackern eines blond umrahmten Gesichtes. – Er holte tief Luft. Wie lange hatte er eigentlich geschlafen? Er bemerkte, dass das Foto während seines Nickerchens zu Boden gefallen war. Das Glas aus der Verdeckung war zerbrochen und viele einzelne Splitter breiteten sich vor Davids Schreibtisch aus. Er löste das Bild aus dem Rahmen und steckte es vorsichtig in die Brusttasche seines Hemds.
Ihm fiel auf, dass der Strom immer noch durch seine Abwesenheit glänzte. Allmählich wunderte er sich darüber, dass bisher keiner seiner Kollegen hereingekommen war und sich über die ungewohnte Unterbrechung des tristen Alltags ausgelassen hatte. So eine Ablenkung vom üblichen Trott war selten genug. – Und das Licht war anders. – Er hatte vorher einfach nicht darauf geachtet, aber durch die Rollolatten stahlen sich vereinzelte, dünne Sonnenstrahlen in den Raum. Eigentlich war aber ein grauer Regentag angesagt worden und das Wetter hatte sich bis vor seinem Ausflug in Reich der Phantasie auch daran gehalten. Er öffnete das Fenster, um für ein wenig frische Luft zu sorgen. – Warmer Wind, rein und klar, wie eine Atlantikbrise strömte herein und nahm ihm den Atem. Er vertrieb die muffige Atmosphäre aus Davids Arbeitsplatz, was der verblüffte und überwältigte Mann in diesem Moment aber erst einmal nicht bemerkte.
Die Welt draußen hatte sich, nun ja, verändert. Menschen, Häuser und Geschäfte, einfach alles, war fort und durch etwas ‚Anderes’ ersetzt worden. Ein schwarzblauer Himmel prangte nun über einer unendlich scheinenden, sonnendurchfluteten Graslandschaft, auf welcher der Wind voll ungebremster Kraft mit langen Halmen spielte und diese gleich Wellen in einem gewaltigen grünen Ozean bewegte.
Verwirrt wandte David sich ab. Er schüttelte ungläubig den Kopf und versuchte seine wild durcheinander wirbelnden Gedanken zu ordnen, was misslang. Er rannte durch die Tür auf den Flur und dann schnell in das Nachbarbüro. Es war leer. Der nächste Raum tat es hierbei dem ersten gleich. David rief nach Hilfe, danach, dass jemand ihn hören und antworten möge. Neben einem zunehmenden Pochen in seinem Kopf war das leise Heulen des Windes das einzige Geräusch. Erschöpft und durcheinander setzte er sich nach einer Weile sinnlosen Schreiens einfach auf den Boden, zog die Beine an, schlang seine Arme darum und vergrub den Kopf zwischen den Schenkeln. Das Pochen verstärkte sich.
Minuten(?) später erhob er sich umständlich und schlurfte zum Fahrstuhl, hielt kurz inne und ging weiter zur Treppe.
Er stand auf der Schwelle. Rauschende Natur umgab das weiße Hochhaus und musste es von weitem wie einen drohend erhobenen Zeigefinger erscheinen lassen. David rang sich zu einem Lächeln ob dieser absurden Vorstellung durch. Er ging zum scharf abgeschnittenen Grenzbereich zwischen den Resten des Betonbodens ‚seiner’ Welt und der sandigen, dicht bewachsenen Erde diesen Ortes. Langsam kniete der Mann sich nieder und riss eine Grasstaude heraus. Sie wies Ähnlichkeiten mit normalem Rasen auf, mit dem Unterschied, dass diese Art mehr als fünf mal so lang war.
Er richtete sich wieder auf, schirmte die Augen gegen die blendende Sonne ab und überblickte die wogende Fläche vor sich. Sie reichte bis zum Horizont. David schritt einmal um das Gebäude herum. In allen Himmelsrichtungen wiederholte sich dieser Anblick und über allem thronte der ferne Zenit klar und unbefleckt. David breitete die Arme aus und drehte sich ein paar Mal mit geschlossenen Augen um die eigene Achse. Das war also der Wahnsinn. Allein in einer von ihm selbst kreierten Welt, umgeben von flutendem Gras und inmitten all dessen der Ursprung für sein Abgleiten in diese irren Abgründe. Grauweiß leuchtete das kantige, wie ein grauer Monolith aussehende Haus in der Sonne. Ein verzweifeltes Grinsen zuckte über Davids Lippen. - Wenn das hier irgendwann überstanden sein sollte, brauchte er dringend einen langen Urlaub.
2. Flut
Die Nacht war hereingebrochen. David hatte sich auf das Dach begeben und stützte sich gerade an der Brüstung ab. Ein starker Windzug zerzauste seine Haare und er sog die wunderbar reine Luft voller Genuss in die Lunge. Der Himmel über ihm war von Sternen übersäht und ließ keinen Unterschied zu dem seiner Heimat erkennen, abgesehen vielleicht davon, dass der vor einigen Stunden aufgegangene Mond sehr viel näher am Planeten zu stehen schien als gewohnt. Der Trabant, welcher circa ein Fünftel des Himmels ausfüllte, tauchte alles in eine graugelbe Helligkeit und vermittelte so eine spätnachmittägliche Stimmung. Nun, da er wohl das einzig intelligente Lebewesen auf dieser imaginären Welt war und nicht schlafwandelte (was an sich ein Widerspruch war, da er sich ja wohl eigentlich in einer Art Koma befand), machte er sich um diesen Umstand keine größeren Sorgen.
Fasziniert betrachtete David die riesige kraterübersäte Oberfläche hoch droben. Die ausgedehnten Mondmeere ließen sich bis in kleinste Strukturen hinein studieren. Seine Hand fuhr den Umriss eines gewaltigen Kraters entlang, der wie ein Weihnachtsstern auf Luna erblühte. Davids Augen glänzten verträumt. – Er schnupperte überrascht. Gerade war ihm aufgefallen, dass sich der Geruch der Luft unmerklich verändert hatte und seinen Gaumen nun mit einem salzigen Geschmack umflorte. Erst jetzt bemerkte er auch ein leises, kontinuierliches Rauschen, das ihn, langsam immer lauter werdend, von allen Seiten umgab. David schaute neugierig über den Rand des Daches und fuhr verwirrt zurück. Dunkles Wasser breitete sich, einen Weg durch Gras und über Steinboden bahnend, schnell bis zum Fuß seines ‚Hochsitzes’ aus. >Die Flut ist gekommen.<, ging es David durch den Kopf und er schaute den gewaltigen Mond mit neu erwachter Erfurcht an.
Der Wasserpegel war mittlerweile auf etwa halber Höhe des Bürohauses angelangt und beabsichtigte offenbar nicht, dort zu verharren. David, gefangen auf dem Dach des einzigen Überbleibsels seiner alten, wunderbar langweiligen Welt, war in Panik. Er hatte die oberen Stockwerke nach etwas Schwimmfähigem durchsucht, dabei aber praktisch keinen Erfolg gehabt. Natürlich durfte man an diesem Ort nicht erwarten, ein Schlauchboot oder Schwimmreifen im nächst besten Erste-Hilfe-Kasten zu finden. Ein Hochhaus in der Innenstadt besaß verständlicherweise keine Vorrichtungen für den Fall einer Hochwasserkatastrophe. David wollte schließlich einen der kleineren Bürotische als provisorisches Kanu zweckentfremden, musste dabei (und nach anfänglich starken Zweifeln an seiner Muskelkraft) aber feststellen, dass ein übereifriger Handwerker alle Tischbeine fest und unlöslich mit dem Boden verschraubt hatte. Auch diverse Sitzbänke und andere Einrichtungsgegenstände weigerten sich aus gleichen oder ähnlichen Gründen, ein Schicksal als schwimmendes Mobiliar erleiden zu müssen.
Das einzige, tragfähige Objekt befand sich momentan unter seinem Hintern. Es hatte lange gedauert, aber ein ausladender grellroter, mit Luft gefüllter Plastiksessel hatte letztlich vergeblich versucht, in eine schattige Ecke des Erholungsraumes geduckt, seinen Blicken zu entkommen. Liebevoll (und mit zittriger Hand) tätschelte David die glatte Oberfläche des aufblasbaren Möbelstücks und schaute zum wiederholten Male auf das neu entstandene Meer hinaus. Leichte Wellenkämme glitten schaumig über die Oberfläche und verliehen dem ansonsten eher ruhigen Wasser den Anschein von Bewegung. Dem aufmerksamen Beobachter war ebenfalls die fast völlige Windstille aufgefallen, die ungefähr zeitgleich mit dem Beginn der Überschwemmung aufgetreten war. David vermutete, dass dies mit den extremen Gezeiten zusammenhing, welche diese Welt heimsuchten.
Eine Weile sinnierte er über dieser interessanten Feststellung, als plötzlich eine vorwitzige Welle über die Brüstung platschte und viele flüssige Geschwister dazu animierte es ihr gleichzutun. Die frühmorgendliche Sonne betonte die Konturen von Davids erschrockenem Gesicht, der versuchte, in einer hockenden Position auf einem widerspenstig quietschendem Sessel auszuharren, während ihn böse plätscherndes Nass langsam immer weiter einschloss.
Zwischenspiel
Gelangweilt fuhr Davids Hand durchs Wasser. Zusammengerollt trieb er nun schon fast einen Tag über die Weiten dieses neugeborenen Ozeans und fragte sich langsam, ob all ‚dies’ hier wirklich nur seiner Phantasie entsprang (die durch jahrelanges Schreibtischleben ziemlich verkümmert war). Seine Hand fühlte sich aber feucht an und auch sein Magen ließ ein forderndes Grummeln verlauten. Fluchend fuhr David sich über den entblößten Unterarm. - Auch dieser Sonnenbrand schmerzte verdammt real. Blinzelnd schaute er zu dem mitleidlosen Feuerball auf und verdammte erneut alles was ihm einfiel. Warum stürzte er sich nicht einfach in die Fluten? Passieren konnte ihm doch nichts, da alles bestimmt nur eine (wenn auch unglaublich wirklichkeitsgetreue) Wahnvorstellung war. „Weil du selbst in deinen Träumen ein verdammter Feigling bist!“, meldete sich eine leise innere Stimme zu Wort. David seufzte selbstmitleidig, kratzte sich an der Stirn und bereute diese Handlung sofort, da eine wohlproportionierte Eiterblase, hervorgebracht von zu hoher UV-Strahlung darauf zerplatzte. Schmerzerfüllt ließ der Mann sich weiter von der Strömung und seine trüben Gedanken treiben.
3. Ebbe
Zwei Augendeckel klappten hoch und sahen in ein rot überhauchtes Firmament, auf dem einige ferne Sterne blinkten. Das Sesselboot schaukelte nicht mehr… und das, was er eben abwesend aus dem Boden gezupft hatte, fühlte sich eindeutig nicht flüssig an. David richtete sich auf. Sanft streichelten dabei feuchte Grashalme an seinem Arm entlang. Das Wasser war abgeflossen und hatte die Vegetation wieder der frischen Luft preisgegeben. Eine solche abwechselnd hydrologisch und atmosphärisch gedeihende Pflanzenart zeigte mal wieder die Genialität der natürlichen Evolution, die sich auch an extremste Lebensumstände anzupassen wusste. >> Nein, halt. Er bildete sich dies alles doch nur ein! << Aber David hatte nie eine derart kreative Phantasie besessen, wofür bei genauerer Betrachtung auch diese absurde Kreatur sprach, die in einiger Entfernung zu ‚grasen’ schien. Erst nach einigen Sekunden wurde ihm die Bedeutung dieses Gedankenganges wirklich bewusst. Ein leichtes Zittern erfasste seine Zehenspitzen und ließ zum Schluss weiter oben zwei Nasenflügel aufgeregt flattern. Ungeheuer groß, wie das äsende Wesen vor ihm, holte ihn die Realität ein.
Starr vor Angst war es David unmöglich diesem ‚Etwas’ auszuweichen. Seltsam, wie klar und präzise seine Gehirnwindungen angesichts dieser Bedrohung arbeiteten, die Nervenimpulse es aber nicht schafften, Arme und Beine zur Flucht zu animieren. Er war doch nur ein einfacher Angestellter einer kleinen Filiale, stand aber dennoch hier auf einer parallelen oder was auch immer gearteten Welt und war kurz davor, von einer obszön gebauten Riesenkrabbe(?) verspeist zu werden.
Kurz vor seinem vermeintlichen Ende fand er noch irgendwie die Zeit, das langsam auf ihn zu krabbelnde ‚Ding' genauer zu untersuchen. Vom Wuchs und außer Acht lassend, dass es etwa das hunderttausendfache Volumen besaß, ähnelte es irgendwie einem violetten Krebs. Der Rückenpanzer war breiter und flacher (Man könnte hier auch Vergleiche mit Trilobiten anstellen, aber was soll’s.) und die großen, am oberen Ende spitz zulaufenden Vorderscheren dienten wohl, wie bei der heimischen Art, zu Revierkämpfen mit Artgenossen. – Eine grässliche Vorstellung bei dieser Größenordnung, wie er fand.
Als das Tier nur noch einige dutzend Meter entfernt war, konnte David dessen Maulinneres besser erkennen. Eine mit Tausenden von Zähnen in Längs- und Querreihen besetzte Chitinmembran wurde regelmäßig von der Bestie ausgefahren und zum Abschaben, sowie Einführen des Grases verwandt. David stellte sich vor, wie er aufgespießt, eingesogen und letztendlich sowohl zerfetzt als auch übertot als Mageninhalt enden würde, sollte sein Körper nicht bald Fluchtvorkehrungen treffen. Mehr Motivation brauchten seine Füße nun nicht mehr. Er drehte sich schnell um und kämpfte sich hastig durch die hüfthohen Pflanzenstauden, fort von all dem fressenden und verdauenden Grauen hinter seinem Rücken.
Ein hohes Schrillen ließ ihn sich nach einer Weile den Kopf umdrehen und zugleich an Tempo zulegen. ‚Fliegende titanische Qualle’ war Davids Meinung nach die treffendste Bezeichnung für das am Himmel aufgetauchte Ungetüm. Es näherte sich der Krabbe, welche den nahenden Besucher ebenfalls bemerkt hatte und gar nicht darüber begeistert zu sein schien. Aufgeregt wippten die langen purpurnen Antennenfühler des Krustentieres hin und her und disharmonische Töne kündeten von der bösen Vorahnung der Kreatur. Als sie knapp über ihm war, senkte sich die schwebende Gallertmasse auf den fiependen Grasverwerter herab und umhüllte diesen mit ihrem durchsichtigen Körper. Das schrille Pfeifen wurde jäh erstickt. – David machte große Augen und sprintete kurz danach wie ein alter arthritischer Hase von dannen. Irgendwann nach ungezählten Minuten sank er dann zwischen extrem unbeteiligt wirkendem Grünzeug nieder, welches allein am nächsten Gezeitenwechsel interessiert war. Schwarz gewobene Schleier aus Vergessen entführten ihn fast gleichzeitig in die Gefilde einer erlösenden Ohnmacht.
4. Enklave
Stimmen drangen durch dichte Dunkelheit zu seinem Bewusstsein vor. Ruhige Intonationen bestimmten das Sprachmuster und David überlegte, ob es so wirklich schon so lange her war, seit er die Zivilisation hinter sich gelassen hatte, weil er die belauschte Unterhaltung nicht verstand. Nein. Es musste sich um eine ihm fremde Sprache handeln.
Er öffnete die Lider. Eine über ihn gebeugte Frau, welche gerade ein feuchtes Tuch auf seiner Stirn drapierte, zuckte erschrocken zurück als David sie anblinzelte und entfernte sich einige Schritte. Das Wort Schönheit beschrieb ihr leider verschwommenes Profil nur unzureichend.
Seine Sicht wurde klarer und die Außenwelt drang mit all ihren Eindrücken und Gerüchen wieder vollends zu ihm durch. Die mit langen, grünlichen Haaren bedachte junge Frau beobachtete ihn scheu und abwartend. David versuchte sich aufzurichten, sank aber sofort stöhnend zurück aufs Lager. Irgendwas musste seinen Körper durchgekaut und anschließend auf ihm herum getrampelt haben. Er konnte sehen, wie seine Pflegerin auf ihn zu lief und seinen Kopf wieder auf das Kissen bettete, auf dem er vorher drapiert gewesen war. Sanft befühlten schmale Hände sein Gesicht und massierten vorsichtig gezerrte Muskeln in Armen und Beinen. Kundige Bewegungen ihrerseits verrieten, dass sie darin Routine besitzen musste.
Während er die Behandlung genoss, fragte sich David, wie lange er wohl schon an diesem Ort war. Schmerzerfüllt versuchte er den Blick ein wenig zur Seite zu wenden. Grünhaar unterband diesen Versuch sofort mit einer scheltend klingenden Bemerkung und einem vorwurfvollen Ausdruck auf dem fein geschnitten Antlitz. Jemand hinter Davids Lagerstatt sagte etwas zu ihr, woraufhin sie zustimmend nickte, sich aus ihrer knienden Position erhob und anderen Aufgaben außerhalb seines Sichtfeldes zuwandte.
David fand nun etwas Zeit, sich sein Krankenzimmer etwas genauer anzuschauen. Er war in einer großen runden Hütte aus geflochtenem Gras gebracht worden, an deren Wänden Regale aus einem holzähnlichen Material aufgestellt waren. Unzählige aus Ton gefertigte Tiegelchen und Flaschen waren darin aufgereiht. Sein Bett, das aus dem gleichen Stoff wie die Regale gefertigt war und dessen Matratze aus Wolle zu besehen schien, befand sich in der Mitte der Behausung.
Die zweite Person, die David bis dahin nur vom Hören kannte, kam nun an die Seite seines Lagers und musterte ihn kurz. Der Mann war klein gewachsen, wie die die Frau, wobei sich beide auch die gleiche Haarfarbe teilten. Seine Frisur setzte sich aus vielen kurzen Zöpfen zusammen, während der Kopfschmuck seiner Gefährtin lang und offen über deren Schultern fiel. Kleidungstechnisch fiel David der helle, lederartige, mit seltsamen Mustern bemalte Soff auf, aus dem Hemd und Hose des Mannes bestanden. Dieser bemerkte seinen forschenden Blick, wandte sich ab und verschwand durch einen Bastvorhang aus dem Raum.
Es bedurfte einiger Tage voll aufopferungsvoller Pflege seitens Grünhaars (David hatte ihr diesen Spitznamen gegeben, da sie ihm ihren richtigen scheinbar trotz Verständigungsschwierigkeiten nicht verraten wollte.) bis er das erste Mal einen Schritt nach draußen wagen konnte. Schmerzende Knochen und gedehnte Sehnen ließen nur ein erbärmliches Humpeln zu. Der Himmel war klar und die Sonne blendete ihn, als er hinaus trat. Grünhaar hatte ihn in ein leinenes Gewand gesteckt, das Vergleiche mit einem Pyjama aufkommen ließ. Sie war an seiner Seite und passte auf, dass er sich nicht überanstrengte.
David erkannte, dass sein kleiner Verschlag Bestandteil einer Siedlung aus circa zwanzig Hütten war, welche alle die Form von umgestülpten Weidenkörben besaßen. Aus dem Dach eines jeden Hauses befand sich ein einfaches Abzugsloch für den Rauch der Feuerstellen Im Inneren. Nur aus wenigen Bauten kringelten sich dünne Rauchsäulen in die ruhige Luft hinein. Mit einer ausladenden Geste deutete Davids Begleiterin über das Dorf und sagte ein Wort in ihrer schönen, unbekannten Sprache: „Danahju.“ Es war offenbar der Name dieses Ortes, der sich auf der Spitze eines bauchigen Hügels befand. Er kratzte mit den Füßen, an denen er immer noch seine alten Lederslipper trug, über den harten, glatten Boden. Er sah bald aus wie… David vertrieb einen vorwitzigen Gedanken schnell wieder, der sich in seinem vorderen Stirnlappen breit machen wollte.
Seinen nachdenklichen Gesichtsausdruck bemerkend, formulierte Grünhaar einen kurzen Satz in dessen Zentrum ein kurzer gutturaler Begriff stand, dessen Bedeutung David nicht gleich klar wurde: „Briek.“ Sie lächelte über seine fragende Miene, stampfte einmal fest auf und machte mit Mittel- und Zeigefinger eine Scherenbewegung. David verstand schaudernd. Diese Menschen hatten sich wie Polypen auf der Schale eines toten Riesenkrebses niedergelassen, da die ständigen Überschwemmungen ein Leben auf der Ebene sonst unmöglich machten.
Bewunderung ob dem Überlebenskampf dieses einfachen Volkes umspiele die Züge des Stadtmenschen und er ergriff Grünhaars Hand, die überrascht zu ihm aufsah. Er lächelte und überblickte das wogende grüne Land, in dem sich diese kleine Insel der Zivilisation behauptete. Es musste mehr als das hier geben. Große unbekannte Städte. Exotische Länder voll fremdartiger Wesen. Abenteuer, nach denen es Davids Herz ein Leben lang nach verlangt hatte, wollten erlebt werden. ‚Seine’ Welt hätte ihm das nie bieten können. Er sah die Frau an seiner Seite an und sah, dass ihre Lippen leicht gekräuselt waren. Sie strich eine Haarsträhne aus ihrem Gesicht und ließ die Augen auf ihm ruhen. Aber all das hatte noch Zeit. Erst einmal musste er sich erholen und lernen zu >leben<. Etwas, das er viel zu lange vernachlässigt hatte.