David
Wie er aussah, weiß ich genau. Er war groß, hatte dunkle Haare, so ein bisschen wellig, und einen Bart. Nein, kein Schönling, aber sympathisch und genau mein Typ. Ob er Ähnlichkeit mit Bekannten hat? Vater, Bruder, Freund? Nein, eigentlich nicht. Vielleicht ein kleines bisschen mit meinem Schwager, aber wirklich nur ein bisschen.
Auch seine Geschichte war mir früh bekannt. Das ist nämlich so: David hatte sich überlegt, dass er nicht mehr leben wollte. Nun war er aber nicht so ein Typ, der sich einer Zufallslaune hingibt. Andererseits, wenn ihm einmal etwas klar geworden war, schob er Entscheidungen nicht mehr auf die lange Bank. Dann handelte er - konsequent. Er entschied sich, seinen Entschluss zu überprüfen. Drei Monate lang. „Wenn ich“, so lautete seine Abmachung mit sich selbst, „am fünften November immer noch der Meinung bin, dass sich das Leben nicht lohnt, dann mache ich damit Schluss.“
Um das zu überprüfen, führte er ein Tagebuch. Alle möglichen Sachen wurden darin festgehalten: was er wann machte, seine Gedanken dabei und wie er sich fühlte. Und Meditationen. Immer wieder dieselbe Frage: Lohnt sich die ganze Mühe, lohnen sich die Schmerzen und Enttäuschungen? Sie können mir glauben, er hat es sich nicht leicht gemacht. Er wollte doch leben, gut leben! Als Kind hatte er das doch auch gekonnt! Da war er fröhlich gewesen, hatte gute Laune gehabt und Freude am Leben, an der eigenen Kraft, an Bewegung , und die Welt war ein Ganzes für ihn gewesen. Irgendwann, später, hatte das aufgehört – da ist sein Weltbild zerborsten und zersplittert, und er hat in den Scherben gestanden und sich das Blut von den Füßen gewischt.
Wissen Sie, ein Ideal ist ihm nach dem anderen zerbrochen, und wenn er sich noch an eins klammern wollte, hat man ihn verlacht. So zum Beispiel die Sache mit Ilka. Wenn ein Mann schüchtern ist und seine Freundin eine starke Persönlichkeit, wie soll er sich da denn verhalten?
Was Ilka von ihm erwartet hat, war einfach zuviel für ihn, das hat er nicht bringen können, und trotzdem hat er es versucht. Ein autonomer Mensch war die Formel, nach der er strebte, doch herausgekommen ist dabei nur ein Rollentausch: sie gab den Ton an, und er bemühte sich, es ihr Recht zu machen. In Ordnung war es für beide nicht: für sie war er ein Schwächling, für sich selbst ein Versager. Besonders, wenn er sich mit seinem strengen Vater verglich. Aber darauf will ich jetzt nicht näher eingehen; wichtig ist nur, dass diese Beziehung einen Sprung in sein Weltbild brachte.
Und soviel will ich auch gar nicht darüber erzählen. Ich meine, heutzutage kann sich doch jeder selbst ausmalen, wieso ein junger Mensch sich von seinem Leben trennt. Jeder hat schließlich Dinge erlebt wie David. Ob das nun die Demütigungen beim Bund sind, die den Auslöser bilden oder die Isolation beim Studium oder ganz allgemein das Unvermögen, die Welt zu begreifen: es gibt genug Gründe, nein zu sagen, und eigentlich tun das viele Leute irgendwann in ihrem Leben, aber sie handeln nicht danach.
Am Stichtag sah David sich also noch einmal alle Notizen durch, ganz in Ruhe, denn er hatte ja Zeit. Doch, er war sich bewusst, wie wichtig seine Entscheidung sein würde, als er am Fenster saß und genüsslich seine vermutlich letzte Tasse Kaffee trank. Dann fiel sein Blick noch einmal auf eine Eintragung über einen Besuch von seinem Großonkel Willi. Das gab den Anstoß. Willi war nämlich einer von denen gewesen, die nicht mit den Wölfen heulen. Unter Hitler Mitglied der „Bekennenden Kirche“, hatte er später eine Spanierin geheiratet, als die ersten Stimmen gegen Gastarbeiter laut wurden. Wirklich mutig, mit Zivilcourage! Und auch ihn hatten sie hingekriegt, zurechtgerückt, mit der Zeit zermürbt. Wie er jetzt erfahren hatte, hatte dieser alte Kämpfer vor Jahren sein Parteibuch gewechselt, um die Stelle als Richter in einer bestimmten Stadt zu erhalten.
Das alles ging David durch den Kopf, und dann, nachdem er sich versichert hatte, dass alles geregelt war, also alle Rechnungen bezahlt und ein letzter erklärender Eintrag dem Tagebuch zugefügt worden war, das inzwischen den Titel An die Zurückbleibenden trug, schritt er zur Tat. Sein Zimmer lag im achten Stock des Wohnheimes, und er sah einen Augenblick hinunter. „Wie im Schwimmbad“, sagte er sich, „du wirst den Flug mögen!“
So war es auch: Ein letztes Mal das Gefühl der Freiheit, das man in der Luft verspürt, ein letztes Mal die Empfindung der Luft, durch die man gleitet, und der zunehmenden Geschwindigkeit. Dann der Aufprall: kurz der Schmerz, so stark, so gewaltig, dass er sofort aus dem Bewusstsein wich, und während sich die so verhasste, so geliebte Welt immer weiter zurückzog, blieben die Geräusche des Aufpralls, dieser dumpfe Laut, mit dem sein Körper den Boden berührte, und das Krachen seiner zerschmetternden Knochen in seinen Gehörgängen kleben, schwammen hin und her, um ganz langsam auszuklingen.
Das ist also die Geschichte von David, und sie allein würde mir keine Schwierigkeiten machen. Schließlich hat er uns etwas voraus: er ist sich selbst treu geblieben, hat sich nicht das letzte Ideal entreißen lassen, und ich bewundere ihn.
Nun, das Dumme ist, dass diese Bewunderung leider sehr einseitig war. David war nicht zufrieden damit. Seit der Schluss feststand, das heißt, seit ich genau wusste, wie ich es beschreiben wollte, gab er mir keine Ruhe. Jeden Tag, überhaupt in jedem freien Augenblick, in dem ich allein war, kam er an und redete auf mich ein: dass er seine Entscheidung geändert habe, dass er inzwischen genug Kraft habe, den Kampf um das Überleben zu meistern, und das dies doch eigentlich eine viel bessere Lösung sei.
„Ja“, habe ich gesagt, „das stimmt, aber du stirbst ja, um den Menschen, die keine Kraft zum Lebenskampf mehr haben, zu zeigen, dass es etwas Schlimmeres gibt: dass die Resignation, dieses Umgedreht-Werden wie bei dem Willi die schlimmste der Möglichkeiten ist.“
Diese dauernden Diskussionen waren ermüdend, und wie gesagt, ich bewundere David, und er ist auch genau mein Typ. Letztens sind wir beide etwas heftiger geworden, und da meinte er, dass ich es selbst machen sollte, wenn ich die Botschaft so wichtig fände. Ja, und da habe ich mir ein Tagebuch gekauft und einen Stichtag festgesetzt. Dummerweise habe ich meine Abmachung darin festgehalten, und mein Freund hat das Ding in die Finger gekriegt. Na ja, und deshalb bin ich jetzt hier, zur Überwachung.
Und David? Nun, er hat gemerkt, dass ich diese Sache ernst nehme, und so bin ich in seiner Achtung gestiegen. Letztes Mal, als er kam, war er wieder ganz freundlich zu mir und meinte, wir würden schon eine Lösung finden. Auf meinen Einwand, dass eine Figur aus einer Geschichte doch nicht selbst Geschichten schreiben könne, hat er nur lächelnd „Warum nicht?“ gesagt und mir beruhigend seine Hand auf die Schulter gelegt. Und jetzt bin ich eigentlich ganz zuversichtlich.
Was mich nur ein kleines Bisschen beunruhigt, ist, dass seine Besuche immer seltener werden. Und Ihr Kollege, Herr Doktor, hat gesagt, dass unser Ziel sei, dass David seine Besuche unterlässt und ich ihn einfach vergesse. Aber ich weiß gar nicht, ob ich ihn vergessen will, und wenn, dann nicht, bevor ich die Geschichte aufgeschrieben habe. Wissen Sie, ich finde nämlich wichtig, dass die Menschen seine Geschichte erfahren, und außerdem bewundere ich ihn.