Davor und danach
Davor und Danach
Er wird von einer kleinen, schmalen Hand geweckt, die sich um sine Hüfte legt, ihn näher an sich heranzieht. Erschrocken fährt er auf, sieht das Sonnenlicht im Raum und springt aus dem Bett, schiebt die Hand davon, als wäre es ein Teil der Bettdecke. Er sammelt seine Kleidung auf, fährt einmal mit den Fingern durch die Haare und atmet dann tief ein, bevor er leise die Haustür öffnet und verschwindet.
Er hinterlässt nicht, wie früher, Nachrichten.
Danke für die schöne Nacht- ich ruf dich an
Er weiß, dass er das sowieso nie tun wird.
*
Ein Mal war er zu spät aufgewacht, als die Frau- kein Name, keine Daten mehr in seinem Gedächtnis- ihre Augen bereits geöffnet hatte. Sie hatte gelächelt, warm und glücklich und gähnend gesagt, wie sehr sie sich auf das Frühstück danach freue. Sein Blick war zu Eis geworden noch bevor sie zu Ende gesprochen hatte und schneller als sonst war er angezogen und aus der Wohnung verschwunden.
Ein ‚danach’ kann es nicht ohne ein ‚davor’ geben, diese beiden Worte sind miteinander verknüpft, setzten jeweils das andere voraus. In seiner Welt gibt es sowenig ein ‚danach’ wie ein ‚davor’.
Vergangen ist vergangen, sagte er sich immer wieder und bereits mit dem Zuschlagen der Wohnungstür war alles vergessen.
*
„Dasselbe wie immer, bitte.“
Automatisch hält er Ausschau nach einem neuen Abenteuer, während er auf sein Getränk wartet, doch bis auf ein paar vereinzelte Gäste ist um diese Zeit in der Bar noch nichts zu sehen, was ihn vor einem einsamen Abend retten könnte. Fast schon ist der dankbar für den jungen Mann, der sich neben ihn setzt, auf seinen Drink deutet und dasselbe für sich bestellt. Er hebt sein Glas und nickt und sein Gegenüber lächelt freundlich, als er seine Gesten wiederholt.
„Ich bin Daniel“, sagt er und nimmt einen großen Schluck, was wiederum in einem Lächeln endet.
„David“, antwortet er knapp, kann jedoch nicht gegen das Lächeln auf seinen Lippen ankämpfen.
Vielleicht tut ihm ein Abend mit Bier und Männergesprächen mal ganz gut.
*
Er ist für einen Moment orientierungslos, als er aufwacht. Es ist noch dunkel und er kann nur Schemen ausmachen, Schatten, die sich von den weißen Laken abheben. Er wartet auf die kleine Hand, die ihn daran erinnert, dass er gehen muss, doch stattdessen spürt er einen großen Fuß sein Bein entlang wandern, bemerkt große, kräftige Finger auf seiner Brust.
In der Luft hängt der Geruch nach Schweiß und Bier.
Als er endlich vor der Wohnungstür steht, hat er immer noch nicht ganz begriffen, was passiert ist. Er klammert sich an seinen Pullover, den er immer noch in der Hand hält und zwingt sich, zu seiner Routine zurückzukehren.
Kein danach, kein davor- keine unnötige Gedanken über vergangene Dinge. In seinem Kopf schwirrt es und auch als er schon fast zu Hause ist, spürt er noch immer den Fuß auf seinem Bein, der ihn wie ein seltsam entferntes Sehnen zwickt.
*
Natürlich macht er sich keine weiteren Gedanken mehr. Schließlich bedeutet, sich Gedanken über das Gedanken machen nicht, dass man sich Gedanken macht, oder?
Das Schwirren in seinem Kopf hat schon längst einem tiefen Loch Platz gemacht, in dem man alle möglichen Gedanken verstauen kann, ohne sie je wiedersehen zu müssen. Dort stopft er sorgfältig jede Erinnerung, jedes Gefühl- der Fuß, die Finger, der heiße Atmen auf seinem Hals, die Sehnsucht- hinein. Als vorletztes nimmt er das Gefühl des Kusses, zwei paar Lippen - dass alles passt. Dies nimmt soviel Raum ein, dass die letzte Erinnerung, der Name- Daniel- keinen Platz mehr findet, weiter frei in seinem Kopf herumschwirrt.
Er beschließt, das Loch zu vergrößern.
*
Sie ist blond, klein und schlank und wären seine Erinnerungen nicht alle verbannt gewesen, würde er jetzt bemerken, dass sie genau das Gegenteil von seinem letzten Bettgefährten ist. Ihre Stimme ist leise und ihre Hände klein und in ihrem Zimmer riecht es nach Vanille.
Er geht, noch bevor sie sich ausgezogen hat.
*
Er macht sich immer noch keine Gedanken, die Gedanken machen ihn, hüpfen wild in seinem Kopf herum. Er steht im Supermarkt und will ‚Milch’ denken, stattdessen denkt er: ‚Daniel’.
Er sitzt vor dem Fernseher und will ‚Werbung’ denken, stattdessen denkt er: ‚Daniel’.
Er geht in die Stadt und will Frauen treffen, stattdessen läuft er herum und findet sich irgendwann vor einer Wohnung wieder, die ihm bekannt vor kommt. Noch bevor er alles zuordnen kann, spürt er bereits wieder den Fuß auf seinem Bein und sein Arm macht sich selbstständig, betätigt die Klingel.
*
„Hi“, sagt er tonlos, als ihm die Tür geöffnet wird. Ein strahlendes Lächeln empfängt ihn, das nicht ganz die Augen erreicht.
„Hi“.
Einen Moment herrscht Schweigen und er will schon gehen, da ringt er sich durch zu sagen: „Willst du mich nicht reinlassen?“.
Daniel zögert einen Moment, dann öffnet er die Tür ein weiteres Stück und sagt: „Wenn du versprichst, dass du bis zum Frühstück bleibst.“.
Er will zögern, doch diesmal schaltet sich sein Denken nicht in dem richtigen Moment aus und er probiert, das Lächeln seines Gegenübers zu erwidern.
„Versprochen.“
Als er über die Türschwelle tritt, bricht das Loch wieder auf und über Daniel scheint in Neonlettern zu blinken: ‚Davor’. Er geht zu ihm und wischt es weg.
Davor und danach gehören einfach zu fest zusammen. Wenigstens für ein paar Tage noch möchte er sich aus seiner Welt verbannen.