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Dawlish
„Dawlish, Geistjäger!“ Die kleine, schlanke Frau, die mir die Tür öffnet, nickt und lässt mich eintreten. Leise, beinahe schon voll Furcht, schließt sie die Tür hinter mir. Im schwachen Licht der Lampe erkenne ich staubige Teppiche und alte Portraits griesgrämiger Männer und Frauen an den Wänden.
Diese düstere Stimmung, die dieser Flur vermittelt, scheint seine volle Wirkung auf die Frau zu haben, denn als ich mich zu ihr umdrehe und sie mustere, blicke ich in ein blasses, hageres Gesicht. Sie hat wohl lange nicht geschlafen, unter ihren Augen treten dunkle Augenringe hervor und lassen das Gesicht noch stärker an eine Halbtote erinnern.
Ich schüttle den Gedanken ab, Geister sehen anders aus. „Folgen Sie mir bitte. Ich hoffe, Sie können ihm helfen“. Die kleine Frau geht mir voraus und ich folge ihr durch eine Tür am Ende des Flurs. Jeder meiner Schritte auf den Fliesen hinterlässt einen hallenden Ton, der sich wie unheilvolle Musik durch die Räume erstreckt.
Ich folge ihr durch eine weitere Tür, eine Treppe hinauf und wieder stehen wir in einem Flur. Der etwas unangenehme Geruch, den die Teppiche verbreiten, lässt mich nur erahnen, wie lange hier nicht mehr geputzt wurde. Die Frau bleibt vor einer alten Tür stehen. „Bitte, Sie sind meine letzte Hoffnung. Weder Arzt noch Priester konnten ihm helfen. Ich bezahle Sie auch gut“. Ich nicke und sie öffnet mir die Tür.
Ich trete ein und bitte sie, draußen zu warten. Der Raum ist dunkel. Der Geruch nach Schweiß und Schmutz ist hier unangenehm stark. Ich atme tief durch, und versuche in der Dunkelheit etwas zu erkennen. „Wer sind Sie? Was wollen Sie?“. Eine Kerze wird angezündet. Eine hagere Gestalt taucht aus dem Dunkel auf. „Ich will keinen Besuch! Lassen Sie mich in Ruhe! Hören Sie auf, an mir herum zu experimentieren! Sie haben doch keine Ahnung! Verschwinden Sie! Ich will keinen weiteren Arzt in meinem Haus! Verschwinden Sie!“.
Mit erstaunlich kräftiger und lauter Stimme wirft mir der Mann diese Worte entgegen. Dabei macht er einen sehr zerbrechlichen Eindruck, wie er da im Morgenmantel auf seinem Sessel sitzt. „Bitte, Sir, ich will Ihnen nur helf ...“ – „Ja, helfen wollen sie mir alle! Das sagen sie! Aber sie wollen nur experimentieren! Verschwinden Sie, ich brauche keine Hilfe! Ich komme gut allein zurecht!“.
Seine schwarzen Augenbrauen zittern während er mich anschreit, doch seine Augen, seine Augen schauen ins Leere. Sie sehen in meine Richtung, aber sie scheinen durch mich hindurch zu sehen. „Ich habe ihre Schritte gehört. Sie sind kein Arzt, oder? Ärzte gehen energischer. Ärzte wollen immer alles schnell hinter sich bringen. Also, wer sind Sie, wenn Sie kein Arzt sind? Wen hat meine Frau jetzt wieder angeschleppt?“.
Seine Hand tastet neben sich nach einem Glas, packt es und trinkt einen Schluck. Ich schließe die Tür hinter mir. „Ich ... mein Name ist Dawlish. Ich bin Geistjäger, Ihre Frau hofft, ich könnte Ihnen helfen.“ – „Ein Geistjäger, was?“. Er lässt ein raues Lachen hören. „Seit der Ausrottung der Vampire habe ich keinen mehr getroffen ... Schön dass es noch einige von euch gibt. Ich dachte, man hätte euch alle längst verbrannt! Aber glauben Sie mir, selbst Sie können mir nicht helfen.“. Er lehnt sich in seinem Sessel nach vorn, wie, um mich zu mustern. „Sie wissen nicht, worauf Sie sich da einlassen, edler Mann, ich verspreche Ihnen, sollten Sie mir helfen wollen, sind Sie bald tot ... Wenn es nicht noch schlimmer für Sie kommt. Und dann hilft auch kein Gott, keine Kirche, kein Weihwasser mehr ... Dann sind Sie verloren, glauben Sie mir!“ Die letzten Worte spricht er so leise, dass ich Mühe habe, sie zu verstehen.
Trotz meiner jahrelanger Berufserfahrung fährt mir kurz ein Schauer über den Rücken. Das ist Unsinn, sage ich mir. Ich habe schon jegliche Art von Dämonen, Geistern und Untoten zur Strecke gebracht, und dieser Mann scheint mir keinerlei Symptome für eine Besessenheit eines Geistes oder Dämonen zu zeigen. „Ich bin mir meines Berufsrisikos sehr wohl bewusst, Sir. Ich bin kein Anfänger. Was meine Kollegen betrifft. Es stimmt sehr wohl dass beinahe alle verbrannt wurden und noch immer werden. Wir werden verachtet. Als Ketzer bezeichnet. Oh ja, die Kirche hat ja immer Recht. Doch wenn sich plötzlich jemand unter ihnen seltsam verhält, werden wir sofort gerufen, sind wir immer willkommen. Ich habe bisher noch jeden Geist vernichtet, warum sollte es mir gerade diesmal misslingen? Zudem machen Sie mir nicht gerade einen besessenen Eindruck. Erklären Sie mir bitte, weshalb Sie meine Zeit verschwenden, Sie machen mir einen sehr menschlichen Eindruck, im Gegensatz zu manch anderen ...“
Stumm deutet der Mann in eine unbestimmte Richtung. „Irgendwo dort müsste ein weiterer Sessel stehen, edler Mann. Setzen Sie sich, dann werde ich ihnen berichten. Doch seien Sie gewarnt. Wissen Sie einmal davon, stehen Sie auf seiner Liste und Er wird sie jagen bis Sie tot sind. Ist Ihnen das Risiko zu hoch, verlassen Sie mein Haus und jagen Sie weiter Ihre kleinen Untoten und lassen Sie mich in Frieden.“
Unschlüssig beobachte ich den großen mageren Mann in seinem Sessel. Die Kerze wirft dunkle Schattenflecken auf sein Gesicht, das mit ernster Miene in meine Richtung schaut. Jetzt erst fällt mir auf, wie jung er noch ist. Keine dreißig würde ich sagen. Wie kann ein Mann noch so jung sein, und doch so zerbrechlich? Dann schaue ich in die gewiesene Richtung und entdecke einen weiteren Sessel. „Nun?“, fragt er mich. Mitleid regt sich in mir. Ich würde gerne bleiben, allein um zu erfahren, wer „Er“ ist.
Ich bin unsicher. Das erste Mal seit langem. Dieser Auftrag scheint der beinahe sichere Tod zu bedeuten. Oder habe ich etwa Angst? Ich hatte seit Jahren keine Angst mehr. Mir ist dieses Gefühl fremd, und doch scheint etwas zu versuchen, mein Herz zu zerdrücken. Schließlich überwinde ich mich und nehme Platz. Was habe ich schon zu verlieren? Nichts, irgendwann kriegen die Leute von der Kirche mich eh, und ich will lieber von einem Geist getötet werden, als mich verbrennen zu lassen.
Ich atme tief durch, dann fordere ich ihn auf: „Erzählen Sie, ich will tun, was ich kann!“
Ein kurzes Lächeln bildet sich auf den spröden und trockenen Lippen des Mannes. „Zuerst sagen Sie mir bitte Ihren Namen.“ – „Den habe ich Ihnen bereits genannt, Dawlish!“. Wieder lässt er ein Lachen hören: „Ich meinte Ihren Vornamen. Sie haben doch sicher einen?“ – „Michael“, erwidere ich trocken. Wieder lächelt der Mann. „Schön Michael, nennen Sie mich Marcel. Sie sind Engländer?“ Ich nicke, dann fällt mein Blick auf die leeren Augen und erweitere meine Antwort schnell auf ein „Ja“.
Eine Pause entsteht, in der meine Augen über die dreckige Tapete und die schweren Gardienen vor den Fenstern fahren. Gerade will ich Marcel auffordern, doch endlich zu erzählen als er mit leiser Stimme auch schon beginnt. „Ich bin blind, Michael. Ich denke, das haben Sie mittlerweile erkannt. Ich bin blind, und kann doch sehen. Doch sehe ich keine Blumen, keine Menschen, kann keine Bilder betrachten, geschweige denn etwas lesen. Doch genau dies war mein Traum. Wissen Sie, ich habe nie eine Zeile gelesen, habe nie die Bilder in meinen Fluren betrachten dürfen, habe nie auch nur ein einziges Mal meine Frau bewundern dürfen und ich habe auch noch nie eine Rose erblicken dürfen. Genau dies wollte ich aber. Und mir war jedes Mittel recht. Ich war verzweifelt. Schließlich habe ich begonnen, die Geister zu rufen, sie mögen mir doch helfen. Sie mögen mir doch die Fähigkeit geben, zu sehen. Einer von ihnen hat mir die Fähigkeit gegeben. Doch er hat mich verflucht. Ich kann immer noch meine Frau nicht sehen, keine Rose betrachten, keine Zeile lesen ...
Ich bin verflucht, Michael. Ich bin verflucht, indem ich sehen kann. Ich sehe nur eines. Ich sehe das, wovor sich alle Menschen fürchten. Ich sehe den Tod, Michael. Ich sehe meinen Tod. Ich sehe wie ich sterben werde. Tag und Nacht. Im Schlaf, beim Essen, jetzt. Immer wieder die gleiche Szene. Und es gibt kein Entrinnen. Und Er erlöst mich nicht. Er hat seinen Spaß daran, mich leiden zu sehen.“
Marcels Stimme wird leise und heiser und ich spüre kalte Finger meine Brust umstreichen. „Ja... Sie spüren es oder? Sie spüren die Angst die Er verbreitet. Ich spüre – Er hat sie ins Auge gefasst.“ Seine Hände zittern während ich versuche, die kalten Finger der Furcht von mir zu wischen. Meine Hände packen die schweißnasse Stirn, doch ich versuche mich durch das kalte Gefühl in meinem Kopf weiter zu konzentrieren. Seine Frau setzt Hoffnung in mich, und er selbst auch. Ich muss einen Weg finden... ich muss diesen Geist besiegen...
Wieder die kalten Finger, diesmal an meinen Beinen. Ich versuche sie wieder wegzuwischen.
Marcel fängt an zu lachen. Ein kaltes, höhnisches Lachen. Doch sein Gesicht zeigt Schmerz, keine Belustigung. Die Augenbrauen und Kiefermuskeln verkrampfen, das Glas zerspringt unter dem Druck seiner Finger. Durch das Lachen dringt sein Schrei.
„Wer bist du?“, tönt eine frostige Stimme aus dem Mund des Blinden. „Was willst du? Mich vernichten?“ Wieder lachte er, Marcels Körper schüttelt sich in Krämpfen. „Ihr seid so armselig!“
Meine Gedanken rasen, können sich nicht entscheiden ob sie panisch sein wollen, oder nach einer Lösung suchen wollen. Ich bin mir sicher, die ursprünglichen Mittel werden nicht helfen.
Marcels Schreie durchbrechen meine gehetzten Gedanken, dann springt die Tür auf. Die Frau hebt sich leicht schimmernd vom Licht des Flures ab. Starr vor Schreck hält sie inne, das Gesicht eine Fratze aus Angst und Horror. Mein Blick hetzt von ihr zurück zu Marcel. Der hat aufgehört zu schreien, er keucht, schwitzt und atmet hastig.
„Marcel...“ wimmert die Frau leise, sie will herbeieilen, doch Marcel hebt energischer als ich es erwartet hätte die Hand: „Nein Lucy, bleib weg! Du leidest schon genug...“. Seine leeren Augen starren auf einen Punkt rechts neben mir. „Nun?“ fragt er keuchend, seine Hand, die das Glas zerbrochen hatte, blutet.
Ich spüre immer noch die kalten Finger, die hin und wieder versuchen, meinen Körper zu umfassen. „Ich...“, ich überlege fieberhaft was ich sagen soll, ich bin selbst zu geschockt.
Lucy kauert nun schluchzend neben der Tür, sie tut mir leid.
„Ich... ich habe nie so etwas erlebt...“ stammele ich. Ich bin unfähig, mich zu bewegen. Die dunklen Augen von Marcel starren ins Leere. Marcel lacht vor Ironie auf: „Ja, das habe ich bisher von jedem gehört... Es gibt keine Heilung... Nur...“, auf sein Gesicht tritt vorsichtige Zärtlichkeit, „Lucy hofft immer...“. Die Frau an der Tür wimmert.
„Es tut mir leid für Sie...“, keucht Marcel jetzt – seine Gesichtsmuskeln verkrampfen sich erneut. „Gehen Sie!“ ruft er dann plötzlich, „Verschwinden Sie! Ich habe schon genug angerichtet! Verschwinden Sie, solange Sie noch leben!“. Unter sein panisches Rufen dringt wieder ganz leise das gierige, höhnische Lachen, die kalten Finger kommen wieder näher, streicheln meinen Brustkorb, umfassen meine Fußgelenke.
Ich bereue es, in dieses Haus gekommen zu sein. Bereue es, ein Geistjäger zu sein, bereue es geboren zu sein... Ich spüre ein undefinierbares Gefühl in meiner Brust. Kalt, schrecklich und mit einem inneren Wissen verknüpft, dass alles ein Fehler war.
„Ich... Ich muss gehen“, flüstere ich hastig. Ein trauriger Blick bildet das Gesicht des Blinden. „Mögen Sie Ruhe finden“, flüstert er, während seine Finger wieder nicht die seinen zu sein scheinen, sie krallen sich in das Leder des Sessels, treten weiß hervor.
Ich bin froh, als ich merke, dass meine Füße mir gehorchen, versuche nicht hektisch zu wirken und eile zur Tür. Ohne einen Blick auf die wimmernde Frau zu werfen eile ich durch den modrigen Flur, vorbei an den griesgrämigen Gesichtern der Männer und Frauen an den Wänden. Doch die kalten Finger kann ich nicht abschütteln, sie tasten weiter nach meinem Körper und machen mich fast wahnsinnig.
Ich fange an zu rennen, reiße die Tür auf und stürme in die kühle Abendluft. Die Finger sind verschwunden und ich atme tief durch.
Rasch gehe ich die Stufen des großen alten Hauses hinunter, und mit jedem Schritt kehrt die alte gewohnte Wärme zurück in meinen Körper. Meine Schritte werden gemächlicher, langsamer und schließlich schlendere ich die Straße entlang.
Die zwei Scheinwerfer bemerke ich nicht, das Quietschen von Reifen höre ich nicht, ich spüre keine Schmerzen. Ich bin betäubt von Kälte – ein gieriges, höhnisches Lachen ist das Letzte, was ich bei meinem letzten Lebenshauch höre.