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Dazugezählt

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29.09.2004
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Dazugezählt

(Edit: Überarbeitete Version hier)

258 Fragebögen hat er heute erfasst. Eine gute Zahl. Michael verlässt seine Büronische im Demoskopischen Institut, so wie er sie an jedem Tag verlässt. Unauffällig, still und strebsam geht er durch den großen Raum auf den Ausgang zu. Stumm zählt er dabei jeden seiner Schritte mit und hält in Gedanken Antworten auf Abschiedsgrüße der Kollegen bereit: „Danke, ebenfalls.", „Ihnen auch.", „Bis morgen". Freundlich, souverän, selbstbewusst soll es klingen. Wie immer bemerkt ihn jedoch niemand und so verschwinden die Worte unbenutzt wieder in den Tiefen seines Verstandes. 38, 39, Doppelglasschwingtür, 40, 41, Treppe, rechter Fuß zuerst.

Natürlich würde Michael nur ungern Aufzug fahren und damit die Zählmöglichkeiten im Treppenhaus gegen Enge und Unbehagen eintauschen. 60, 61, 62, Treppenabsatz. An einem Tag wie heute, an dem so viele unvorhersehbare Wörter auf ihn warten, braucht er die Sicherheit der Numerik besonders. Die Gedanken an die Kindheit unter dem Tresen der Lotto-Annahmestelle, wo Mutter als Herrscherin über die Welt der Ziffern leberwurstfarbende Pullover strickte, die seinem Ansehen unter Gleichaltrigen den finalen Todesstoß versetzten. Endlose Stunden über Zahlenspielereien brüten und jeden Tag einen noch komplizierteren Schlüssel für den großen Gewinn ersinnen. Das gab ihm Geborgenheit und noch heute glaubt er daran, dass der Jackpot ihm gehören wird, wenn er eines Tags den Code des Lebens knacken kann. 104, 105, die Schwingtür zum zweiten Stockwerk öffnet sich.

„Hallo, Herr Schmid. Früher Feierabend heute?"
Michael hätte sich beinah beim Zählen verhaspelt. Woher kennt die freundliche Sophia aus der Kantine seinen Namen, wo einige der Kollegen im Büro ihn immer noch mit „Herr ... äh ... „ ansprechen? Ein einziges Mal hat er die Mittagspause in der Kantine verbracht, wo Sophia Charme und Wechselgeld aus ihrer Kasse verteilt und dieser eine Versuch hat genügt, ihm deutlich zu machen, dass der kollegiale Small-Talk heute wie in der Vergangenheit nicht seine Königsdisziplin war und er dort wie überall stumm und peinlich alleine sässe. War es die Schuld seiner Mutter, die kaum mit ihm gesprochen hatte, ihre Überfürsorge wegen seiner vermeintlich zarten Gesundheit oder das Fehlen von Vater, Geschwistern und Verwandten, das ihm die Unterhaltung mit anderen so erschwerte? Oder war er einfach ein Mensch, dem die Zahlen mehr bedeuteten als Sprache, der wie ein Mann aus fernem Land eine andere Muttersprache hatte und sich deshalb nur schwer verständigen konnte? Das „Warum" hatte er nie ergründen können.

„Gefälliges Lächeln" befiehlt Michael seinen Gesichtsmuskeln, aber sein Körper produziert statt dessen ein verräterisches Brennen auf die Wangen. Sein Verstand hat mal wieder die falsche Abzweigung erwischt.
„Hundertsieben" antwortet er betont freundlich.
Eine Sekunde lang sieht er die Irritation in Sophias Augen, dann ist sie wieder zurück im angenehm unverbindlichen Plaudermodus, der in Michaels Leben so unerreichbar scheint.

„Sie gehen auch zum Sport heute abend, stimmt‘s?"
Sophia hat ihre Schritte seinen angepasst und geht wie selbstverständlich neben ihm die Treppe hinunter. Michael schafft ein konzentriertes Nicken während er weiter damit beschäftigt ist, die Stufen zu zählen und sich wegen seiner Gesichtsfarbe zu verwünschen.
„Das ist doch endlich mal ein positiver Einfall der Institutsleitung, diese vergünstigten Mitgliedschaften im neuen Fitnessclub. Da geht man doch morgens gleich mit einer ganz anderen Einstellung zur Arbeit. Muß nur noch schnell meine Tasche holen. Also bis nachher ...", fröhlich zwitschernd hebt sie die Hand zum Gruß und verschwindet um die Ecke.

Michael bleibt stumm bei Schritt 127 stehen und wünscht sich zum siebzehnmillionsten Mal, so zu sein wie sie, oder wie seine Kollegen oder wie sonst jemand, der dazugehört. Das wäre sein Hauptgewinn! Im Leben dazuzugehören und in die Gesellschaft eingebunden zu sein. In jeder Situation den passenden Satz, die passende Reaktion liefern zu können, so dass die Menschheit nicht immer über seine Person stolperte. Wenn er heute alle Zahlen gemeistert bekäme, vielleicht würde er dann den Jackpot knacken.

Er nimmt seine Tasche, die Zahlenreihe und die Schritte wieder auf. Sophia hat richtig vermutet, er ist auf dem Weg zum Mitarbeiter-Ausgleichssport im Studio um die Ecke. Vorgestern hat er sich erstmals die Geräte zeigen lassen. Gewichte, Wiederholungen, jede Menge Zahlen dort. Jeder trainiert für sich selbst und doch ist man unter Leuten. Zudem erinnert er sich noch gut an die Studie vom letzten Herbst, in der Fitness-Einrichtungen bei den Kontaktmöglichkeiten seiner Altersgruppe in den obersten Rängen waren. Genau bei 258 Schritten betritt er das Studio. Die erste Übereinstimmung! Die Zahlen sind ihm wohlgesonnen heute, er wird sie bezwingen und sein Leben wird endlich eine Wendung erfahren.

***​

133, 134, 135 ... der Puls hämmert nun die neunte Minute mit über 140 Schlägen durch den ganzen Körper. Benommen sitzt Michael in der Ecke auf der obersten Saunabank, ganz auf das Pochen in seinem Kopf konzentriert. Seine Glieder fühlen sich ausgelaugt an von den ungewohnten Übungen. Sein Verstand schwirrt von Zahlen, Quersummen, Potenzen, Wurzeln in die er die einzelnen Stationen seines Trainings zerlegt hat. Die Welt außerhalb seines Körpers ist in einer anderen Galaxie. 138, 139 ... er wird es heute schaffen. Den ganzen Tag hat er gerechnet, verglichen, gezählt. Nur noch eine Minute, dann hat er die letzte selbstauferlegte Aufgabe bewältigt: 10 Minuten in der Sauna mit 140 Puls. 10.140 - Sophias Personalnummer, die er heimlich dem Computer entlockt hat. Noch einmal über sich selbst triumphieren, dann wird er Sieger sein. Akzeptiert. Mittelpunkt. Dazugehören. Alles, was er sich immer gewünscht hat. Letzte Runde: 55, 56, ... seine Haut brennt, sein Mund ist wie mit Watte gefüllt. Zahlen tanzen vor seinen Augen, legen sich über imaginäre weibliche Rundungen, deren Anblick er gleichzeitig sucht und flieht. Er giert nach Wasser, aber der Wille bleibt. 112, 113 ... was war das? Gestolpert beim Zählen? Jetzt nur keinen Fehler machen. Der Herzschlag will ihn narren. Ändert den Rhythmus, zögert, überspringt. 126, 127 ... Die Hitze nimmt ihm den Atem. Michael steht taumelnd auf, sein linker Arm schmerzt plötzlich stärker als alles andere. Er hält diesen Raum keine Sekunde länger aus, legt die Hand auf den Türgriff und drückt. 131, 132 ... nichts bewegt sich! Seine Muskeln sind wie Butter. Eingesperrt! Panisch verkrampft sich sein Herz. Plötzlich ein Ruck! Die Tür wird von außen aufgerissen. 133, 134 ... Sophia steht vor ihm, ein Handtuch lose um den Körper geschlungen. Sieht in seine Augen und lächelt.
Und Michaels Welt wird schwarz.

***​

Stimmen überschreien hektisch ein feines Piepen. Hastige Schritte. Worte ohne Sinn. Etwas klebt auf seiner Brust, Gummi schließt sich über seinen Mund, feucht-kühle Fliesen unter seinem Körper.
„Er ist wieder da! Puls ist schwach!"
Piep, piep ... 135, 136 ... Michael schlägt die Augen auf. Menschen stehen um ihn herum. Gesichter schauen auf ihn herab. Viele Menschen, die Kollegen - und Sophia. Piep, 137 Alle blicken nur auf ihn, er sieht Interesse in ihrem Blick, spürt Mitgefühl. Sophia ruft seinen Namen ... piep, 138 ... Er hat es geschafft! Piep, 139 ... Die Gesellschaft hat ihn aufgenommen! 140 ... Jackpot! Pieeeeeeeeeeeee....

 
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Dazugezählt - Neue Version

258 Fragebögen hat er heute erfasst. Eine gute Zahl. Michael verlässt seine Büronische im Demoskopischen Institut. Mit gesenktem Kopf geht er zielstrebig durch den großen Raum auf den Ausgang zu. In Gedanken hält er Antworten auf Abschiedsgrüße der Kollegen bereit. 37 Schritte. Wie immer bemerkt ihn jedoch niemand und so verschwinden die Worte unbenutzt wieder in den Tiefen seines Verstandes. 38, 39, Doppelglasschwingtür, 40, 41. Mit einem leisen „Ping" öffnet sich der Aufzug, atmet das Gefühl nach Enge und Unbehagen aus. Michael wendet sich ab, stößt die schwere Tür zum Treppenhaus auf. Der Geruch von Reinigungsmittel, Metall und abgestandenem Rauch schlägt ihm entgegen. 42, 43, 44, Treppe, rechter Fuß zuerst. Das monotone Klacken seiner Absätze und die voraussehbaren Zahlenfolgen der einzelnen Etagen beruhigen auch heute. 104, 105, die Tür zum zweiten Stockwerk öffnet sich.

„Hallo, Herr Schmid. Früher Feierabend heute?"
Michael erstarrt, nimmt den Fuß wieder zurück auf die Stufe, auf Schritt 110. Notruf. Hilfe! Sofia hat ihn angesprochen. Erinnert sich an seinen Namen. Wie ein Spot für falsches Verhalten taucht die Mittagspause in der Kantine vor seinem inneren Auge auf. Vor sieben Monaten hatte er dort zum ersten und einzigen Mal gegessen. Wo Sophia Charme und Wechselgeld aus ihrer Kasse verteilt. Ihr Lächeln, eine kurze Berührung ihrer Hand, als sie ihm die Münzen gab. Ihr interessierter Blick auf seine Chipkarte und ihre Stimme, die freundlich seinen Namen sagte. Mit wirbelnden Gefühlen hatte er sich an einen Tisch voller Menschen gesetzt, voller Hoffnung - und dann nicht mal den einfachsten Satz aus einer handvoll Wörter zu bilden gewusst. Selbst der vietnamesische Informatik-Praktikant hatte sich in seinem kauderwelschen Singsang besser verständigt als er.

Michael weiß, dass er jetzt lächeln sollte, statt dessen fühlt er seine Wangen brennen. Er starrt die Treppenstufe an. Nur nicht die Schrittzahl vergessen. Stille. Erwartung zerrt an ihm. Er muss antworten!
„Hundertzehn" sagt er betont freundlich. Sieht hoch, eine Sekunde lang und sieht die Irritation in Sophias Augen. Ein kalter Schauer, er senkt den Blick und taumelt hölzern zwei Stufen nach unten. 111, 112. Alarm! Feuer! Falsche Antwort!

„Sie gehen auch zum Sport heute Abend, stimmt‘s?"
Sophia plaudert munter weiter, hat ihre Schritte seinen angepasst und geht wie selbstverständlich neben ihm die Treppe hinunter. Michael schafft ein konzentriertes Nicken während seine Augen an den Stufen und sein Verstand an den Schrittzahlen klebt.
„Das ist doch endlich mal ein positiver Einfall der Institutsleitung, diese vergünstigten Mitgliedschaften im neuen Fitnessclub. Da geht man doch morgens gleich mit einer ganz anderen Einstellung zur Arbeit. Muss nur noch schnell meine Tasche holen. Also bis nachher ..." Wie ein kleiner Vogel hat sie den Zweig, auf dem sie eben saß, schon wieder verlassen und fliegt geschäftig weiter. Erst jetzt hebt Michael den Kopf und wagt es, ihr nachzusehen. 121 Schritte. 121 freundliche Wörter hätte jeder andere mit ihr zu wechseln gewusst. Und er? Nicht einmal eins. Nicht eine passende Reaktion. Nicht ein eleganter Satz.

Nur Zahlen, Zahlen, Zahlen. Wie damals in der Kindheit, als er statt mit Gleichaltrigen zu spielen, unter dem Tresen der Lotto-Annahmestelle saß. Wo Mutter als Herrscherin über die Welt der Ziffern leberwurstfarbene Pullover strickte, die seinem Ansehen unter Gleichaltrigen den finalen Todesstoß versetzten. Stunde um Stunde konnte er dort über Zahlenspielereien brüten und träumen, dass er eines Tages den Jackpot knacken würde - so zu sein, wie alle anderen.

Er nimmt seine Tasche, die Schritte und die Zahlenreihe wieder auf. Sophia hat richtig vermutet, er ist auf dem Weg zum Mitarbeiter-Ausgleichssport im Studio um die Ecke. Vorgestern hat er sich erstmals die Geräte zeigen lassen. Gewichte, Wiederholungen, jede Menge Zählmöglichkeiten dort. Jeder trainiert für sich selbst und doch ist man unter Leuten. Man könnte sich unterhalten, fällt aber auch nicht unangenehm auf, wenn man es nicht tut. Genau bei 258 Schritten betritt er das Studio. Die erste Übereinstimmung! Die Zahlen sind ihm wohlgesonnen heute, er wird sie bezwingen und sein Leben wird endlich eine Wendung erfahren.

***​

133, 134, 135 ... der Puls hämmert nun die neunte Minute mit 140 Schlägen durch den ganzen Körper. Benommen sitzt Michael in der Ecke auf der obersten Saunabank, ganz auf das Pochen in seinem Kopf und den schleichend langsamen Sekundenzeiger der Wanduhr konzentriert. Seine Glieder fühlen sich ausgelaugt an von den ungewohnten Übungen. Sein Verstand schwirrt von Zahlen, Quersummen, Potenzen, Wurzeln in die er die einzelnen Stationen seines Trainings zerlegt hat. Die Welt außerhalb seines Körpers ist in einer anderen Galaxie und dennoch fühlt er sich bedrängt von der Begrenztheit des Raumes und der Nähe fremder Körper. 138, 139 ... er wird es heute schaffen. Den ganzen Tag hat er gerechnet, verglichen, gezählt. Nur noch eine Minute, dann hat er die letzte selbstauferlegte Aufgabe bewältigt: 10 Minuten in der Sauna mit 140 Puls. 10.140 - Sophias Personalnummer. Heimlich dem Computer entlockt. Sophia. Sophia. Noch einmal über sich selbst triumphieren, dann wird er Sieger sein. Akzeptiert. Dazugehören. Alles, was er sich immer gewünscht hat. Letzte Runde: 55, 56, ... seine Haut brennt, sein Mund ist wie mit Watte gefüllt. Zahlen tanzen vor seinen Augen, legen sich über imaginäre weibliche Rundungen, deren Anblick er panisch vermeidet. Er giert nach Wasser, aber der Wille bleibt. 112, 113 ... was war das? Gestolpert beim Zählen? Jetzt nur keinen Fehler machen. Der Herzschlag will ihn narren. Ändert den Rhythmus, zögert, überspringt. 126, 127 ... Die Hitze nimmt ihm den Atem. Michael steht taumelnd auf, sein linker Arm schmerzt plötzlich stärker als alles andere. Er hält diesen Raum keine Sekunde länger aus, legt die Hand auf den Türgriff und drückt. 131, 132 ... nichts bewegt sich! Seine Muskeln sind wie Butter. Eingesperrt! Panisch verkrampft sich sein Herz. Plötzlich ein Ruck! Die Tür wird von außen aufgerissen. 133, 134 ... Sophia steht vor ihm, ein Handtuch lose um den Körper geschlungen. Sieht in seine Augen und lächelt.
Und Michaels Welt wird schwarz.

***​

Stimmen überschreien hektisch ein feines Piepen. Hastige Schritte. Worte ohne Sinn. Etwas klebt auf seiner Brust, Gummi schließt sich über seinen Mund, feucht-kühle Härte unter seinem Körper. „Er ist wieder da! Puls ist schwach!"
Piep, piep ... 135, 136 ... Michael schlägt die Augen auf. Menschen stehen um ihn herum. Gesichter schauen auf ihn herab. Viele Menschen, die Kollegen - und Sophia. Piep, 137 Alle blicken nur auf ihn, er sieht Interesse in ihrem Blick, spürt Mitgefühl. Sophia ruft seinen Namen ... piep, 138 ... Er hat es geschafft! Piep, 139 ... Die Gesellschaft hat ihn aufgenommen! 140 ... Jackpot! Pieeeeeeeeeeeee....

 

So,
ich habs nochmal überarbeitet. Ich hoffe, es ist besser so und nicht einfach nächtlichem Irrsinn erlegen. Darf euch nochmal herzlich um Vergleichsmeinung bitten.

Dankeschön,

kira.

 

Hallo kira,

Hat mir gut gefallen. Das Ganze wirkt jetzt viel runder.
Ein Fehler ist mir aufgefallen:
»Wie damals als Kind, wo er statt mit Gleichaltrigen zu spielen, unter dem Tresen der Lotto-Annahmestelle sass.«
- 'als' (Temporalbestimmung) statt 'wo' (Lokalbestimmung)
- 'saß' statt 'sass'

Lieben Gruß,
moonaY

 

Hey moonaY,
danke, dass ich dein Frühstück sein durfte! :) Und freut mich, dass es sich verbessert hat. Heute morgen war ich mir nicht mehr ganz so sicher, was ich da gestern nacht fabriziert hab.

... als Kind, als er statt mit Gleichaltrigen ...? Hm, zweimal "als" geht auch schlecht. Muss ich anders machen.

'saß' statt 'sass'
Elender neue/alte-Rechtschreibung-Konflikt! Bringt mich mal noch ins Grab! Danke.

Gruß,

kira.

 

Liebe kira!

Also ich hab mich erst eingehend mit der vorigen Version beschäftigt, da ich nicht sah, daß es da noch eine zweite gibt… :Pfeif: Erst, als ich dann die Kritiken las, stieß ich am Ende auf die neue Version… Damit es nicht noch jemandem so geht, füg doch bitte im ersten Posting oben einen Link zur neuen Version ein, hm?
Nun hab ich auch die zweite Version gelesen – Deinem Wunsch nach Vergleichsmeinung kann ich jetzt natürlich gut nachkommen. :)

Gefallen hat sie mir eigentlich ganz gut, allerdings mit der Einschränkung, daß sie für mich mehr eine Karikatur eines solchen Menschen darstellt. Es stimmt zwar, daß man mittels Beschäftigung mit Zahlen, Rechnen, logischem Denken usw. vor der Gefühlswelt flüchten kann, aber wie Du das darstellst, ist es schon gar sehr überzeichnet. – Als Karikatur ist die Geschichte aber recht unterhaltsam und gut zu lesen, auch hast Du wirklich viele gute Ideen drin verpackt. :)

Details hier der Reihe nach:

Hier gefällt mir die alte Version wesentlich besser:

neu schrieb:
In Gedanken hält er Antworten auf Abschiedsgrüße der Kollegen bereit. 37 Schritte.
alt schrieb:
Stumm zählt er dabei jeden seiner Schritte mit und hält in Gedanken Antworten auf Abschiedsgrüße der Kollegen bereit: „Danke, ebenfalls.", „Ihnen auch.", „Bis morgen". Freundlich, souverän, selbstbewusst soll es klingen.
Einzig würde ich »Stumm« durch »In Gedanken« ersetzen und nach »hält« das »in Gedanken« streichen oder durch »dabei« ersetzen.
Bei »„Danke, ebenfalls.", „Ihnen auch.", „Bis morgen".« würde ich statt den Punkten jeweils ein Rufzeichen machen; da nachher ein Beistrich (=Komma) kommt, würde der Punkt jedenfalls entfallen.

»Mit einem leisen „Ping" öffnet sich der Aufzug, atmet das Gefühl nach Enge und Unbehagen aus. Michael wendet sich ab,«
– das klingt jetzt ein bißchen so, als wollte er ursprünglich mit dem Aufzug fahren und hätte es sich erst beim Anblick der Kabine anders überlegt, in der alten Version steht aber sogar, daß er gar nur ungern mit dem Aufzug fahren würde – hier hat mir ebenfalls die vorige Version besser gefallen.

»Michael erstarrt, geht zwei Stufen rückwärts wieder auf Schritt 110. Notruf. Hilfe!«
– die Sache mit dem Notruf gefällt mir sehr gut (obwohl ich nie begreifen werde, warum der bei Euch 110 ist), aber ich würde ihn doch eher zufällig auf der Stufe stehenbleiben lassen, die zwei Stufen rückwärts wirken etwas zu übertrieben.

»Michael weiß, dass er jetzt lächeln sollte, statt dessen fühlt er seine Wangen brennen. Er starrt die Treppenstufe an. Nur nicht die Schrittzahl vergessen. Stille. Erwartung zerrt an ihm. Er muss antworten!
„Hundertzehn" sagt er betont freundlich.«
– hier würde ich ihn statt »Hundertzehn« eine der (in der alten Version) vorher zurechtgelegten Antworten sagen lassen (die natürlich auch nicht paßt).
Es wäre ja auch unwahrscheinlich, daß er so gar keine Worte rausbringt, denn dann könnte er doch gar nicht arbeiten. Deshalb würde ich hier einmal eine Ausnahme machen. ;-)

»Vor sieben Monaten hatte er dort zum ersten und einzigen Mal gegessen.«
– hatte er zum ersten und einzigen Mal dort gegessen

»Dort wo Sophia Charme und Wechselgeld aus ihrer Kasse verteilt.«
– Dort, wo – würde das »Dort« allerdings streichen, da der Zusammenhang mit dem vorigen Satz ohnehin klar ist.

»und dann nicht mal den einfachsten Satz aus einer handvoll Worte zu bilden gewusst.«
– hier gehört tatsächlich »Wörter«, da sich ein Satz aus einzelnen Wörtern zusammensetzt. (»Worte« haben nicht unbedingt etwas mit Zitaten zu tun, aber sie sind auf jeden Fall sinnzusammenhängend.)

»Selbst der vietnamesische Informatik-Praktikant neben ihm hatte sich…«
– »neben ihm« brauchst Du eigentlich nicht

»„Sie gehen auch zum Sport heute abend, stimmt‘s?"«
– heute Abend

»Muß nur noch schnell meine Tasche holen.«
– da Du sonst auch neue Rechtschreibung verwendest: Muss

»Also bis nachher ...", wie ein kleiner Vogel hat sie den Zweig, auf dem sie eben sass,«
– nachher ..." Wie … (der Satz hat ja mit der direkten Rede nichts mehr zu tun)
– saß – auch in neuer RS: nach langem Selbstlaut: ß

»121 freundliche Worte hätte jeder andere mit ihr zu wechseln gewusst.«
– hier wäre auch »Wörter« richtiger, da Du wohl pro Stufe ein Wort meinst, oder?

»leberwurstfarbende Pullover strickte,«
– ohne d: leberwurstfarbene

»dass er eines Tages den Jackpot knacken würde - akzeptiert zu sein.«
– als Kind hat er wohl weniger in Worten wie »akzeptiert zu sein« gedacht, sondern vielleicht »Freunde finden/haben«, oder vielleicht noch besser zum Jackpot passend: »Freunde gewinnen«

»Stimmen überschreien hektisch ein feines Piepen. Hastige Schritte. Worte ohne Sinn. Etwas klebt auf seiner Brust, Gummi schließt sich über seinen Mund, feucht-kühle Fliesen unter seinem Körper. „Er ist wieder da! Puls ist schwach!"«
– Ich denke, der Puls müßte bereits vor dem Bewußtsein wieder da sein, und nicht umgekehrt. Obendrein ist es eher unwahrscheinlich, daß er seine Situation so schnell realisiert, nachdem er bewußtlos war. Die Wahrnehmung macht nicht »klick« und ist wieder da, sondern sie kommt langsam zurück. Also zum Beispiel halte ich es für wahrscheinlich, daß er die Kälte spürt, aber nicht daß er an Fliesen denkt. (Aber hätten ihm die anderen, oder wenigstens die Sanitäter, nicht wenigstens eins der Badetücher, die in der Sauna sicher vorhanden sind, untergelegt? Sophia hatte doch da grad eins umgehängt…;))


Liebe Grüße,
Susi :)

 
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Hi Häferl,

danke für die eingehende Beschäftigung mit den beiden Versionen. Du hast recht, ich werde den Hinweis auf die Überarbeitung gleich noch einfügen. Aber der Umstand, dass du beide gelesen hast und vergleichen konntest, war ja nun auch nicht schlecht ;).

Als Karikatur war die Figur von Michael eigentlich nicht gedacht. Sicher gibt es wahrscheinlich nur wenige Leute, die so extrem funktionieren. Aber ich wollte einfach ein Bild von jemandem zeichnen, dessen Gefühls- und Verhaltensmuster auf anderen Bahnen laufen, ohne jetzt unbedingt absolut authentisch sein zu müssen.

Deine Korrekturen und Anregungen sind sehr hilfreich. Die neue RS hat mich doch an vielen Stellen gehörig aus der Bahn geworfen und obwohl es für die ss/ß-Sache nachvollziehbare Regeln gibt, krieg ich sie einfach nicht wirklich in meinen Kopf. :dozey: Ich werd deine Hinweise irgendwann in der nächsten Woche nochmal durchgehen und einpflegen, wenn ich meinen derzeitigen Chaosberg einigermaßen überwunden habe.

Lieben Gruß,

kira.

 

moin, kira!

sag du noch mal, du könntest nich schreiben. dann jag ich dich aber einmal ums karee, junge dame! :D

die idee ist in der tat richtig gut und auch sehr schön umgesetzt, wobei ich mich der wolfine anschließen muss: mir gefällt die urversion besser, sie ist dichter, detailreicher, hat mehr "fleisch". die neufassung ist mir zu hastig irgendwie, nackt und auf das gerippe reduziert - nich so schön. "mitleiden" und erleben konnte ich nur in der ersten fassung so richtig. ansonsten wie gesagt eine gelungene geschichte, die durch die zahlenspiele zwar etwas sperrig wirkt, dafür aber mal was anderes versucht als stets die gleiche mitleidsmetaphorik etc.

fazit: cool! ;)

 

Hey,
danke fürs Rauskramen, Lesen und besonders natürlich fürs Gutfinden.

@Wolfine: Mönsch! Eine Empfehlung! Meine Erste! :bounce:
Der Absatz, den du bekrittelst, ist ja auch einer der Hauptpunkte, weswegen ich zu einer neuen Version umgearbeitet habe. Nun sieht es so aus, als sollte ich nochmal an der alten feilen. Dabei sehe ich gerade, dass ich bei der neuen Häferls Korrekturen auch noch nicht eingepflegt habe. Ich seh schon, ich muss nochmal was tun. ;)

@Horni: Ich hab nie gesagt, dass ich es nicht kann. [Klischee on] Männer hören ja niee richtig zu! *maul* [/Klischee off] Ich habe nur seit kg.de die Problematik, dass ich erst mal endlos über den Ideen und dann nochmal endlos über den einzelnen Sätzen brüte, so dass kaum eine Geschichte mehr zu einem Ende zu kommen scheint, weil ich zudem mich selber ständig kritisch hinterfrage. Mühsam bis zum Exzess also. Weswegen mir mein pragmatischer Schweinehud immer den Satz "Lass es! Lohnt den Aufwand nicht!" ins Hirn plärrt. Wenns aber doch gefallen hat, hab ich nachweislich nen Grund, dem Kerl das Maul zu stopfen und weiterzumachen. :dozey:

 

Hallo kira,

eine gute kg, von der Idee bis hin zur Umsetzung. Der Prot wirkt gehetzt und man versteht gut die Abhängigkeit gegenüber den Zahlen. Man muss sich aber auch fragen, ob dieser Mensch nicht bei konsequenter Beachtung seiner Rückzugsmöglichkeiten in den Zahlenkosmos ein einfacheres Leben hat, als jemand der sich mit einer Überflutung an Emotionen „rumärgert“. Da liegt meiner Ansicht nach ein Problem deiner Geschichte. Trotz dieses Rückzugs in seine Welt, wird er eben mit der Gefühlwelt konfrontiert. Unsicherheit, Sehnsucht etc, eigentlich dürfte das nicht passieren, sonst würde er seine Methode nicht verfolgen. Kann aber auch sein, dass ich das falsch sehe. Dennoch: Hat mir gut gefallen!

Einen lieben Gruß...
morti

 

@Jynx:
Argh! Nun muss ich wohl doch den Rat der Mehrheit annehmen und mit der Originalversion weiterüben. Wo ich grad erst gestern beim Vergleichen festgestellt habe, dass mir meiner Einschätzung nach durch die Überarbeitung eine deutliche Verbesserung des Textes gelungen ist. Ja, stimmt schon. Der Tonfall ist hier wesentlich knapper. Aber irgendwie passt das ja auch gerade zu einer Geschichte über jemanden, der es mit Worten nicht so drauf hat, oder? Wie auch immer - ihr seid das Publikum. Naja, du ja nun leider doch nicht. Schade. :(

@morti:
Tja, viele Menschen kämen mit dem Leben leichter zurecht, wenn sie sich auf ihre Ecke beschränken würden. Leider kann man seine Wünsche und Sehnsüchte nicht immer mit der Logik zum Schweigen bringen. So geht es diesem Mann eben auch. Er möchte gerne dabei sein, auch wenn er weiß, dass es ihm von seinen Anlagen her nicht liegt. Deshalb erfindet er seine eigene Methode. Der Mensch ist voller Widersprüche - und daher die Geschichte auch. ;)

Euch beiden Danke fürs Lesen und die Auseinandersetzung mit dem Text.

Gruß,
kira.

 

Hallo kira,

da muss ich den anderen mal widersprechen - mir hat die zweite Version besser gefallen. Die hast du auch Samstag gelesen, oder? Hm, glaube ich zumindest.

Die Geschichte ist wirklich gelungen, das dachte ich Samstag schon. Wie der Prot sich verbissen an die Zahlen klammert, weil es das einzige ist, worin er souverän ist, was verlässlich ist - das hast du wirklich gut dargestellt. Auch das Ende hat mir gefallen, die Zerstörung der Illusion, dass irgendwann alles gut wird. Merkwürdigerweise ist mir gerade erst durch die anderen Kommentare die doppelte Bedeutung des Titels aufgegangen, aber das wird an meiner Müdigigkeit liegen...

Um noch Mal zur zweiten Version zu kommen: Sie wirkte auf mich etwas dichter, einige Erklärungen aus der 1. Fassung (die Suche nach Geborgenheit, die familären Defizite) sind verschwunden. Das ist mir viel lieber so.

Liebe Grüße,
Juschi

 

Hi Juschi,
sorry, dass ich mich jetzt erst auf deine Antwort melde. Ja, ich hatte doch gegen alle guten Ratschläge die zweite Version zum Lesen gewählt, weil die für mich einfach präziser wirkt und in der ersten - wie du es auch empfindest - einige unnötige Erklärungen stecken.
Tut gut, das auch von außen bestätigt zu bekommen. Danke.
Gruß,
kira.

 

Hi kira,

ich las erst die neuere, dann aber aufgrund der geteilten Meinungen der verehrten Leserschaft auch noch die alte Version.
Mir gefällt die neuere besser. Man weiß, dass es überall schräge Vögel gibt und dein Prot ist einer davon. Ob das nun erblich bedingt ist oder aufgrund mangelnder Zuneigung der Eltern so entstanden ist, spielt für mich keine Rolle , so dass ich auf diese Infos verzichten kann.

Ich finde die Idee zur Geschichte sehr erfrischend. Ich konnte den Prot auch ansatzweise verstehen, denn ich habe mir als Kind selber auch so Leistungsspiele (zb damit ein bestimmter Wunsch in Erfüllung geht, muss ich soundsoweit tauchen) aus eigenem Antrieb heraus überlegt. Aber du weißt ja, dass das für mich auf die heutige Zeit keine bedrohlichen Auswirkungen hatte ;).

Was mich noch etwas fragend zurücklässt, aber das müsstest du ja als Frau von deinem Fachmann wissen: Haben die Sanis bzw. der Notarzt irgendwelche Geräte mobil vor Ort, die die Herzfrequenz piepsend anzeigen?
Mir wäre das das Neueste.

Sehr gerne gelesen.

Lieber Gruß
bernadette

 

Hi bernadette,
danke fürs Lesen und Vergleichen. Wie interessant, dass doch die Wertungen der beiden Geschichten so unterschiedlich ausfallen.
Ich denke, dass solche Zahlenspielchen gar nicht so absurd sind. Wer hat im Teenageralter nie "Er liebt mich, er liebt mich nicht, ..." Blümchen gerupft? Glücklicherweise sind wir trotzdem am Leben geblieben. ;)
Das Piepen vom EKG-Gerät sowie die anderen medizinischen Gegebenheiten hab ich natürlich auf Authentizität geprüft. Kannst denken, dass ich da nicht irgendwas hinschluder, wo nachher gleich die nächsten Angehörigen sagen: "Stimmt gar nicht. Gibts gar nicht. Kann gar nicht sein." :D

 

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