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Dazugezählt
(Edit: Überarbeitete Version hier)
258 Fragebögen hat er heute erfasst. Eine gute Zahl. Michael verlässt seine Büronische im Demoskopischen Institut, so wie er sie an jedem Tag verlässt. Unauffällig, still und strebsam geht er durch den großen Raum auf den Ausgang zu. Stumm zählt er dabei jeden seiner Schritte mit und hält in Gedanken Antworten auf Abschiedsgrüße der Kollegen bereit: „Danke, ebenfalls.", „Ihnen auch.", „Bis morgen". Freundlich, souverän, selbstbewusst soll es klingen. Wie immer bemerkt ihn jedoch niemand und so verschwinden die Worte unbenutzt wieder in den Tiefen seines Verstandes. 38, 39, Doppelglasschwingtür, 40, 41, Treppe, rechter Fuß zuerst.
Natürlich würde Michael nur ungern Aufzug fahren und damit die Zählmöglichkeiten im Treppenhaus gegen Enge und Unbehagen eintauschen. 60, 61, 62, Treppenabsatz. An einem Tag wie heute, an dem so viele unvorhersehbare Wörter auf ihn warten, braucht er die Sicherheit der Numerik besonders. Die Gedanken an die Kindheit unter dem Tresen der Lotto-Annahmestelle, wo Mutter als Herrscherin über die Welt der Ziffern leberwurstfarbende Pullover strickte, die seinem Ansehen unter Gleichaltrigen den finalen Todesstoß versetzten. Endlose Stunden über Zahlenspielereien brüten und jeden Tag einen noch komplizierteren Schlüssel für den großen Gewinn ersinnen. Das gab ihm Geborgenheit und noch heute glaubt er daran, dass der Jackpot ihm gehören wird, wenn er eines Tags den Code des Lebens knacken kann. 104, 105, die Schwingtür zum zweiten Stockwerk öffnet sich.
„Hallo, Herr Schmid. Früher Feierabend heute?"
Michael hätte sich beinah beim Zählen verhaspelt. Woher kennt die freundliche Sophia aus der Kantine seinen Namen, wo einige der Kollegen im Büro ihn immer noch mit „Herr ... äh ... „ ansprechen? Ein einziges Mal hat er die Mittagspause in der Kantine verbracht, wo Sophia Charme und Wechselgeld aus ihrer Kasse verteilt und dieser eine Versuch hat genügt, ihm deutlich zu machen, dass der kollegiale Small-Talk heute wie in der Vergangenheit nicht seine Königsdisziplin war und er dort wie überall stumm und peinlich alleine sässe. War es die Schuld seiner Mutter, die kaum mit ihm gesprochen hatte, ihre Überfürsorge wegen seiner vermeintlich zarten Gesundheit oder das Fehlen von Vater, Geschwistern und Verwandten, das ihm die Unterhaltung mit anderen so erschwerte? Oder war er einfach ein Mensch, dem die Zahlen mehr bedeuteten als Sprache, der wie ein Mann aus fernem Land eine andere Muttersprache hatte und sich deshalb nur schwer verständigen konnte? Das „Warum" hatte er nie ergründen können.
„Gefälliges Lächeln" befiehlt Michael seinen Gesichtsmuskeln, aber sein Körper produziert statt dessen ein verräterisches Brennen auf die Wangen. Sein Verstand hat mal wieder die falsche Abzweigung erwischt.
„Hundertsieben" antwortet er betont freundlich.
Eine Sekunde lang sieht er die Irritation in Sophias Augen, dann ist sie wieder zurück im angenehm unverbindlichen Plaudermodus, der in Michaels Leben so unerreichbar scheint.
„Sie gehen auch zum Sport heute abend, stimmt‘s?"
Sophia hat ihre Schritte seinen angepasst und geht wie selbstverständlich neben ihm die Treppe hinunter. Michael schafft ein konzentriertes Nicken während er weiter damit beschäftigt ist, die Stufen zu zählen und sich wegen seiner Gesichtsfarbe zu verwünschen.
„Das ist doch endlich mal ein positiver Einfall der Institutsleitung, diese vergünstigten Mitgliedschaften im neuen Fitnessclub. Da geht man doch morgens gleich mit einer ganz anderen Einstellung zur Arbeit. Muß nur noch schnell meine Tasche holen. Also bis nachher ...", fröhlich zwitschernd hebt sie die Hand zum Gruß und verschwindet um die Ecke.
Michael bleibt stumm bei Schritt 127 stehen und wünscht sich zum siebzehnmillionsten Mal, so zu sein wie sie, oder wie seine Kollegen oder wie sonst jemand, der dazugehört. Das wäre sein Hauptgewinn! Im Leben dazuzugehören und in die Gesellschaft eingebunden zu sein. In jeder Situation den passenden Satz, die passende Reaktion liefern zu können, so dass die Menschheit nicht immer über seine Person stolperte. Wenn er heute alle Zahlen gemeistert bekäme, vielleicht würde er dann den Jackpot knacken.
Er nimmt seine Tasche, die Zahlenreihe und die Schritte wieder auf. Sophia hat richtig vermutet, er ist auf dem Weg zum Mitarbeiter-Ausgleichssport im Studio um die Ecke. Vorgestern hat er sich erstmals die Geräte zeigen lassen. Gewichte, Wiederholungen, jede Menge Zahlen dort. Jeder trainiert für sich selbst und doch ist man unter Leuten. Zudem erinnert er sich noch gut an die Studie vom letzten Herbst, in der Fitness-Einrichtungen bei den Kontaktmöglichkeiten seiner Altersgruppe in den obersten Rängen waren. Genau bei 258 Schritten betritt er das Studio. Die erste Übereinstimmung! Die Zahlen sind ihm wohlgesonnen heute, er wird sie bezwingen und sein Leben wird endlich eine Wendung erfahren.
133, 134, 135 ... der Puls hämmert nun die neunte Minute mit über 140 Schlägen durch den ganzen Körper. Benommen sitzt Michael in der Ecke auf der obersten Saunabank, ganz auf das Pochen in seinem Kopf konzentriert. Seine Glieder fühlen sich ausgelaugt an von den ungewohnten Übungen. Sein Verstand schwirrt von Zahlen, Quersummen, Potenzen, Wurzeln in die er die einzelnen Stationen seines Trainings zerlegt hat. Die Welt außerhalb seines Körpers ist in einer anderen Galaxie. 138, 139 ... er wird es heute schaffen. Den ganzen Tag hat er gerechnet, verglichen, gezählt. Nur noch eine Minute, dann hat er die letzte selbstauferlegte Aufgabe bewältigt: 10 Minuten in der Sauna mit 140 Puls. 10.140 - Sophias Personalnummer, die er heimlich dem Computer entlockt hat. Noch einmal über sich selbst triumphieren, dann wird er Sieger sein. Akzeptiert. Mittelpunkt. Dazugehören. Alles, was er sich immer gewünscht hat. Letzte Runde: 55, 56, ... seine Haut brennt, sein Mund ist wie mit Watte gefüllt. Zahlen tanzen vor seinen Augen, legen sich über imaginäre weibliche Rundungen, deren Anblick er gleichzeitig sucht und flieht. Er giert nach Wasser, aber der Wille bleibt. 112, 113 ... was war das? Gestolpert beim Zählen? Jetzt nur keinen Fehler machen. Der Herzschlag will ihn narren. Ändert den Rhythmus, zögert, überspringt. 126, 127 ... Die Hitze nimmt ihm den Atem. Michael steht taumelnd auf, sein linker Arm schmerzt plötzlich stärker als alles andere. Er hält diesen Raum keine Sekunde länger aus, legt die Hand auf den Türgriff und drückt. 131, 132 ... nichts bewegt sich! Seine Muskeln sind wie Butter. Eingesperrt! Panisch verkrampft sich sein Herz. Plötzlich ein Ruck! Die Tür wird von außen aufgerissen. 133, 134 ... Sophia steht vor ihm, ein Handtuch lose um den Körper geschlungen. Sieht in seine Augen und lächelt.
Und Michaels Welt wird schwarz.
Stimmen überschreien hektisch ein feines Piepen. Hastige Schritte. Worte ohne Sinn. Etwas klebt auf seiner Brust, Gummi schließt sich über seinen Mund, feucht-kühle Fliesen unter seinem Körper.
„Er ist wieder da! Puls ist schwach!"
Piep, piep ... 135, 136 ... Michael schlägt die Augen auf. Menschen stehen um ihn herum. Gesichter schauen auf ihn herab. Viele Menschen, die Kollegen - und Sophia. Piep, 137 Alle blicken nur auf ihn, er sieht Interesse in ihrem Blick, spürt Mitgefühl. Sophia ruft seinen Namen ... piep, 138 ... Er hat es geschafft! Piep, 139 ... Die Gesellschaft hat ihn aufgenommen! 140 ... Jackpot! Pieeeeeeeeeeeee....